Gespräch mit Viktor Kalinke

Lyrikkritik hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch die ferneren Hintergründe von Poesie zu beleuchten. Letztes Jahr begann eine Gesprächsreihe #unreal talk. Wir wollen diese Gesprächsreihe fortführen. Etwas Ähnliches hat bereits das Ostragehege groß angelegt gemacht. Damit einige der tollen Interviews, die dort zu finden sind, sich nicht in den Weiten des gedruckten Worts verlieren, haben wir uns entschlossen, sie in Auszügen auch ins Netz zu stellen. Hiermit sei dem Ostragehege, Viktor Kalinke und dem großartigen Interviewer Axel Helbig gedankt für die Möglichkeit, diese Texte auch im Netz präsent zu erhalten. Der vollständige Text erschien erst im Ostragehege und dann 2023 in der empfehlenswerten Sammlung von Interviews „Der eigene Ton 3 – Gespräche mit Dichtern“, herausgegeben von Axel Helbig (ja, es gibt auch noch 1 und 2!! sehr zu empfehlen) im Leipziger Literaturverlag.

„Ich sitze da und vergesse“

 

Viktor Kalinke ist kein Sinologe und hat doch der deutschen Sinologie in den letzten Jahren die vielleicht reich­haltigsten »Geschenke« gemacht. Seine intensiven Auseinandersetzungen mit den altchinesischen Klassikern Laozi und Zhuangzi haben Lücken in diesem Wissenschaftszweig geschlossen und den Blick weit nach vorn geöffnet. Schon 1999 erstaunte Kalinke mit seinen »Studien zu Laozi« die Fachwelt.

2017 überraschte er mit einer Neuausgabe des Zhuangzi, die in editorischer Sorgfalt und wissen­schaftlicher Gründlichkeit Maßstäbe setzt. Kalinkes Zhuangzi enthält außer der deutschen Übersetzung den Originaltext der altchinesischen Standardausgabe, die Pinyin-Lautumschrift, ein vollständiges Glossar mit Konkordanz zum Buch Laozi sowie zahlreiche Anmerkungen und Kommentare.

Nach dem Daodejing von Laozi gilt das Buch Zhuangzi als wichtigste Quelle des altchinesischen Daoismus.

Im deutschen Sprachraum existierte bis dahin keine vollständige Übersetzung des Zhuangzi aus dem Chinesischen. Die deutschsprachige Zhuangzi-Rezeption wurde von der Ausgabe Richard Wilhelms aus dem Jahr 1912 dominiert, die den Standardtext um etwa ein Drittel gekürzt wiedergab und neu gliederte. Kalinke behebt diesen Mangel durch seine Neuausgabe. Innerhalb eines siebenjährigen Editionsprojektes wurden zunächst zwei Interlinearfassungen aus der chinesischen Vorlage erarbeitet, im ersten Schritt Zeichen für Zeichen, im zweiten Satz für Satz. Abschließend wurde der Fokus auf die poetische und literarische Qualität der Wiedergabe der Metaphern, Geschichten und Dialoge im Zhuangzi gerichtet, um eine in der deutschen Sprache stimmige Übertragung bewerkstelligen zu können.

 

Lieber Viktor Kalinke, ehe wir uns über den von Ihnen herausgegebenen »Zhuangzi« unterhalten, wollte ich gern noch einmal den Raum ausleuchten, den wir betreten. Die chinesische Philosophie der Frühzeit wird aus heutiger Sicht vor allem durch drei wichtige Gestalten verkörpert: Konfuzius, Laozi und Zhuang­zi. Alle drei Philosophen scheinen sich zumindest in einem einig zu sein: früher war vieles besser. Konfuzius heroisiert die Zhou-Dynastie um 1000 v. u. Z. und stellt diese als Beispiel für eine gute Regie­rung hin und gibt ca. 500 v. u. Z. das Wissen jener Zeit als Kanon an seine Zeitgenossen weiter. Über die Bedeutung der weit zurückreichenden religiösen Fundamente des Daoismus gibt es bei keinem der drei Denker Zweifel. Wie weit reichen diese Fundamente des chinesischen Geistes eigentlich zurück?

Von allen Hochkulturen, die wir kennen, ist die chinesische wahrscheinlich die mit der längsten Überlieferungstradition dank der Kontinuität der Schriftsprache. Sie begann mit Knochen, die für Orakelzwecke benutzt worden sind und in die Zeichen gekratzt wurden. In Schildkrötenpanzer sind die ersten Schriftzeichen eingraviert worden. Später wurde Ton verwendet, was mit einer Art »Rechtschreibreform« verbunden war. Die zeitlichen Hori­zonte werden recht unterschiedlich abgesteckt, das variiert je nachdem, ob man chinesische Historiker fragt oder orthodoxe Verfechter der chinesischen Kultur, die gern noch etwas weiter zurück gehen. Bis etwa 5000 v. u. Z. reichen die Anfänge der chine­sischen Schrift zurück, ab 1200 v. u. Z. tauchen die ersten zusammenhängenden Texte auf.

 

Also etwa bis in jene Zeit, in der die altbabylonische Keilschrift erfunden wurde?

