Gastbeitrag von Max Mengeringhaus

Come gather ‘round friends and I‘ll tell you a Tael

Daniel Falb hat als Schriftsteller zwei Berufe – Lyriker und Philosoph – und ein Thema: das Anthropozän

I

In der germanistischen Institutsbibliothek der Uni zu Köln hing über Jahre, vielleicht noch jetzt, das Poster einer bestimmt dreinblickenden Christa Wolf, eines dieser Plakate, die Verlage zum überfälligen Büchnerpreis oder 70sten Geburtstag drucken lassen. Ich meine, es war zu viel Text drauf, und ich weiß auch nicht mehr genau, wie er lautete, aber Christa Wolf verlieh ihrem Weltschmerz in Anbetracht des sicheren Endes der Welt Ausdruck: Irgendwann, in ein paar Milliarden Jahren, werde die Erde in die Sonne krachen, das ist Fakt, und alles wird ein Ende finden, auch die Bücher, nichts wird zurückbleiben, auch keine Erinnerung. Schade, klar, aber noch war das Ende fern.

In den wenigen Jahren, seit Christa Wolf ihren Sinnspruch tat, er auf ein Poster gedruckt, dieses aufgehangen und seither von prokrastinierenden Studierenden melancholisch benickt werden kann, oder ich mir das rückblickend alles einbilde, ist das Ende ein paar Milliarden Jahre nähergekommen. Schon morgen geht die Welt unter. „Was können wir tun?“, ist die Losung – und die klimapolitische Aktion das Gebot der Stunde.

Daniel Falb hingegen mahnt an, die zweite nicht vor der ersten kantischen Frage zu stellen. Sein Band Geospekulationen nimmt sich die Zeit, zunächst einmal die Voraussetzungen des Anthropozändiskurses zu ergründen: Welches Wissen besitzen wir überhaupt von den biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozessen auf der Erde? Und wie interpretieren wir die biosphärischen Veränderungen, die wir registrieren? Für Falb selbst hat, wie der Untertitel Metaphysik für die Erde im Anthropozän seines 344 Seiten starken Essays verrät, die Diskussion, nicht die Aktion, zunächst den Vorrang. Diese Diskussion führt er schonungslos als der promovierte Philosoph, der er ist – das heißt in seinem Fall: logisch-argumentativ, in Begriffsarbeit und Abgrenzung zu allem, was man gemeinhin unter Soziologie versteht. Ihm gelingt es, ein derzeit äußerst beliebtes Thema, dem auch er selbst sich nicht zum ersten Mal widmet, hervorragend unpopulär zu behandeln: nämlich kontraintuitiv, ausführlich, urteilsstark, wo die Argumente auf seiner Seite sind, und mit Humor. Falb scheut nicht den philosophischen Ulk, wie in einer bildlichen Darstellung zu drei Immanenzfantasien des Universums, derer eine die „Alien Invasion“ ist. Zwei Seiten weiter folgt die Deklamation: „Aliens befreunden uns praxeologisch mit dem Universum.“ Dieser Satz ist wie eine Banderole auf Kopf- und Fußzeile verteilt, in einer übergroßen Type irgendwo zwischen Comic Sans und einer Packung Hubba Bubba, und in seiner Präsentationsform keine Seltenheit. Das Buch ist gespickt mit sentenziösen Über- und Unterschriften wie „Re-entry der fliegenden Spaghettimonster“, die sich nur dekontextualisiert als bloße Flapsigkeit lesen lassen. Vielmehr flackert durch Wendungen solcherart kurz eine Leichtigkeit im Text auf, die einen Moment lang von den Mühen, die Argumentation in ihren Feineinstellungen nachzuvollziehen, entbindet. Ein ähnlicher Effekt wie der eingestreute Lacher im Horrorfilm. Damit soll nicht gesagt sein, dass Falb tiefgrundheischend verklausuliert. Er bewegt sich größtenteils entspannt durch eine philosophische, nicht selten englische Fachsprache, die gerade aus ihrer Überanstrengung an Präzision gewinnt. Manierismen unterlaufen dem Text nicht allzu viele. Dabei läge die Gefahr nah, das demonstriert die aufgeheizte öffentliche Debatte sprachlich tagtäglich, schließlich geht es um nichts weniger als das große Ganze.

