Leben und Sterben in Frankfurt
Es gibt so viele Arten zu sterben. Das ist ziemlich abgefuckt, eigentlich. Du könntest von einem Auto überfahren werden, Zack: Licht aus! Du könntest mit einem Messer abgestochen werden und langsam verbluten. Wenn man so viel über den Tod nachdenkt, überwältigt er einen. Wir können nicht richtig verstehen, was der Tod eigentlich bedeutet, keiner von uns ist je tot gewesen, keiner von uns hat den Tod je erfahren. Sicherlich, es gibt Leute, deren Herz für ein paar Minuten stehen blieb, aber das ist mehr wie in Ohnmacht zu fallen, als zu sterben. Vielleicht gibt es da nichts zu erfahren, das ist auch möglich. Plötzlich ist es dunkel, Licht aus! Zack! Oder man könnte wieder aufwachen. Schreiend, in den Armen eines Doktors. Oder als Blume. Aber das sind andere Bewusstseinszustände. Eine Blume ist bloß eine Blume. Ohne Denken, ohne Fühlen, nichts. Lass mich gar nicht erst mit dem Bewusstsein eines Babys anfangen! Und wenn du wieder aufwachst, für was? Das ist die schwierigste Frage. Für was? Wozu?
Plötzlich blendet mich ein rotes Licht und ich schaue mich um in der Tram Nr. 16. Der Mann vor mir zählt Münzen, die Frau neben ihm schläft. Es ist sehr früh am Morgen. Nicht früh für Frankfurter Verhältnisse. Frankfurt schläft nicht! Frankfurt macht alles zu jeder Uhrzeit, immer.
Warum denke ich eigentlich so viel über den Tod nach? Er ist doch ziemlich fernab meiner jetzigen Realität. Natürlich könnte die Tram entgleisen, gegen eine Wand fahren und wir würden zerquetscht werden wie Wassermelonen. Und Zack: Blut überall. Ich meine, es ist nicht so, als wäre ich lebensmüde. Das wäre ein Grund für diese Art von Gedanken am frühen Morgen. Wahrscheinlich bin ich eher genervt als lebensmüde. Genervt von dem schreienden Baby. Und von dem Mann vor mir, der Münzen zählt. Diese Münzen sind schon ziemlich nervig. Ich höre tief in mich hinein und merke, dass ich eigentlich nicht genervt bin. Vielleicht denke ich über so etwas nach, weil ich gelangweilt bin. Gelangweilt davon, dass ich schon wieder in derselben Tram sitze. Wahrscheinlich sogar im selben Wagon, mit demselben Fahrer, mit denselben Leuten – alle genervt und gelangweilt, genau wie ich, in derselben Stadt. Frankfurt kann einen deprimieren. Mit dem hässlichen Glas der Wolkenkratzer und dem scheiß Beige der überteuerten Altbauten.
Die Tram fährt hoch ans Licht, und ich sehe sie: diese Skyline sieht aus, als würde sie den Himmel ficken. Es fängt an zu regnen. Der Regen wischt die letzten positiven Gedanken weg. Ich meinte, Frankfurt hätte mich abgehärtet. Ich bin selber schon ganz glasig und beige. Aber mittlerweile kümmerts mich wenig. Und dann tritt der Tod in meine Gedanken und zoom! Adrenalin rennt durch meinen Körper. Ich glaube, ich will sterben. Oder jemanden kennenlernen, dem ichs erzähle.
Sandra Klose & Andy Siege