Ja, ungefähr in diese Zeit und etwas früher noch. Die Chinesen berufen sich auf eine mytho­logische Figur, Fu Xi, dem die Erfindung des Ackerbaus und der chinesischen Schrift zugeschrieben wird. Auf ihn beziehen sich die drei genannten Philosophen. Fu Xi gilt auch als Erfinder von Schnüren, mit denen man Raum und Zeit messen konnte, ähnlich den Quippu-Knoten, die man von den alten amerikanischen Kulturen in Peru kennt. Die Stadt, die als sein Geburtsort gilt, beherbergt bis heute einen großen Tempel für diesen Mythos. Ob es Fu Xi wirklich gegeben hat, weiß man nicht. Auch über die Wurzeln des Daoismus gibt es kaum gesichertes Wissen. Offenbar hat er sich weit vor den alten Dynastien aus dem Schamanenkult entwickelt. Darauf nehmen die alten Philosophen unterschiedlich Bezug. Konfuzius hat die Abkehr vom Schamanenkult propagiert, während Laozi und Zhuangzi versucht haben, an den Schamanismus der Vorkulturzeit anzuknüpfen. Während Konfuzius die ersten kaiserlichen Dynastien pries, beziehen sich Laozi und Zhuangzi auf die chinesische Urzeit. Da wird noch unterschieden zwischen Nord-China, der Heimat des Konfuzius, und Süd-China, wo Laozi und Zhuangzi gelebt haben sollen. Im Süden soll auch die schamanische Religion ihren Ursprung haben. Die Entwicklung des Daoismus zur Religion, wie wir sie heute kennen, hat erst lange nach diesen drei Philosophen, etwa 200 u. Z. eingesetzt. Da existierte die Gedankenwelt von Laozi als philosophisches System bereits seit etwa 500 Jahren. In der chinesischen Ge­schichte hat es immer wieder politische Verwerfungen gegeben. Etwa um 200 v. u. Z. – kurz nach dem Tod des Gründers des geeinten China, Qin Shi Huangdi, bekannt durch die in den 1970er Jahren ausgegrabene Terrakotta-Armee – zerfiel die Gründerdynastie rasch wieder und wurde durch eine 400 Jahre währende, am Anfang daoistisch, später konfuzianisch orientierte Epoche abgelöst, die Han-Dynastie. Erst in dieser Zeit wurde versucht, die Literatur der alten Philosophen zu erfassen, die bei den unter Qin Shi Huangdi durchgeführten Bücherverbrennungen vernichtet worden war. Einige der be­drohten Werke waren in Tongefäßen vergraben worden. Dies war der Grundstock der ersten kaiserlichen Bibliotheken.

 

Geht man beim Zhuangzi von einem Autorenkollektiv als Herausgeber aus?

Zum Verständnis muss man sagen, dass in der Buchtradition Chinas der Name des Autors mit dem Namen des Werkes gleichgesetzt wird. Wenn man vom Zhuangzi spricht, meint dies die authentischen Texte des Zhuangzi plus der Zusätze seiner Schüler und Kritiker. Mensch und Werk werden mit demselben Wort bezeichnet. Das ist bei Konfuzius anders. Dort gibt es Texte, die er redigiert hat, und die nach seinem Tod herausgegebenen Ge­spräche des Konfuzius, es gibt keinen Text, der »Konfuzius« heißt. Über die Jahrhunderte gab es stets den Streit zwischen den Konfuzianern und den Anhängern des Laozi. Es gab auch Phasen, in denen der Daoismus zur Staatsphilosophie erhoben wurde, z.B. zu Beginn der Han-Dynastie. Meist jedoch dominierte in China die ideologische Vor­herr­schaft der Konfuzianer. Der Daoismus wurde klein gehalten und so zu einer Art Op­po­sition subversiven Denkens, welche auf lange Sicht kreativer erscheint als der staats­tragende Konfuzianismus. Bereits in der Han-Zeit wurden im alten China Versuche unter­nommen, Beamte aufgrund ihrer Prüfungsleistungen auszuwählen anstatt aufgrund ihrer Herkunft. Später wurde das meritokratische System fest in die Gesellschaft integriert. Das erlaubte begabten Kindern aus allen Schichten den Aufstieg bis zum Premierminister. Den Prüfungsstoff bildeten jahrhundertelang die fünf von Konfuzius herausgegebenen Klassiker. Es handelte sich also um Prüfungen allein im Fach »Literatur«. Im 11. Jahr­hundert bemühte sich der gelehrte Dichter Wang Anshi um eine Reform des Systems und ergänzte den Prüfungskanon um die Fächer Mathematik, Rechts- und Militärwesen. Die Reformversuche stießen auf erbitterten Widerstand, denn die Prüfungen entschieden über Karrieren. Man muss sich das vorstellen: Zu einem Zeitpunkt, als es in unseren Breiten kaum einen Schriftkundigen gab, ermöglichte in China die Kenntnis der klassischen Literatur den Eintritt in die Staatsverwaltung. Der Geburtsadel wurde mit einem Geistes­adel konfrontiert.

 

Beim Lesen des Zhuangzi trifft man auf Kapitel, in denen die Person des Konfuzius sehr wohlwollend, dann aber auch Kapitel, in denen Konfuzius abwertend und ironisch behandelt wird.