Falb betreibt Geophilosophie, sein Erkenntnisobjekt ist die „ganze“ Erde, ein Untersuchungsgegenstand, der zuallererst konstruiert werden will. An dieser Stelle wird es metaphysisch, allerdings ohne die bedrohliche Nuance, die üblicherweise mit der Erwähnung dieses Hochwertworts einhergeht. Metaphysik ist für Falb zunächst einmal Endlichkeitsdenken; um nichts anderes dreht sich schließlich der Anthropozändiskurs. Dieses Endlichkeitsdenken kontrastiert Falb mit dem, was er die ewige intergenerationale Szene nennt, also den Umstand, dass stets drei bis vier Generationen zugleich die Gegenwartserde bevölkern, sich das menschliche Denken folglich immer auf diese drei bis vier Generationen und ihr Verhältnis zueinander kapriziert. Sein Modell entwickelt er in Abgrenzung gegen die spekulativen Realisten und mit Kant, immer aber auch mit diesem gegen ihn. (Einige Ausführungen legen nahe, dass Falb sogar den zweiten Teil der KdU gelesen hat, im Gegensatz zu mir und so vielen anderen.) Im Einzelnen sind die entwickelten Gedankengänge nicht referierbar, ohne die terminologische Strenge zu verletzten oder zu simplifizieren. Sehr wohl lassen sich die Kapitel jedoch in loser Reihenfolge lesen. Die Chronologie des Buchs ist nicht bindend und fast zwangsläufig springt man bei der Lektüre, geht vor und zurück, rekurriert zu einem späteren Zeitpunkt auf eine der zuvor im Buch präsentierten Boxen, die in regelmäßigen Abständen summarisch die Kernpunkte und Hauptargumente vorangegangener Passagen wiedergeben.

Falb schreibt und spekuliert u.a. über die für sein Thema ubiquitäre Millenium-Simulation, nennt Heidegger beim Vornamen Nazi, schöpft eigene Begriffe, geht den Intentionen des Selbstmords nach, hat eindeutig etwas gegen geschichtswissenschaftliche Metaphysik, meint Extinktion sei für die Lebenden kein Problem und lässt die Philosophie nicht vor 2500, sondern vor 2,5 Millionen Jahren beginnen. Am stärksten zeigt sich seine Argumentationsweise, wo sie vom intuitiven Konsens abweicht. Die Todesstrafe z.B. könne man – bei aller Verwerflichkeit – nicht als Verkürzung des Lebens verurteilen, da mit dem Tod und dem Eintritt des Verurteilten in eine Non-Existenz ein Wort wie „Verkürzung“ all seiner ethisch-moralischen Konnotationen entleert wird, die als menschliche Prägungen dann keine weitere Gültigkeit mehr beanspruchen können. Oder an anderer Stelle: Im Zoo gehe es den meisten Tieren doch besser als in der sogenannten freien Wildbahn, nur wüssten die Tiere eben nichts davon, genau so wenig, wie ein Tier das Bewusstsein davon entwickeln könne, das letzte seiner Art zu sein. Der Widerspruch gegen solche Positionen regt sich reflexhaft und nicht zuletzt deswegen ist es so wichtig, dass sie entgegen vorherrschender Meinung formuliert werden. Philosophisch betrachtet sind nicht wenige Selbstverständlichkeiten eben keine Gewissheiten. Wessen Anliegen es ist, etwas zu verteidigen, der darf es seinen Gegnern nicht zu einfach machen, sonst erweist man seiner Sache einen Bärendienst. Ob Daniel Falb nun immer Recht hat, lässt sich naturgemäß bezweifeln, jedoch nur in Auseinandersetzung mit seinen Argumenten. Ein Beispiel: Wenn er argumentiert, dass die Sorge um den Fortbestand des Planeten nicht im Bereich des Interesses der jetzt, auf der gegenwärtigen Gegenwartserde Lebenden liege – er hat hierfür ein Kürzel: IDL = Interesse der Lebenden –, so würde ich auf eingangs erwähnte Christa Wolf verweisen, deren Satz ich als nachweisliches Zitat im Laufe der Arbeit an dieser Rezension zwar immer noch nicht aufgespürt habe, von dem ich aber überzeugt bin, dass es ihn so oder so ähnlich gibt. Egal, schließlich gäbe es noch zig andere Beispiele von Autoren, die noch viel direkter auf das Überleben ihres Werks, auf Ruhm und Unsterblichkeit, gehofft haben. Wer geschrieben ewig leben will, braucht Leser, die einen selbst in der Ewigkeit noch lesen. Solch monumentaler Größenwahn hat durchaus Interesse am Fortbestand von Welt und Menschheit, auch nach dem eigenen Ableben; es ist der in die Zukunft projizierte Wunsch, Geschichte zu schreiben, die Déformation antiprofessionelle der dichtenden Zunft.

