Gespräch mit Martina Hefter

Martina Hefter werde ich nicht ausführlich einführen, weil Sie sehr viel und schön über ihre Arbeit spricht und ihre eigenen Aussagen im Mittelpunkt stehen sollen. Gerade mit ihr hätte das Gespräch noch sehr sehr viel länger dauern können, denn sie bewegt sich auf vielen Feldern und in verschiedenen Gangarten und über all die sich daraus ergebenden Fragen nach ihren Herangehensweisen und der damit einhergehenden/schwebenden/tanzenden Welterfahrung kann sie eigentlich, obwohl sie es hin und wieder bestreitet, sehr gut Auskunft geben. Vielleicht werden wir also in Zukunft einen zweiten Teil des Gesprächs erleben, hier erstmal einiges zu durchaus aktuellen wie auch fast zeitlosen Themen.

 

LK Liebe Martina Hefter, wir haben uns einige Male zum Thema Performance und Literatur ausgetauscht, ja uns quasi über eine öffentliche Diskussion zum Thema kennengelernt. Da du in zwei sehr verschiedenen Kunstgattungen zu Hause bist, führt das zu interessanten Fragen. Immer wieder bedienen sich Künstler und Künstlerinnen zum Beispiel des Films oder der Musik, SchriftstellerInnen der Fotografie, TänzerInnen der Literatur etc. Manche arbeiten dabei professionell mit anderen Künstlern zusammen, andere dilettieren fröhlich im fremden Genre. Was würdest du jemandem antworten, der mit Eisenstein sagt: „Die Amateure retten uns!“ (und damit wohl meinte, dass man eine gewisse Freude am ersten Sehen nicht verlieren sollte)? Es kann doch sehr belebend sein, aus anderen Gebieten eine Unbefangenheit in das eigene Schreiben hineinzutragen (ich sage das bewusst ein wenig salopp, um deinen Widerspruch zu evozieren). So verwendet zum Beispiel der Schriftsteller Sebald Fotos in seinen Büchern, die eher Schnappschüssen gleichen als Fotokunst. Was sagst du als Performerin dazu? Du kannst gern weiter ausholen und auch darüber berichten, was es für dich bedeutet, Tanz und Literatur gleichzeitig zu machen.

Martina Hefter: Lieber Hendrik Jackson, erstmal vielen Dank für die interessanten Fragen. Das Zitat von Eisenstein kann ich, aufs erste intuitive Lesen, sofort nachvollziehen. Wie du schon geschrieben hast, denke ich auch, dass eine Art naives oder unbefangenes Sehen und Herangehen in der Kunst sogar essentiell ist. Auf die Produktion bezogen heißt das für mich, ohne Unbefangenheit kann nichts wirklich Neues entstehen. Wäre man befangen, würde man sich nicht an neue Ideen, Formen, Inhalte rantrauen. Da stünde der Gedanke im Weg: Das gabs doch schon 1000 mal, oder: Das kannst du aus den und den Gründen nicht machen. Allerdings weiß ich nicht, ob der Begriff Amateur wirklich ganz passt, eigentlich meint der ja nur jemanden, der oder die nicht hauptberuflich in einer Sache unterwegs ist. Auch ein*e Amateur*in kann befangen sein.

Ich möchte auf keinen Fall sagen: Das und das darf man in der Kunst nicht machen, wenn man es nicht gelernt hat. Weil ich das ja selbst auch mache – in meinen Performances mit dem Kollektiv Pik 7 habe ich schon in Theatern auf der Bühne gestanden und wie eine Schauspielerin Texte gesprochen und Szenen gespielt, und ich habe ja gar nicht Schauspiel studiert. Aber da war klar, dass ich mich im Bereich der (szenischen) Performance bewege, und da gibt es ja diese Unterscheidung zwischen Rolle und Nicht-Rolle, zwischen Figur und Performerin. Wir haben Merkmale in unseren Performances, die deutlich signalisieren, dass es sich nicht um ein Theaterstück handelt. 