Das hat editorische Gründe, die mit jener Buchtradition zusammenhängen, die für uns Europäer ungewohnt ist. Wenn ich vorhin sagte, dass der Name des Autors auch für das Werk steht, dann heißt dies zugleich, dass das Werk nicht nur die authentischen Gedanken des Autors beinhaltet, sondern auch die seiner Schüler und die seiner Kritiker. Sie werden zu einem Buch zusammengefasst, im Falle des Zhuangzi auf 33 Schriftrollen. Beim Zhuangzi unterscheidet man Innere, Äußere und Vermischte Kapitel. Bezüglich der ersten sieben sogenannten Inneren Kapitel sagt die Tradition, sie würden von Zhuangzi selbst stammen. Es gibt eine bis heute nicht abgeschlossene Kontroverse, ob diese Kapitel, welche die Kernideen des Werks enthalten, wirklich von ihm stammen. Die sogenannten Äußeren Kapitel 8 bis 22 sollen Zusätze seiner Schüler bzw. Weiterdenker in den un­mittelbar nachfolgenden Jahrhunderten gewesen sein. Bei den sogenannten Ver­mischten Kapiteln 23 bis 33 weiß man nicht genau, wie alt diese Texte sind. Einige sollen jüngeren Datums sein. Das letzte Kapitel beinhaltet sogar eine Einordnung des Buches Zhuangzi in die chinesische Geistesgeschichte. Also, die älteste Rezension des Buches ist im Buch selbst enthalten. In den Vermischten Kapiteln gibt es jedoch auch Texte, die bereits von Sima Qian, also im 2. Jahrhundert v. u. Z., als Teile des Zhuangzi erwähnt werden. Mit dieser Tradition, Schriften der alten Philosophen zu sammeln und zu sortieren, haben die kaiser­lichen Schrifthüter ungefähr im ersten Jahrhundert v. u. Z. begonnen. Sie ist unse­rem westlichen, vom Urheberrecht oder von der Autorschaft geprägten Verständnis der Buch­produktion völlig fremd. Bis ins 2. Jahrhundert u. Z. hinein kursierten ganz ver­schiedene Ausgaben des Zhuangzi, herausgegeben von verschiedenen kaiserlichen Biblio­thekaren, die die aus verschiedenen Quellen stammenden Schriftrollen unterschiedlich zusammengestellt haben. Das alles waren Versuche, das Wissen von und über Zhuangzi nach den Bücherverbrennungen wieder zusammenzutragen. Zu den Herausgebern des Zhuangzi gehörten auch Konfuzianer. Der Name von Zhuangzi war schon damals be­kannt als legendäre Figur. Man weiß von ihm, dass er Gärtner war und nur eine unbedeutende Position innehatte, indem er sich bewusst von Ämtern ferngehalten hat, um frei zu sein. Das beeindruckte die nachfolgenden Generationen. Immer wieder gab es Schüler und Adepten des Meisters, die versuchten, auf seiner Welle mitzuschwimmen oder als Zaunkönig noch höher aufzusteigen als der Adler. Zur gleichen Zeit gab es gewiefte Konfuzianer, die Zhuangzis erzählerische Strategie auf ihn selbst anwandten: Sie erfanden Anekdoten über ihn, um ihn in den Schatten von Konfuzius zu stellen. Auch diese Passagen finden sich im Buch Zhuangzi.

 

In Ihrem Zhuangzi schreiben Sie im sehr informativen Vortext, dass der Zhuangzi in der chinesischen Kultur eine große Bedeutung erlangt hat und historisch betrachtet in seiner Wirkung etwa mit der Bibel, dem Alten Testament, verglichen wird. Kann man aus den Erzählungen, aus den Dialogen des Zhuangzi, aus den Berichten einen Begleiter durch alle Lebenslagen gewinnen?

Man kann das sicher nicht mit der Bedeutung des Alten Testaments für das Kirchenjahr vergleichen. Stephan Schuhmacher, der die Zhuangzi-Übertragung von Victor Mair aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat, behauptet das an einer Stelle und ich kann es gut nachempfinden, allerdings losgelöst von Priestertum und Predigt, wo jeden Sonntag ein Spruch aus der Bibel aufgegriffen wird. Die Predigt hat weder im Buddhismus noch im Daoismus eine Tradition. Hier spielt eher die Versenkung, die Verinnerlichung eine Rolle, die Meditation, die religiöse Praxis. Sie findet im Inneren statt, ohne Worte. Und genau das beschreibt Zhuangzi. Durch den Handel auf der Seidenstraße wurde der Buddhismus ab dem 3. Jahrhundert u. Z. nach China hineingetragen, ist in Indien verkümmert und hat sich in China entfaltet. Die Philosophen und Priester entdeckten zu dieser Zeit im Zhuang­zi zahlreiche Anklänge zwischen Buddhismus und Daoismus. Passagen, die Zhuang­zi sehr bildhaft beschreibt, z.B. im Eingangskapitel, dieses Motiv des Reitens auf den Wolken über große Entfernungen, wobei man die kleinen Sorgen hinter sich lässt, leicht wird und frei, sich dem Grenzenlosen nähert, in das Grenzenlose eindringt. Das ist eigentlich die Beschreibung einer Meditationstechnik und verhält sich wie mit den Wundern Jesu oder der jungfräulichen Geburt, wo jeder weiß: das ist nicht glaubwürdig. So sind auch die Wolkenritte bei Zhuangzi nicht glaubwürdig, aber als Meditation sind sie ganz realistisch. Das kann man träumen oder im Trancezustand erleben. Im Zhuangzi ent­deckten die Priester eine weitere Passage, die für den chinesischen Buddhismus äußerst folgenreich wurde: die Rede vom »geistigen Fasten« (xīn zhāi 心 齋 ). Während der Kon­fuzianer sagt: ich sitze und büffle, lerne all die Lieder auswendig, sagt der Daoist: ich sitze und vergesse – und dann werde ich leicht und nehme wieder wahr, schärfe meine Wahr­nehmung, indem ich mein Gedächtnis befreie.

 

Sie heben am Zhuangzi das Primat der individuellen Freiheit hervor.

Das ist der große Unterschied zwischen Laozi und Zhuangzi. Laozi ist ein durch und durch politisches Buch. Dass es in den 1920er Jahren in Europa als eine Art esoterische Fibel gelesen wurde, ist mir völlig schleierhaft. Es war der Trugschluss der damaligen Übersetzer, sich selbst und nicht einen Fürsten als Angesprochenen zu empfinden. Beim Zhuangzi ist dies nicht der Fall, dieses Buch richtet sich nicht an die Herrschenden. Zhuangzi gibt in seinen authentischen Stellen keinerlei Ratschläge. Er verweigert sich. Man kann auch nicht aufrechterhalten, was oft zu lesen ist, dass Zhuangzi ein Schüler des Laozi gewesen sei. Er ist eigenständig, bezieht sich zwar manchmal auf Laozi und ent­nimmt ihm einige Ideen, aber er wendet sie auf den Einzelnen an. Ihn interessiert nicht, wie der Herrscher handeln sollte. Wahrscheinlich hatte Zhuangzi in seinem Garten Erfüllung gefunden und er hatte Glück: In seinem Örtchen herrschte lange Frieden. Erst am Ende seines Lebens kam der Krieg auch in seine Gegend. Offenbar konnte sich der mittel- und machtlose Zhuangzi geistige Freiheit im Frieden leisten und sah sie als das Höchste an, was Menschen erreichen können.