II

Auch Daniel Falb schreibt, wenn er nicht gerade Philosophie wie in seinen Geospekulationen betreibt, bekanntermaßen Gedichte. Im lyrischen Stammverlag kookbooks ist nun sein vierter Band erschienen. Orchidee und Technofossil versammelt „vier lange Gedichte“: Svalbard Paem (2018), Kanker Quartett (2016), Chicxulub Paem (2015) und Geber Quartett (2017). „Jedes davon ist ein ganzes Leben“, heißt es im Vorschautext und tatsächlich, jedes der Gedichte verhandelt in idiosynkratischer Schwerpunktsetzung die Bedingungen des Lebens in den Jahren der Erde 4.541.736.937-41 (Falb pfeift auf den Heiligenkalender). Ähnlich den Tours d’Horizon, die einst die Gesänge von Ilias und Odyssee einleiteten, sind den vier Gedichten in Orchidee und Technofossil kurze Referate beiseitegestellt. Mit verlässlichen Inhaltsangaben haben diese Infotexte allerdings nur noch wenig gemein, vielmehr demonstrieren sie en miniature die Verfahrensweisen der Gedichte. Zum Beispiel für das auftaktspendende Svalbard Paem,

„in dem der Saatentresor von Svalbard auf Spitzbergen, als ultimatives Backup aller Saatgutbibliotheken auf der Erde, mit dem Archiv für Stimmen der Dichtung lyrikline.org überblendet wird, um das Gemeinsame des agrikulturellen Artensterbens und des gegenwärtigen Sprachensterbens herauszustellen. Weil es die Bedingung ihrer eigenen Existenz darstellt, bekommen die zukünftigen Lebenden auf der Erde und im Gedicht den Saatentresor und lyrikline.org nicht von ihrer Retina weg.“

Die Überblendung verschiedener Settings und Zeitschichten, die wie Folien aufeinandergelegt werden, ist das poetologische Kronprinzip von Daniel Falbs Dichtung; und das nicht erst seit diesem Band. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloß durchexerzierbare Methode, der die Gedichte – und untertänig hinterhertappend dann die Leser – folgen, sondern um eine Strategie, die kein Ziel verfolgt, um ein solches zu erreichen. Die Gedichte simulieren Verbindungen: Orte, Figuren, Theorien und Motive werden vermengt und in ihrer gegenseitigen Reaktion aufeinander beobachtet. Das mutet im Effekt manchmal surrealistisch an, erinnert von der Technik her vielleicht noch an Pounds frühe Cantos, verweist in seiner Radikalität allerdings auf keine unmittelbaren Vorläufer und hat, wie mir deucht, derzeit auch kein Pendant. Falbs Gedichte kennzeichnet sogar eine ostentative Bezugslosigkeit zur Kunstform Lyrik. Auf sein essayistisches Schreiben bezogen müsste dieser Befund höchstens ein My weit differenziert werden. Denn immerhin Falbs theoretisches Interesse am Potential des Gedichts ist groß; wobei noch die Beiträge zur kollaborativen Poetik Helm aus Phlox (2011), die sich explizit der Frage nach den unbegrenzten Möglichkeiten der Dichtung annahm, bemerkenswert eigenbrötlerisch agierten. Hegt man nichtsdestotrotz den Drang, Falbs Werk zu verorten, dann am ehesten im weiten Avalon dessen, was vage Theorie genannt wird. Hier ergeben sich vielleicht unwissentliche, aber immerhin sinnige Querverbindungen: So gemahnen bereits die Gedichte in die räumung dieser parks (2003), spätestens aber seit BANCOR (2009), an die virtual ecosystems des US-amerikanischen Künstlers Ian Cheng, dessen Arbeiten sie chronologisch gesehen / genau genommen vorwegnähmen. 2015 sah ich zufällig Thousand Islands Thousand Laws in der Kunsthalle Düsseldorf und werde den Vergleich seither nicht los (siehe auch Falbs Anmerkung in Bancor zu Damien Hirsts A Thousand Years).

Doch kommen wir zurück und bleiben wir einen Moment bei Svalbard Paem. Der vorhin zitierten Zusammenfassung aus dem Inhaltsverzeichnis sei Dank, sind wir einigermaßen im Bilde. Was indes ein Paem ist, soll uns nicht weiter beschäftigen. Wir ahnen lediglich, dass wir ein Paem selbstverständlich niemals ein Poem nennen würden. Unterteilt ist das Paem in vier Sektionen, die mit „Tael“ 1 bis 4 überschrieben sind; als wolle uns einer einen Bären aus Spitzbergen aufbinden… Nun denn, zu Beginn von Svalbard Paem übergibt sich ein anscheinend mit Handlungsmacht ausgestattetes Svalbard Paem, dessen Schicksal auf untrennbare Weise mit dem unserem, deinem und meinem, verknüpft zu sein scheint, in den tauenden Gang von Svalbard. Wir befinden uns in einem der Trakte des Saatentresors des Global Crop Diversity Trusts:

 

Svalbard Paem ist dein, oder mein,

Leben, das sich in Generationen wiederholt, unter der Haube

*aus Linnen*, da, wo auch Svalbard Paems nassgeschwitztes

Haar ist, übergibt sich ins sich umwendende Krebsgesicht

und auf die sommersprossigen Schultern von Cis-Cary Fowler,

das ist einer der Initiator*innen, der, apriorisch,

30 cm direkt vor Paems Nase

den Gang runtergeht, mit seinem lockigen Haar, mit seinem Haar,

und nettchen labert. Bei einer Führung. Mit einer Ledertasche.

Und wie ein helles Tattoo, von dem ich glaub’, dass es auf seiner Wange

hin- und herwandert und sich „lichtend“ vertieft, erblickt Svalbard Paem

das große Kreuz, das ist das vertikal durchgestrichene Kreuzsymbol,

von dem sein Gesicht mit Licht fast durchlöchert ist wie ein

Moscheeraum.

 

Schon sind wir mittendrin im deutungsoffenen Hallraum eines Gedichts von Daniel Falb. Wer ist dieser Cis-Cary Fowler, den wir ankotzen und weshalb oszilliert ein durchgestrichenes Kreuzsymbol in seinem Gesicht, als wäre er der Antichrist im Auftrag einer höllischen Bayer AG? Ein eisiger, säuerlicher Wind weht durch die Gänge Svalbards. Wenige Zeilen darauf begegnen wir Ötzi bzw. seinem Mageninhalt. Es folgt der Auftritt der schwimmenden Schildkröte:

 

Die Schwimmende Schildkröte

das Trinkgefäß aus Knochen,

schwimmt auf dem Rücken

vor Svalbard Paem,

mit ihrer Einbauküche,

in ihrer Ledertasche,

und ihr Bauchpanzer wird aufgeschnitten,

-gesägt und gestemmt, die

Platte abgehoben, das Hohlgefäß,

dunkel wie eine Kirche, wird

zum vollen Menü der Organe,

mit zwölf schwarzen Herzen,

rotierendem Natostern,

Sonnensystemen-Modellen aus Messing,

die Schildkröte strampelt und schwimmt, und

da C. Fowler sich auf ihr umdreht und

mit seinen Fäustlingen da hindeutet,

wird sie leergeschaufelt mit Schaufeln, den

offenen Bauch gen purpurnen Himmel.

 

Nochmal C. Fowler. Vormalig Executive Director, heute Senior Advisor des Crop Trusts, das lässt sich leicht recherchieren. Gibt, wenn ich Svalbard Paem glauben darf, noch immer Führungen im Saatentresor von Svalbard. Suchen wir weiter nach mundgerechten Informationen zum Crop Trust, so stoßen wir u.a. auf ein „Catan Szenario“-Brettspiel namens „Crop Trust“, das man im Catanshop für 15,95 € käuflich erwerben kann. Dort ist auch ein Schnappschuss des Spielbretts abgebildet, das mich unbehaglich an den Panzer einer Schildkröte erinnert. Ich zähle die Spielfelder. Es sind zwölf. Wie die „schwarzen Herzen“ der schwimmenden Schildkröte, die C. Fowler per fäustlingsverpacktem Nerobefehl der Schlachtung preisgibt.

Ganz gleich, ob eine Herleitung wie in diesem Falle weit hergeholt wirkt, sie erscheint – und das ist so etwas wie der Pynchon-Effekt der Lektüre – plausibel. Nach einigen wenigen Zeilen bereits traut man Svalbard Paem so einen Mindfuck eiskalt zu, das ist der Punkt und zeugt wiederum von der Qualität des Gedichts. Das Gefühl, diesem nicht über den Weg zu trauen, ist nicht bloß gleichzusetzen mit dem Schwindel, der sich einstellt, wenn man mal wieder im hermeneutischen Zirkel Karussell fährt. Die Parallelen, die Svalbard Paem in Aussicht stellt, zerreiben die Überzeugung jeder eingleisig fahrenden Interpretation. Das lässt sich selbst an den Gewissheiten ablesen, die das Gedicht ganz nonchalant in den Textraum stellt: „Es geht um die Sprache, aber es geht um das Leben.“ Okay, in Svalbard steht der Saatspeicher, Svalbard Paem ist der Sprachspeicher. Zusammengenommen macht das Svalbard Paem zur ultimativen Archivfiktion. Bis es auf einmal wieder exakt in die entgegengesetzte Richtung geht. Output! „(Sprechen ist Essen.)“. Dann wieder Erbrechen. Doch wenn Sprechen Essen ist, und Sprache das Leben, ist Svalbard Paems Speien demnach Ausdruck kristevascher Abjection, also Ablehnung seiner selbst, von Svalbard Paem? – Es wäre noch so viel zu diesem einen von vier Gedichten zu mutmaßen, ohne dessen Bedeutungsfülle zu erschöpfen. Stattdessen will ich huldvoll dessen Kryptik mehren und behaupte, es kulminiere schließlich ähnlich wie Die wilden Detektive Roberto Bolaños – in der wohlgefallenen Auflösung im Symbol.