Oder, anderes Beispiel, ich schreibe meine langen Gedichte manchmal auch als (Theater-)Monologe, obwohl ich nicht viel Ahnung habe vom Schreiben fürs Theater. Ich suche für mich nach Möglichkeiten, diese Texte nicht nur zu veröffentlichen, sondern möchte auch, dass sie umgesetzt werden. Weil ich als Theaterautorin wohl nicht mehr Fuß fassen werde in diesem Leben, ermächtige ich mich selbst und inszeniere meine eigenen Texte in Projekten innerhalb der freien darstellenden Kunst. Aber da habe ich Menschen, die mich davor bewahren, dass ich unbewusst vor mich hinarbeite, ich habe Outside Eyes, Dramaturg*innen, Freund*innen, die ich um Rat frage, und ich schaue mir außerdem viele Bühnensachen an, um mich selber verorten zu können.

Egal, mit welcher Kunst man sozusagen fremdgeht, es sollte einem immer klar sein, was und warum man etwas macht und in welchem (oder keinem) Kontext man sich bewegen will. In den Anfangszeiten von Corona gab es viele Lyrik-Lesungsvideos, die mehr als nur abgefilmte Lesung waren. Es gibt ja im Theater und in allen Formen der darstellenden Kunst diese eine Klischeefrage, die man sich immer stellen soll: Warum mache ich das? Warum hole ich da einen Apfel aus meiner Bluse? Warum trage ich eine blaue Hose? Usw. Denn – eine Klischeewahrheit, aber einfach nicht von der Hand zu weisen – alles, was auf welcher Art von Bühne auch immer du machst, wird gelesen, hat eine Bedeutung, wird in Kontexte gesetzt. Und wenn du das nicht weißt oder dir dessen nicht bewusst bist, kann es passieren, dass man für einige Betrachter*innen zum Beispiel anachronistisch wirkt, oder, du sagst das Stichwort ja schon, dilettantisch. Obwohl das ein böses Wort ist. Der Dilettant ist im Vergleich zum Amateur jemand, der*die kein Bewusstsein davon hat, wie seine*ihre Arbeit überhaupt rezipiert wird, oder? 

LK Die Unterscheidung zwischen Dilettant und Amateur finde ich womöglich hilfreich, wobei es natürlich fraglich bleibt, wer das jeweils festlegen soll und anhand welcher Kriterien? Das ist eine Frage, die sich vielleicht gar nicht theoretisch erledigen lässt. Beschreib doch mal aus deiner konkreten Arbeit heraus, wie du vorgehst – vielleicht stellt sich das Problem da wieder ganz anders.

MH Meine letzte Zusammenarbeit war die Performance „Linn Meier (†2019)“. Ich habe mit den Musikern Timm Völker und Patrice Lipeb gearbeitet, beide haben auch schon mehrfach für Theaterstücke was gemacht, und wir haben sehr textgetreu mein gleichnamiges Langgedicht in eine Art Musik-Sprech-Tanzshow umgesetzt (es ging natürlich über das reine Darbieten des Textes hinaus). Timm Völker und Patrice Lipeb haben die Musik dafür geschrieben und auch Soundcollagen erstellt, außerdem auch selbst Teile des Textes gesprochen und gesungen. Da war natürlich klar, dass ich nicht Gitarre spiele. Weil ich es einfach nicht kann. Ich habe mich auch nicht getraut, zu singen, obwohl wir während der Proben an den Punkt kamen und es ausprobierten. Aber ich fühlte mich nicht wohl damit. Ich möchte erstmal bei dem bleiben, was mir vertraut ist, wenn ich selbst performe. Und es war schon eine riesige Herausforderung, Text auswendig in ein Mikro zu sprechen (mit Pik 7 sprachen wir immer ohne, wie im Theater eben). Und ich musste den Text auf gewisse Weise dann ja auch spielen. Da konnte ich meinen Körper, meine Gestik viel weniger einbringen als sonst, ich musste viel über die Stimme transportieren. Anfangs habe ich oft gezweifelt, ob ich das kann, ob ich nicht dilettiere. Timm und Patrice haben aber gemeint, es ist auch viel Gewöhnungssache dabei – da hatten sie Recht. Und ich habe extra Sprechunterricht genommen bei einer Sprecherin, die auf Mikrofonsprechen spezialisiert ist. Das war gut, weil es mein Selbstverständnis sozusagen angepasst hat. Ich habe mich das Sprechen dann einfach mehr getraut, und dadurch hat es viel größere Freude gemacht und hat sich auch besser mitgeteilt. Den Sprechunterricht mache ich jetzt auch weiter, weil er mir ein Gefühl von mehr Sicherheit gibt und auch größere Freude beim Auftreten, weil ich die Möglichkeiten des Sprechens mehr ausreizen kann.