 

Das Buch Zhuangzi begeistert nicht nur die philosophischen Leser durch den Reichtum an Bildern und Gleichnissen. Das sind sehr poetische Texte, in denen sich der individuelle Leser wiederfinden kann.

Genau. Es ist ein Geschichtenbuch. Insofern ähnelt es dem Alten Testament, welches in seinen besten Stellen auch eine Sammlung von Geschichten und Gleichnissen ist. Die ge­wählten Bilder im Zhuangzi sind teilweise sehr drastisch, was einen nahezu modernen Anstrich hat. Es gibt diesen wunderbaren Dialog:

 

Meister Dongguo (Ostwall) fragte Zhuangzi: »Was du Dao nennst, wo befindet es sich?«

Zhuangzi sprach: »Es gibt nichts, wo es nicht ist.«

Meister Dongguo sprach: »Ich hoffe, du könntest mir mehr dazu sagen.«

Zhuangzi sprach: »Es steckt in Zikaden und in Ameisen.«

[Meister Dongguo] sprach: »Ist es in Niederem zu finden?«

[Zhuangzi] sprach: »Es steckt im Unkraut und im Gras.«

[Meister Dongguo] sprach: »Ist es in etwas zu finden, das noch niedriger steht?«

[Zhuangzi] sprach: »Es steckt in Dachziegeln und Kacheln.«

[Meister Dongguo] sprach: »Ist das das Niedrigste, in dem es zu finden ist?«

[Zhuangzi] sprach: »Es steckt in Kot und Pisse.«

 

Zhuangzi holt nicht zu abstrakten philosophischen Konstruktionen aus, er ist ein Meister des Konkreten.

 

Warum ist Zhuangzi erst im 20. Jahrhundert so richtig in der europäischen Philosophie wahrgenommen worden? Dies trifft in gewissem Sinne auch auf Konfuzius und Laozi zu. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz hatte im ausgehenden 17. Jahrhundert im Schriftverkehr mit in China weilenden Jesuitenpatern Wissen über China zusammengetragen. Es hat einen Austausch über wissenschaftliche Ergebnisse und religiöse Fragen gegeben. Warum hat der damalige Wissenstransfer diese Hauptwerke der chinesischen Philosophie ausgeklammert?

Seit dem 16. Jahrhundert gibt es engere Kontakte zwischen China und Europa. Vereinzelt sind bereits zuvor ein paar Europäer nach China gereist, von ihnen ist der Venezianer Marco Polo vom Ende des 13. Jahrhunderts der bekannteste. Er weilte unter anderem am Hof in Changan (heute Xian). Was er von China berichtete, erinnerte im Vergleich zum damals kränkelnden Europa einem paradiesischen Zustand. Er fand geordnete stabile Ver­hält­nisse vor. Später reisten jesuitische Missionare nach China, insbesondere aus Frank­­reich und Italien. Sie lernten Chinesisch und befassten sich mit der neo-konfuzianischen Philosophie, die damals vorherrschte, letztlich, um die angebliche Über­legenheit des christlichen Glaubens nachzuweisen. So lasen sie die chinesischen Klassiker mit einer christlichen Brille und glaubten zum Beispiel die Trinität in bestimmten Eigennamen erkennen zu können. Indem sie lediglich den Austausch mit Konfuzianern suchten, die ihnen für das missionarische Geschäft am wichtigsten erschienen und von denen sie schließlich als Mandarine erster Klasse anerkannt wurden, hatten sie keinen Blick für den Daoismus, der sich zudem zur Volksreligion entwickelt und seine philosophischen Grund­lagen damit verschleiert hatte.

 

War diese konfuzianische Welt an die Religion gekoppelt? War es ein sehr pragmatisches Staatsgebilde, aber mit Religionsbezug?

Der Konfuzianismus war – in heutigen Worten – keine religiöse Veranstaltung, er war Bil­dungs­­bürgertum. Eine Ausnahme bildet das Yijing (»Buch der Wandlungen«), dieses berühmte, hermetische Orakelbuch, welches Konfuzius herausgegeben und kommentiert hat. Es schlägt zudem die Brücke zu Leibniz – eine wirklich geniale Geschichte. Das Yijing ist in den letzten Jahren gleich zweimal neu ins Deutsche übersetzt worden, erschie­nen einmal bei Suhrkamp und einmal bei Reclam. Leibniz’ Begegnung mit dem Yijing verdanken wir die Erfindung der Dualzahlen, auf der unsere Computertechnik beruht. Im Yijing werden nur zwei Zustände unterschieden – durchgezogene Linie und unter­broche­ne Linie, die, zu Dreierblöcken geordnet, acht Trigramme bilden. Die Kombination von zwei Trigrammen beschreibt eine »Wandlungsphase«; insgesamt resultieren 8 x 8 = 64 Hexagramme, die als Bilder gesehen, mit Schriftzeichen verknüpft und philosophisch interpretiert werden können. Die mythologisch kolorierten »Geschichten« dazu erscheinen mysteriös und obskur, so dass man in die Kommentare alles hineininterpretieren kann, was für die Funktion des Orakels als Projektionsschirm des Eigenen sehr nützlich ist. Dafür braucht es diese Deutungsoffenheit. Doch im Kern ist das Yijing absolut klar und logisch. Es besteht nur aus dualen Zahlen, Null und Eins. Der gesamte Kosmos dieser 64 Hexagramm-Kombinationen beruht letztlich auf diesen beiden Zahlen. Leibniz erkannte darin im Jahr 1697 ein mathematisches Modell für den göttlichen Funken, der imstande sei, alles aus dem Nichts entstehen zu lassen. Aber Leibniz war seiner Zeit so weit voraus, dass kein Fürst und niemand sonst ahnte, was daraus einmal werden würde. Im selben Jahr schlug Leibniz in seiner Schrift »Novissima Sinica« die Gründung einer Art preußisch-chinesischer Akademie vor. Statt China zu bekehren, sollte der Westen von China lernen. Unglaublich! Bis heute ist dieser Teil von Leibniz’ Werk kaum aufgearbeitet. Aber zurück zur Frage: Der Konfuzianismus hat keine religiösen Inhalte, aber er bewahrte diese sehr mathematisch erscheinende Struktur des Yijing, die eine ganz paradoxe Verbindung schafft zwischen Mathematik und Logik auf der einen Seite und Spiritualität auf der anderen Seite. Dieses Orakelbuch wurde von allen genutzt, von den Priestern, um glückliche und unglückliche Ereignisse vorherzusagen, ebenso von den Königen, Fürsten usw. Was wir als Religion verstehen, das seelsorgerische Priestertum, wurde von außen nach China importiert, in Form des Buddhismus. Und gleichzeitig hat sich aus der daoistischen Philosophie die daoistische Volksreligion entwickelt, die jedoch teilweise völlig im Gegensatz zueinander stehen. Ein Beispiel dafür ist die Idee der Unsterblichkeit. Um sie zu erlangen, wurden, wie ich vorhin erzählt habe, verschiedenste Substanzen ge­kostet, u.a. Quecksilber, später Meditationsübungen und Körpertechniken entwickelt wie z.B. die »Innere Alchemie«. Zhuangzi hält dagegen: »Woher weiß ich, ob ein Toter seine frühere Sehnsucht nach dem Leben nicht bereut?«