Die beiden folgenden Gedichte in Orchidee und Technofossil, Kanker Quartett und Chicxulub Paem, stehen der fulminant-verstörenden Eröffnung in nichts nach. Kanker Quartett treibt die fingierte Mündlichkeit noch weiter, verhandelt die Struktur von Netzwerken und ihre Zugänge, so rhizomatisch wie das Motto von Deleuze/Guattari, das den Band einleitet. Um es kurz zu machen: „das Kanker Quartett | ist die große Gesundheit | von Orchidee und Tech-no-fos-sil“. Chicxulub Paem hingegen ist dann so etwas wie der perverse Generationenroman – beide Teile letztgenannten Kompositums bitte in Anführungszeichen, am besten dreifachen – der menschlichen und ihnen ähnlichen Spezies; und natürlich noch viel mehr. Es endet als Manifest und mündet nach diesem Waste Land-like und als Gruß an alle die anderen Langgedichte in einen Anmerkungsapparat. Etwas ab vom durchgehend hohen Niveau fällt allein das Geber Quartett, und das lediglich in den letzten beiden seiner vier Sektionen, die sich für Falbs Verhältnisse kurzzeitig wie Rückfalle in konventionellere Rollenlyrik lesen und streckenweise didaktisch etwas verkrampfen. Doch noch hier sind die Sprecherinstanzen aufschlussreich unklar markiert, ein Phänomen, das sich durch den gesamten Band zieht. Sodass man einmal die Thesen Monika Rincks, die sie kürzlich in ihrer Lichtenberg-Poetikvorlesung Wirksame Fiktionen zum Status von Gedichten zwischen Fiktion und Non-Fiction entwickelte, in die Nähe von Falbs Gedichten rücken sollte, wie eine Knallgasprobe, um zu sehen, ob es fetzt. Und ich bin sicher, das.

Dabei bietet bereits die Kombination Falb mit Falb zu lesen, das sei abschließend gesagt, einiges an Potential. Einigermaßen kämpferisch adressiert er die Form der Gedichte in Orchidee und Technofossil „als Hort und Brutstätte neuer Intuitionen und Widerstandsformen für die neue, geologische Zeit.“ Vergleicht man dieses Statement aus dem Vorschautext mit einer Passage aus Anthropozän. Dichtung der Gegenwartsgeologie (2015), so kann man konstatieren, dass sich entweder grundlegend die Perspektive geändert hat, oder sich wundern, ob man verschaukelt wurde – oder was das Wort Dichtung meint – immer nur die Lyrik der anderen? Schließlich stellte Falb in seinem 2015er-Essay unmissverständlich das Trittbrettfahrertum der Dichtung heraus: „Denn Dichtung steht anthropologisch und ontologisch auf anderen, eigenen Füße [sic]: Ihr geht es um differentielle Selbstproduktion auf dem Weg der parasitären Einverleibung von allem und jedem Neuen, was sie nicht ist. Das Anthropozän ist bloß ein Fall davon. Die Dichtung macht einen kryptoscholastischen Gebrauch vom Anthropozän, um sich selbst neu zu produzieren: nichts sonst. Ihre einzige ‚Wahrheit‘ ist die Realität ihrer Neuheit.“

Selbst wenn das stimmt (?!), schmälert es die Bedeutung der neuen Gedichte Daniel Falbs keineswegs, im Gegenteil. Diese Dichtung ist wegweisend, denn niemand weiß, wohin die Reise geht.

 

Max Mengeringhaus

 

 

Daniel Falb: Geospekulationen. Metaphysik für die Erde im Anthropozän

Berlin: Merve 2019

344 Seiten, 22,00 €

ISBN: 978-3-96273-020-8

 

Daniel Falb: Orchidee und Technofossil. Gedichte

Berlin: kookbooks 2019

133 Seiten, 19,90 €

ISBN: 978-3-937445-98-4