LK Ich sehe da eine interessante, vermutlich auch gar nicht aufzulösende Spannung in deinen Ausführungen. Zum einen ein Rückgriff auf Unbelastetes, zum anderen ein: „das sollte man kennen“, eine Forderung von Professionalisierung. Wann ist wieviel Vorwissen nötig? Ähnlich tabuisiert wie das „Dilettantische“ ist ja auch das „Authentische“, das direkte Sprechen, pathetische Unmittelbarkeit. In einer Session der Akademie zur Lyrikkritik, in dem es lange um Authentizität ging, sprach der Literat Alexander Estis dann (ironisch) nur noch von dem verbotenen „A-Wort“.
Bei diesen Themen erinnere ich mich jetzt an eine gemeinsame Lesung von Daniel Falb, dir und mir. Wir stellten da vor ungefähr drei Jahren erstaunt fest, dass wir in demselben Jahr alle ein Buch publiziert hatten, in dem inmitten doch ziemlich artifizieller Gedichte plötzlich biographische Ansprachen auftauchten, die regelrecht herausstachen. Bei Falb der Name von anderen AutorInnen, einem Datum und kookbooks, bei mir der Name meiner Kinder, bei dir deine Telefonnummer mit der Bitte, ruhig anzurufen. Was war da passiert? 

MH Gut, dass du das „Authentische“ erwähnst. In manchen Bereichen der Performance ist das ein wichtiger Begriff – z.B. in der szenischen Performance, wo die Akteur*innen ähnlich wie Schauspieler*innen agieren, aber eben keine Rollen spielen, sondern entweder tatsächlich als sie selbst präsent sind oder als eine nicht näher charakterisierte Figur.

In einem Stück der Performancegruppe She She Pop, “Testament”, standen sogar die richtigen Väter der Akteurinnen mit auf der Bühne und haben mitgespielt. Das war 2010, glaub ich. Von dem her gesehen war es für mich nichts sooo Neues, meine Telefonnummer im Buch abdrucken zu lassen und um Anrufe zu bitten. Und ich glaub, auch bei dir und Daniel war das kein ganz unmittelbarer Move. Diese Einsprengsel von Unverstelltheit, wo man seinen Namen oder den von Kindern oder Freunden im Text findet – wie in der Performance ist es trotzdem nicht die private Alltagsperson, die da handelt. Es ist ja sofort auch künstlerisches Material, sobald man nur die Idee hat, oder?

LK Bei uns kam ja noch eine gewissen Aufgeladenheit der Themen dazu, die aber eben auch nicht nur „privat“ war.

MH Das Pathos – das finde ich ja was Tolles. Was ich für mich schon gut finde und was ich haben will, ist – Achtung, noch ein starker Begriff – Wahrhaftigkeit. Die finde ich essentiell. Und das darf man nicht verwechseln mit, was weiß ich, kunstlos, oder formlos oder so. Ich will schon über das schreiben, was mich halt was angeht, und das müssen ja, wie zum Beispiel bei Daniel, nicht immer die hochpersönlichen Angelegenheiten sein. Oder auch bei dir, in “Panikraum” zum Beispiel  ist es auf gewisse Weise persönlich, aber nicht privat. Bei euch beiden ist es eher die Wahrhaftigkeit des Denkens, der Logik vielleicht sogar.