Eine erste Übersetzung des Daodejing in eine europäische Sprache, genauer gesagt ins Lateinische, wurde im frühen 18. Jahrhundert von französischen Jesuiten besorgt. Sie lag als Handschrift vor, die keinerlei Verbreitung fand. 1842 publizierte Stanislas Julien die erste Übersetzung in Frankreich. Sie hatte jedoch kaum eine Wirkung. In Deutschland war Viktor von Strauß der erste, der den Rang des Daodejing erkannte. Er gab 1870 seine Übersetzung heraus. Im Englischen gab es aufgrund der Kolonien auf chinesischem Gebiet einige sehr begabte Sprachkundige, die dann nach ihrer Rückkehr die Sinologie in Oxford und Cambridge begründeten. James Legge (1815–1897) wurde bei seinen Über­setzungen der chinesischen Klassiker vom Autor und Verleger Wang Tao beraten, der nach der Beteiligung an den Taiping-Aufständen nach Hongkong geflohen war. Dieser ver­schaffte ihm einen sehr guten Zugang zum Kern der Gedanken. Richard Wilhelm stützte sich bei seiner Übersetzung des Zhuangzi ins Deutsche unter anderem auf die Über­tragung von James Legge. Martin Buber kannte den chinesischen Text des Zhuangzi nicht, sondern griff für sein erfolgreiches Lesebüchlein auf die Vorlage eines chinesischen Freundes und auf die relativ unzuverlässige englische Übersetzung von Herbert Giles zurück.

 

Dennoch hat man den Eindruck, dass Bubers Engagement für die Wahrnehmung des Laozi und des Zhuangzi in der deutschen Geisteswelt der entscheidende Impuls war. Davon haben Max Weber, Martin Heidegger, C. G. Jung, Bertolt Brecht, Hermann Hesse, Alfred Döblin u. v. a. profitiert.

Buber hat die Übersetzung auf seine Weise sehr akribisch betrieben und versucht, so konsistent wie möglich zu arbeiten. Bei dem Versuch, den Laozi ins Hebräische zu übertragen, fertigte er eigens ein Wörterbuch an, damit er in der Lage war, die Begriffe, die an verschiedenen Stellen in verschiedenen Bedeutungen und Kontexten auftauchen, gleich­förmig wiederzugeben. Sein 1910 veröffentlichtes Zhuangzi-Lesebüchlein ist ledig­lich eine Blütenlese. Seine Textauswahl umfasst nur einen Bruchteil des Gesamttextes, der frei zusammengestellt wurde. Am schwersten wiegt die Kritik, mit der Hans-Georg Möller kürzlich Bubers Zhuangzi-Ausgabe gewürdigt hat: Buber projiziert kraft seiner poetischen Sprache jüdisch-christliche Ideen in den chinesischen Text hinein, z.B. eine Philosophie der Identität – daraus erklärt sich sein Erfolgsgeheimnis bei den westlichen Philosophen der Moderne, die aber gewissermaßen einer genialen Fälschung auf den Leim gegangen sind.

 

Die erste beinahe komplette Übersetzung des Zhuangzi hat Richard Wilhelm 1912 veröffentlicht (»Das wahre Buch vom südlichen Blütenland«). Sie ist bis heute die ständig neu aufgelegte Ausgabe im deutschsprachigen Raum. Worauf bezieht sich Ihre Kritik an dieser Übertragung? Warum war es wichtig, den Zhuangzi neu zu übersetzen?

Es gibt eine ganze Reihe von Kritikpunkten, die man anführen muss. Was ich vorhin zu den jesuitischen Missionaren sagte, trifft zum großen Teil auch auf Richard Wilhelm zu. Er war, als er sich im kaiserlichen China bzw. in der deutschen Kolonie Qingdao aufhielt, ebenfalls von konfuzianischen Beratern umgeben, die für den Daoismus wenig Ver­ständ­nis hatten. Während er also beim Übersetzen der konfuzianischen Klassiker gut beraten war, war er beim Übersetzen der daoistischen Klassiker eher schlecht beraten. Ein zweiter Kritikpunkt ist, dass er einer Theorie, die damals von einigen chinesischen Gelehrten vertreten wurde, absoluten Glauben schenkte. Sie bestand darin, dass es drei daoistische Klassiker gegeben hätte – Laozi, Liezi und Zhuangzi. Liezi wird im Buch Zhuangzi tatsächlich erwähnt, sonst aber nirgendwo. In den antiken Katalogen der kaiserlichen Bibliothekare fehlt er. Man weiß bis heute nicht genau, ob er jemals lebte oder nicht vielmehr eine Erfindung von Zhuangzi ist. Erst im 4. Jahrhundert unserer Zeit tauchte ein Mann namens Zhang Zhan auf, der behauptete, die Werke von Liezi im Schrank seines Großvaters gefunden zu haben. Man weiß heute, dass diese vermeintliche Werkausgabe eine Kompilation aus Zhuangzi, Huainanzi und anderen altchinesischen Texten ist, bunt zusammengewürfelt und noch etwas umgeschrieben. Kein schlechter Text, schön zu lesen, jedoch rein eklektizistisch. Über 1500 Jahre hielt sich in manchen Kreisen die Theorie, dass Zhuangzi ein Nachfolger von Liezi sei. Von den daoistischen Schriften übersetzte Richard Wilhelm nun zuerst Laozi, dann Liezi und zum Schluss Zhuangzi. Bei Zhuangzi stieß er auf Passagen, die dieser vermeintlich bei Liezi abgeschrieben habe. In Wirklichkeit hat sie umgekehrt der Kompilator der Liezi-Ausgabe aus dem Zhuangzi entnommen. Wilhelm jedoch lässt in seiner Übersetzung des Zhuangzi all diese vermeintlichen Zitate aus dem Liezi weg mit dem Hinweis: lies es bei Liezi nach. In der Summe fehlt bei Wilhlem etwa ein Drittel des Zhuangzi. Buber übrigens war der Umstand, dass es sich bei Liezi um eine Fälschung handelte, bereits bekannt. Dies wurde von chinesischen Literaten seit dem 6. Jahrhundert immer wieder angemerkt. Das ist der Hauptkritikpunkt. Darüber hinaus hat Wilhelm die Kapitelfolge des Zhuangzi verändert und stark in die Gliederung des Werkes eingegriffen. Beispielsweise streicht Wilhelm die sinfonisch anmutende Ouvertüre, in dem die berühmte Verwandlung des Fisches Kun in den Vogel Peng beschrieben wird, so dass man das Werk zunächst gar nicht erkennt. Stattdessen setzt er mit der prosaischen Kurzfassung dieser Geschichte ein, die erst später im Zhuangzi erscheint. In den ersten Auflagen hat Wilhelm seine redaktionellen Eingriffe zumindest ausführlich kommentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg, d. h. mit dem Umzug von Jena nach Düsseldorf, verzichtete der Diederichs-Verlag auf einen Großteil dieser Fußnoten. Dadurch erhält der heutige deutsche Leser den Eindruck, der Zhuangzi, den Wilhelm zusammengestellt hat, sei das Buch Zhuangzi. Man stelle sich vor, ein heutiger Herausgeber wäre so mit den Neuen Testament umgegangen, wäre von dem Gedanken angetrieben worden, nur das stehen zu lassen, was Jesus authentisch zugeschrieben werden könne.

 

Wann und warum kamen Sie auf die Idee, sich den Zhuangzi vorzunehmen? Es musste ja von Beginn an klar gewesen sein, dass diese Arbeit (das Ergebnis umfasst ein 900-Seiten-Buch) sehr umfangreich werden würde.

In der modernen Psychotherapie werden gern Geschichten erzählt und tatsächlich stam­men viele von Zhuangzi. Auf diese Weise kam ich im Rahmen meiner Ausbildung mit ihm ganz praktisch in Berührung. Als ich dann den Laozi-Essay schrieb, bin ich fortlaufend auf Zhuangzi gestoßen. Er bildet eine Brücke – vom »Politikberater« zum »Lebensberater«. Und irgendwo dazwischen ist die Religion herausgesprungen.

 

Die Struktur Ihrer Zhuangzi-Ausgabe ist sehr zu loben, nicht nur wegen des sehr informativen Vor­textes, sondern wegen der Art und Weise, in der der Zhuangzi-Text dargeboten wird. Wenn man das erste Innere Kapitel aufschlägt, fällt sofort dieses mehrteilige Grundprinzip der angebotenen Textstruktur auf. Zunächst wird kurz deutsch eingeführt in das Kapitel, daran schließt sich der altchinesische Originaltext der Standardausgabe an, diesem folgt der Text in Pinyin-Lautumschrift und die interlineare Wort-für-Wort-Übertragung, erst dann folgt die deutsche Übersetzung, an welche sich in der Regel noch ein Kommentar anschließt, der auf die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse reflektiert. Mehr Sorgfalt ist nicht vorstellbar. Wie kamen Sie auf die Idee, der Wissenschaft und dem Leser diese reiche, nützliche Struktur anzubieten? Gab es dieses Prinzip bereits in einer englischen Übertragung des Zhuangzi?

Als Buch gibt es den Zhuangzi in dieser Form auch im Englischen noch nicht. Im Internet hat Donald Sturgeon mit dem »Chinese Text Project« eine sehr verdienstvolle Seite ins Leben gerufen. Hier werden zahlreiche Klassiker in solider Weise dargestellt. Für das Buch Zhuangzi ist beispielsweise die Havard Konkordanz hinterlegt, die in der Sinologie als Grundlage für die Zitation dient. Außerdem wurden Verknüpfungen zu Online-Wörter­büchern eingefügt, was aber bei altchinesischen Texten nicht selten in die Irre führt. Mir ging es bei meiner Zhuangzi-Ausgabe darum, dem deutschen Leser eine Referenz zum überlieferten Text in die Hand zu geben und die Nachprüfbarkeit der Übersetzung zu erleichtern. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt fehlte bisher eine zuverlässige, kri­tische Ausgabe. Häufig nehmen die Essayisten hierzulande, die Zhuangzi zitieren, Bezug auf die Ausgabe von Richard Wilhelm, die aber im Diskurs nicht anschlussfähig ist, da er zu sehr in den Aufbau des Buches eingegriffen hat. Diese Verwirrung lässt sich sehr schön auf den deutschsprachigen Wikipedia-Seiten beispielsweise zum Stichwort »Daoismus« beobachten, wenn man sich einmal den Spaß erlaubt, den englischsprachigen Artikel zum selben Thema zu lesen …

 

Dieses Prinzip ist ja zugleich ein großer Impuls, die eigentliche Beschäftigung mit der geistigen Welt des Zhuangzi nun zu beginnen. Die Werkzeuge liegen nun für jedermann und insbesondere für die Wissenschaft bereit.