Ja, ich bewege mich zwischen beiden Polen hin und her. Hier Unmittelbarkeit/ Naivität/ Do-it-yourself, und dort das “Expertentum”. Ich gebe zu, dass meine Zugänge zum Thema nicht immer frei von dem sind, was man mit “Aufmerksamkeitsökonomie” so brutal umschreibt. Jetzt mal überspitzt ausgedrückt: Beim Bachmannwettbewerb zum Beispiel ist jedes Jahr mindestens ein Beitrag dabei, wo es in der Diskussion dann auch um “Performance” geht. Da schauen ja eine Menge Leute zu, und viele davon würden sicher eher nicht in eine meiner oder irgendeine andere Performance kommen – genauso wenig wie die meisten Mitglieder der Jury, würde ich mal behaupten. Und dann wird da aber über “Performance” diskutiert auf eine Weise, die zeigt, dass die Leute sich nicht so wirklich auskennen. Versteh mich nicht falsch, jeder Mensch soll über alles reden, auch und gerade, worüber man sich nicht auskennt – aber man könnte seine Unwissenheit dann transparent machen und eher Fragen stellen. Wenn wir beim Beispiel Bachmannpreis bleiben: Da gibts auf Seiten der Jury eine Art “Experten”-Bonus. Leute glauben halt auch, dass die Jury umfassend kompetent ist. Und dann denke ich an die Aufmerksamkeit, die der Wettbewerb in der Öffentlichkeit hat. Das führt mich zum Gedanken an die Verteilung finanzieller Mittel. Da denke ich an unseren Struggle in der Freien Szene, wo ich jedesmal wieder am Rand der Selbstausbeutung arbeite. Und irgendwie bestimmte Leute aus der Literatur nie in meine oder andere Performances kommen – sich aber andersrum einige von ihnen “Performance” auf die Fahnen schreiben. Das alles erzeugt bei mir manchmal ein etwas diffuses, nicht immer bis ins Letzte gerecht ausdiskutierbares, aber wie ich finde, dennoch berechtigtes Unbehagen.

Eine Referenz, um zu zeigen, was ich meine, ist ein Beispiel aus dem Gebiet der “Cultural Appropriation”. Die passiert ja nicht nur inter-, sondern auch intrakulturell. Da gab es vor einiger Zeit Diskussionen im klassischen Ballett. Ein Supermodel und eine Sängerin (ich muss nachschauen, wer nochmal das war) hatten sich jeweils in Fotoshooting und Musikvideo als Balletttänzerinnen in Spitzenschuhen inszeniert – auf eine sehr mit Klischees beladene Art auch noch. Für Tänzer*innen war sofort sichtbar, dass die beiden nie zuvor Ballett getanzt haben. Da gings in der Diskussion aber nicht darum, dass man sowas als Nicht-Ballett-Tänzer*in nicht machen DARF. Es geht darum: Eh schon privilegierte Leute profitieren finanziell davon, dass sie ein Image einfach unreflektiert übernehmen und unbewusst auch Klischees weiter zementieren. Wo der Beruf der Tänzer*in in der Regel unterbezahlt ist und erst mal gar nichts mit Pop-Glamour zu tun hat, sondern die Leute ernsthaft und intensiv an ihrer Kunst arbeiten.

Was ja übrigens immer der Kern der CA-Debatten ist – es geht nicht um Verbote, sondern darum, aufmerksam und respektvoll mit den Arbeiten der anderen umzugehen. Solche altmodischen Begriffe wie Respekt und Aufmerksamkeit – ich finde sie nicht so verkehrt in der Kunst.  

Als Tänzerin und Performerin bekomme ich manchmal Skepsis und sogar Verachtung gegenüber den darstellenden Künsten von Seiten der Literatur mit. Es gibt z.B. etliche Äußerungen von Lyriker*innen, wie schrecklich sie es finden, wenn ihre Gedichte von Schauspieler*innen gelesen werden (im Radio z.B.). Da denke ich dann oft: Na ja, das ist jetzt auch wieder nur vom Standpunkt der Lyrik aus betrachtet. Es ist nicht drauf geachtet, ob es vom Standpunkt des Schauspielens/szenischen Sprechens her gelungen ist. 

Diese Skepsis hat eine tiefe kulturhistorische Verwurzelung im gesamten Mitteleuropäischen Raum (es gibt ein super interessantes Buch dazu: Tanz, Tod und Teufel – da gehts darum, wie der Tanz vom Mittelalter über das Bürgertum bis heute dämonisiert wird, was sich mit einigen  Narrativen bis heute hält  (z.B. Tanz ist schädlich für den Körper, Tänzerinnen sind von Ehrgeiz und Missgunst zerfressene Zicken, darstellende Künstler*innen sind eitel und oberflächlich…). 

LK Das ist ein sehr gutes Stichwort. Auch bei der CA-Debatte geht es ja um vermeintlich Authentisches. Und ich denke, wir haben da eine falsche Dichotomie vorliegen (nämlich die zwischen kolonialistischer Aneignung oder Unantastbarkeit). Das Problematische scheint mir eher zu sein, dass es sich in den meisten inkriminierten Fällen um eine schlechte Aneignung handelt, und das beleidigt nicht nur die entsprechende Ethnie, sondern auch unseren Verstand. 

Dadurch haben wir vielleicht eine Art Lösungsansatz für das Problem amateurhaft-professionell. Das schlecht Dilettantische bestünde auch hier im falschen Bewusstsein, so wie es auch eine schlechte Professionalität gibt. Nicht »Können« oder »Nichtkönnen« zieht die Grenzmarkierung, sondern ob das Können oder Nichtkönnen jeweils (re-)naturalisiert und (re-)essentialisiert wird, statt zum Beispiel verfremdet und ausgestellt. „Ich bin so unbefangen und dadurch ist es schon gut und neu“ oder: „nur wenn ich etwas bis zur Perfektion kann, ist es Kunst“ – diese Haltungen bilden das „falsche“ Bewusstsein ab. Authentisches ist eben immer schon Gemachtes/Geprägtes und umgekehrt ist das Artifizielle nicht automatisch reflektiert bzw klug.

Jetzt möchte ich gern noch eine weitere Ebene einziehen (in die schon schwer zu begrenzende Diskussion): Der Tanz hat ja nochmal eine ganz andere Unmittelbarkeit des Körpers. Oder würdest du sagen, dass das gar nicht so anders funktioniert als Sprache (und eben auch »als Sprache«)? Arbeitest du z.B. im Tanz grundsätzlich intuitiver?

MH Das ist auch nochmal ein sehr großes Feld. Fast allen tradierten Tanzformen, gleich aus welcher Kultur, wohnt inne, dass sie aussehen, als wären sie ganz unmittelbar getanzt. Also die berühmte Leichtigkeit der Bewegungen im Ballett. Oder bei vielen Street Dance-Formen das, was man vielleicht mit lässig bezeichnen kann, locker, irgendwie beiläufig. Und tatsächlich fühlt es sich beim Tanzen für einen selbst auch so an. Im Augenblick des Tanzens ist das Ballett wirklich leicht, ist der Street Dance (was ich davon kenne) wirklich locker. Das heißt, es macht Spaß. Dahinter steht aber ein systematisches, komplexes Training, ohne das man das Gefühl des Spaßes bzw. den Eindruck der Leichtigkeit und Lockerheit nicht hervorrufen und erzeugen kann. Kleists “Über das Marionettentheater” ist meiner Meinung nach noch immer DER gültige Text dazu.

Im Moment ist im Tanz das so genannte “Unlearning” ein wichtiger Begriff. Also eingeübte, antrainierte Formen oder Systeme wieder aufzugeben. Das hat auch schon Isadora Duncan gemacht, eine der ersten modernen Tänzerinnen. Sie wollte sowas wie einen natürlichen Tanz schaffen, die Anmut natürlicher Bewegungen zeigen. Aber auch sie hat täglich getanzt, um das zu erreichen.

Ich tanze neben den Basics in Ballett und einigen Streetdanceformen auch zunehmend komplett ungerichtet. Auch das ist nichts neues. Allerdings, es wird nie wieder so sein, dass ich den mir eingeschriebenen Tanz aus den Muskeln und aus dem Gehirn bekomme. Wie Radfahren oder Schwimmen kann man das nicht mehr verlernen.