Das wollte ich ermöglichen. Nach meiner Rückkehr nach Leipzig begann ich, mich mit der altchinesischen Standardausgabe des Zhuangzi zu beschäftigen. Zuerst hatte ich eine zwei­sprachige Ausgabe im Sinn – wie beim Laozi – und wollte auch die rezep­tionsgeschichtliche Wirkung der Mehrdeutigkeiten in diesem Buch untersuchen. Doch dies erwies sich beim Zhuangzi als Irrweg. Während Laozi in seiner formelhaften Sprechweise von obskurer, bei näherer Betrachtung recht gleichförmiger Vieldeutigkeit lebt, ruft die narrative, ans Sinnlich-Konkrete gebundene Erzählweise Zhuangzis nach be­grifflicher Klarheit.

 

Ich vermute, dass die Sinologen Sie längst als einen Kollegen betrachten. Insbesondere die detaillierte und kenntnisreiche Kommentierung, die die Zhuangzi-Ausgabe durchzieht, kann als direkter Dialog mit der Sinologie gelesen werden.

Diese Ausgabe ist das Ergebnis einer vierfachen Lektüre des Buches Zhuangzi. Bei der ersten Lektüre habe ich den chinesischen Langzeichen die lateinische Transkription in Form der modernen Pinyin-Lautumschrift zugeordnet. Mit Sicherheit ist davon aus­zu­gehen, dass zu Zhuangzis Zeiten das Chinesische anders ausgesprochen wurde. Mir ging es nicht darum, die antike Aussprache zu rekonstruieren, sondern die Arbeit mit dem Text zu vereinfachen. Die zweite Lektüre des Zhuangzi ergab eine Interlinear-Übersetzung, Wort für Wort. An diesen beiden Arbeitsschritten haben eine chinesische Germanistin und eine chinesische Kulturwissenschaftlerin mitgewirkt. Am liebsten wollten sie sofort fertige deutsche Sätze formulieren, doch darum ging es in dieser Phase noch nicht und ich musste ihren ungestümen Formulierungsdrang bremsen … Vielmehr haben wir zunächst ein »Wörterbuch des Zhuangzi« angelegt. Es enthält alle Zeichen, die im Zhuangzi vor­kommen, insbesondere auch die seltenen und heute nicht mehr gebräuchlichen Zeichen, die wir durch Recherche in alten Kommentaren und durch Lektüre vorhandener Über­setzungen entschlüsselt haben. Es setzt übrigens die Konkordanz fort, die ich im ersten Band der »Studien zu Laozi« begonnen hatte, und erweitert sie zu einer »Laozi-Zhuangzi-Konkordanz«, die einen vollständigen Wortschatzvergleich beider Werke ermöglicht.

 

Auch diese Laozi-Zhuangzi-Konkordanz ist ein großartiges Angebot an die Sinologie.

Die Erarbeitung des Glossars nahm etwa drei Jahre in Anspruch, denn es war für jedes einzelne Zeichen notwendig zu überprüfen, wie es im jeweiligen Kontext des Zhuangzi zu verstehen ist. Je weiter wir uns durch den Text durchgearbeitet haben, desto umfang­reicher und spezifischer wurde das Wörterbuch und gewährte nach und nach einen Über­blick, wie verschieden die Zeichen an den einzelnen Stellen verwendet werden. Für mich erwies es sich als ein unschätzbares Werkzeug, um mich an die eigentliche Übersetzung heranzuwagen. In der vorliegenden Zhuangzi-Ausgabe befindet es sich am Ende und kann für weitere Übersetzungen aus dem Altchinesischen herangezogen werden. Auch für Leser, die sich für den Sprachgebrauch im Laozi und im Zhuangzi interessieren, enthält es eine Menge Entdeckungen.

 

Sie haben ja für Ihre Zhuangzi-Übertragung auch alle im Deutschen und Englischen existierenden Zhuang­zi-Übertragungen noch einmal vergleichend herangezogen, um zu einer gesicherten und Irrtümer ausschließenden Übersetzung zu kommen.

Ja, das erschien mir hilfreich. Erst die dritte Lesung führte zu einer Satz-für-Satz-Über­setzung. Diese schneckenhafte Vorgehensweise war wichtig, weil manche Sätze so kurz und elliptisch sind, dass ihr Verständnis große Schwierigkeiten bereitet. Andere Sätze waren dunkel. Andere wiederum besaßen eine komplexe syntaktische Struktur. Damit ist ein gravierendes Problem in der modernen Wiedergabe altchinesischer Texte verbunden: Heutzutage werden sie in der Regel nicht mehr wie früher in Säulen, rechts oben beginnend und von oben nach unten zu lesen, gedruckt, sondern wie in Europa in Zeilen, die von links nach rechts gelesen werden. Außerdem fügen die heutigen chinesischen Herausgeber europäische Satzzeichen ein, die es in den altchinesischen Texten natürlich nicht gab. Einerseits erleichtern sie die Orientierung, andererseits kommt es vor, dass die Interpunktion die Interpretation beeinflusst. Je nachdem, wo ein Komma gesetzt wird, kommt ein anderer Sinn heraus. Im Laozi, der sich eher wie Lyrik liest, ist dieser Effekt enorm, und dort war es wichtig, auf die nachträglich eingefügte europäische Interpunktion zu verzichten. Im Zhuangzi, der größtenteils in Prosa verfasst ist, spielt dieses Problem dagegen kaum eine Rolle. Daher habe ich sie hier stehen lassen.

 

Aber auch die Prosa-Texte im Zhuangzi sind sehr poetische Texte. Man merkt Ihrer Übertragung an, dass gerade auch dieses Poetische in einem weiteren Arbeitsschritt noch einmal besonders herausgearbeitet wurde, um die Metaphern und Bilder eingängig zu machen. Dadurch wird die Lesbarkeit verbessert und das Lesen zugleich Genuss. Ich möchte gern noch auf einen tragenden Grundgedanken der Philosophie des Zhuangzi zu sprechen kommen: Nichtstun als Handlungsmaxime. Das heißt ja nicht: Alle Fünfe gerade sein lassen. Was ist das für ein Nichtstun?

Das ist eine kontroverse Diskussion, bei der äußerst unterschiedliche Positionen ein­ge­nom­men worden sind. Ich habe bereits Hanfeizi erwähnt, der die Angst vor der Härte des Gesetzes als Voraussetzung ansah, damit der Herrscher im Nichtstun schwelgen kann. Am anderen Pol befindet sich beispielsweise Ernst Schwarz mit seiner ökologischen Inter­pre­tation des Wuwei als »nicht wider die Natur handeln«. Tatsächlich kommt dies Zhuangzi näher als Laozi. Bei Zhuangzi gibt es nämlich den Begriff der »natürlichen Bestimmung«, die zu erkennen und der zu folgen die Selbstwerdung der Lebewesen aus­macht – diese Erkenntnis erscheint bei Zhuangzi als unerlässliche Voraussetzung des Glücks: die Freude der Fische im Wasser … Andere Interpreten behaupten, Wuwei be­deute nicht, nichts zu tun, sondern die Aufmerksamkeit für den passenden Moment zu schärfen, in dem sich die Dinge von selbst in die gewünschte Richtung entwickeln. Darin be­steht ein Grundzug chinesischer Diplomatie: die richtige Gelegenheit abzuwarten und sie dann beim Schopf zu packen, statt mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. All das findet sich bereits bei Laozi. Zu Beginn meiner Zhuangzi-Lektüren trug ich dieses Nichtstun des Laozi im Hinterkopf und habe mich davon in die Irre leiten lassen. Es dauerte, bis ich entdeckte, dass es bei Zhuangzi buchstäblich um das Nichtstun geht. Dazu hat der gute Protestant ein ambivalentes Verhältnis. Wir erlauben uns keine Faulheit, sind es nicht gewohnt, das Nichtstun zu genießen, das Freisein von Verpflichtungen. Aber genau das ist es, worum es Zhuangzi geht: um das Abstreifen der Zwänge. Er sagt sinnbildlich: wenn ich eine lange Reise plane, brauche ich Proviant. Wer nur drei Meilen geht, nimmt eine Handvoll Körner mit, um sich zu verpflegen. Wer dreitausend Meilen geht, der muss entsprechend vorsorgen. Die weiteste Reise führt ins Grenzenlose, um sie anzutreten, benötigt man geistige Freiheit im Gepäck.

 

Der Daoismus ist insoweit angenehm, als man nicht mit der Hölle bedroht wird. Die Sünde der Christen­welt kennt man nicht. Wie ist es mit gut und böse? Verkörpern Yin und Yang auch das Gute und Böse?

Ja, das gibt es. Aber, es gibt auch ständig den dialektischen Übergang zwischen beidem. Es gibt das Gute im Bösen und das Böse im Guten. Das ist eine Einheit. Bei Laozi finden wir einen Spruch, der mit einem Zitat aus den Gesprächen des Konfuzius nahezu identisch ist. Da wird die Frage gestellt: Wie gehe ich mit Verbrechern um? Wie gehe ich mit bösen Menschen um? Konfuzius sagt: Den Guten behandle gut und den Bösen behandle mit Aufrichtigkeit, was bedeutet, nach den geltenden Regeln. Laozi entgegnet an dieser Stelle: behandle auch ihn gut. Das ähnelt der christlichen Feindesliebe und etablierte einen in der Prä-Qin-Zeit einzigartigen ethischen Standard.

 

Es fällt auf, dass Zhuangzi bei Karl Jaspers im Vergleich zum Laozi sehr schlecht wegkommt. Ihm missfällt an Zhuangzi dieser ironische Ton. Gerade dieser Ton kann aber auch zum Vergnügen werden, wenn man sich in den Zhuangzi vertieft.

Jaspers hat sich von Richard Wilhelms Interpretationen leiten lassen. Das entsprach dem da­maligen Zeitgeist. Man sah in Zhuangzi einen Nachfolger des Laozi, also eine Art Ver­wäs­serung der reinen Lehre. Heute erkennt man im Zhuangzi etwas, das über Laozi hinaus­geht. Die Interpretation verliert sich nicht im Kosmologisch-Politischen, sondern verharrt im Persönlichen. Der Text meidet politische Polemik, bleibt literarisch. Ich sehe in der chinesischen Geschichte keine Epoche, in der das Buch Zhuangzi ideologisch miss­braucht wurde. Laozi dagegen lässt sich benutzen. Der Freiheitsbegriff des Zhuangzi ist auf die Freiheit und Würde, d. h. »natürliche Bestimmung«, des Einzelnen gerichtet. Wenn Politik imstande ist, sie zu gewährleisten, dann ist sie gute Politik. Zhuangzi lotet den Spielraum individueller Freiheit in anschaulichen Bildern, Metaphern und Dialogen aus und setzt einen Punkt. Mehr ist nicht zu sagen.

 

Das Gespräch führte Axel Helbig und wurde hier gekürt wiedergegeben