Ob man das mit der Sprache vergleichen kann – ich bin mir nicht sicher. Es gibt ja etliche theoretische Schriften dazu, Tanz als Sprache. Die kommen aber fast immer aus der Geisteswissenschaft. Eine Zeitlang fand ich das reizvoll, dem nachzugehen, aber ich gebe zu, den Zusammenhang Sprache-Tanz habe ich für mich eher konstruiert – auch, weil ich mich als reflektierte Künstlerin sehen wollte. Aber ich bin das in diesem Zusammenhang gar nicht. Als Tänzerin bin ich einfach nur aufs Tanzen aus. 

Alle werden geschockt sein, aber ich habe kurz vor der Pandemie mal einen Tabledance-Workshop mitgemacht. Nicht verwechseln mit Poledance, das ist dieses sehr artistische Ding an der Stange. Tabledance ist das, was Frauen in Stripclubs und so machen. Dieser Workshop war sehr toll, ich konnte durch meine Tanzkenntnisse vieles sehr schnell lernen. Die Lehrerin, die lange hauptberuflich in London als Tabledancer gearbeitet hatte, sagte, ich wäre mega gut darin. Das fand ich lustig. Weil man ja immer denkt, wenn man sowas tanzt, müsste man auch entsprechend den Lifestyle dazu haben und so. Aber nein, man kann das ganz einfach durch Technik hervorrufen.

LK: Braucht es solche Techniken in der Literatur auch? Solche Übungen? Wie bereitest du dich auf einen Text vor? Wie arbeitest du an Texten?

MH Ich finde es nicht schlecht, sich in diesen formalen Techniken in der Literatur auszukennen – also die ganzen stilistischen Mittel, in der Lyrik auch diese Sachen wie Metrik, Gedichtform usw. Wie und ob man sie dann bewusst anwendet, ist eine andere Frage, ich mache das eher unbewusst.

Ich frage mich immer, ob das in der Literaturwissenschaft eigentlich gemacht wird: dass man schaut, ob es neue, oder veränderte Techniken gibt – wie im Sport (beim Skispringen z.B.) oder eben im Tanz, wo sich ja laufend sehr viele Techniken ändern oder neue dazu kommen.
Wichtig ist für mich die Frage nach der Haltung beim Schreiben. Also, als wer schreibe ich da eigentlich den Text, oder fast schon: in welcher Rolle? Da sind wir wieder bei den Themen von oben, für mich hat Schreiben viel mit Schauspiel zu tun. Selbst wenn ich komplett autobiografische Sachen schreibe, bin ich im Moment des Schreibens jemand anderer. Das ist ja auch nichts Neues, man hat eine oder viele Schreibpersona(e). Aber ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass das in den letzten Jahrzehnten gerade in der Lyrik nicht so ein großes Thema war. Da gings eher um so rein sprachliche Angelegenheiten, und natürlich auch um inhaltliche.
Das ist auch schon ein Teil der Vorbereitung auf die Texte, nach der du fragst: dass ich mich auf mich selber als Schreibende des Textes wie auf eine Rolle vorbereite. Für bestimmte Texte recherchiere ich auch, wie jetzt für die Verserzählung, an der ich arbeite, da lese ich Fachbücher aus der Astrophysik – und verstehe natürlich kaum was, aber das macht gerade den Reiz aus: Im Schreiben kann ich dann irgendwie so tun, als verstünde ich was.

Zur Zeit arbeite ich nicht besonders kontinuierlich an meinen beiden Texten (Roman und Verserzählung), die Performance-Arbeit nimmt gerade viel Raum ein. Wenn ich nicht zu einer Probe muss, stehe ich um sechs auf und schreibe so zwei Stunden. Manchmal auch tagsüber ein bisschen. So wars aber eigentlich schon immer. Erst in der letzten Phase, wenn eigentlich der Text schon bald abgegeben werden muss, schreibe ich auch mal die ganze Nacht durch. Oft entstehen erst dann die richtigen, fertigen Fassungen. Das Kapitel Flammen aus meinem letzten Band habe ich einen Monat vor Manuskriptabgabe quasi nochmal komplett neu geschrieben. Den Bett-Essay aus demselben Buch allerdings habe ich fast in einem Rutsch an zwei Vormittagen geschrieben und dann nur noch Kleinigkeiten geändert.

 

Das Gespräch führte Hendrik Jackson