LET YOU CHANGE THE PLACE WITH ME

 

Der Charme spröder Unikate sei gewollt, sagte er, das fragwürdige Englisch auch. Wovon er rede, wollte ich wissen. In vierzehn Kapitel wolle er sein neues Manuskript einteilen – ah, achso – und die angestammten Komplexe Landschaft, Herkunft, Sprachskepsis älterer Arbeiten u.s.w. fortführen, zugleich aber auch neu erschlossene Themenfelder wie Realismus und Konkretion des Stammbaums vorstellen. Hä?, machte ich unwillkürlich und trank meinen Tee aus. Das heißt, meinte er ohne mich zu beachten, er nahm erst noch einen Schluck aus seinem Becher Ayran und sah vor sich auf die Tischplatte, während die Döner im Hintergrund zusammengelegt wurden, die wir bestellt hatten, immer nah an der Unverständlichkeits- als der Unsagbarkeitslinie, also der Verständlichkeits- als der Sagbarkeitslinie entlang, solle es gehen und sich ausrollen und Historisches, Biografisches, Geborgtes und defizitär Vereinnahmtes auf- und umeinander zu einem Gesamttext – er sagte Gesamttext – machen, deren Einzelheiten … Wer soll denn das lesen?, fragte ich mittenrein. Vom Moment wie vom Ganzen aus, meinte er weiter, solle das Ganze als Spiel von und mit Bruchkanten sichtbar bleiben, er nenne es den rauen Stil. „Vergessenes und Verranntes“ zum Beispiel sei ein tendenziell poetologisches Kapitel, das Ortskunde mit Sprach- und Sprechmöglichkeiten verbinde und aufeinander reagieren lasse – lass krachen, dachte ich – um am Ende das Flüchtige, die Fluchtbewegung des Gedichts zu betonen. Wenn es dann einmal da sei, sei das Gedicht allerdings stark da, fügte er nach einer Pause hinzu, in der ich mich im Lokal umsah und längere Zeit die Werbeclips auf Eurosport verfolgte, die allesamt von einem Leben sprachen, das mir größer, vielversprechender, mehr aus dem Schwung kommend vorkam als mein eigenes. Dieses Kapitel könne und solle auch als Überschreibungskapitel gelesen werden, das sei ganz wichtig, es nicht eins zu eins, also wörtlich zu nehmen. Es seien Gedichte, in denen sich Träume, Lektüren und Orte ineinander verschränken würden, zu Momentaufnahmen kondensierten. Oh, raunte ich, das ist eine schöne Formulierung, sag mal ein Beispielgedicht. Echt? Hab ich. Er holte einen Zettel aus seiner Trainingsjacke und las leise vor. steinwidder // ich beginne den tag / und ich denke die nacht / und ich überschaue die / nacht und ich überstehe // sie bis sie sich öffnet / wie die büchse in der büchse // der offene raum ist der offene / raum den ich dir nicht übersetze. Ich muss sagen, das plättete mich, ich glaube ich wisperte was von … ach, sagte er, das ist so hingeworfen, gar nicht viel gemacht dran. Weitere, mittlerweile abgeschlossene Zyklen, meinte er, nähmen, stärker als in den Vorgängerarbeiten, Gesellschaftspolitisches in den Blick: Migration und Verbrechen zum Beispiel – und zwar unter anderem auch mit einem als Dokumentarismus zu bezeichnenden Fokus auf Realien. Ein südlicher Küstenabschnitt auf Sardinien zum Beispiel sei Schauplatz der Frage nach dem Selbstverständnis impressionistisch mäandernder Naturlyrik angesichts einer permanent in der Welt, also auch in ihr, der mäandernden Naturlyrik wirkenden menschenverachtenden Flüchtlingspolitik. Ah okay, sagte ich, das sind ja jetzt große Themen, ich dachte, es ginge um so was wie Innerlichkeit, die nicht mehr weiter weiß und deshalb zum Gedicht würde, also ein Rest wäre von etwas, das nicht aufginge in klarer Tageslichtsprache. Naja, machte er, es geht schon auf, aber unverständlich, also total klar, aber vollkommen aus der Welt gefallen. Versteh ich nicht, du bist doch auch in der Welt, wie kann dann das, was du äußerst, rausfallen? Sei das nicht konstruiert, um ein gutes Gefühl zu haben? Das sei doch emo, so Neunziger, also ich bin verfangen in der Melancholie, dann muss es die Welt auch sein, und das Rausfallen besonders, Verschrobenheit als Prinzip, also aus Prinzip. Was denn sonst, raunte er ernst, aber zugleich auch lethargisch. Sag mal noch ein Gedicht, bitte, sage ich plötzlich und sehe, wie das Essen auf den Tisch gestellt wird. Na gut, ich hab hier, sagt er, noch eins, das ein unverwüstliches Englisch mit sich führt. „three digital clicks // ich lade dich ein / LET YOU CHANGE / THE PLACE WITH ME sagt der / schwarze händler der zwanzig hüte / zwanzig tücher zwanzig brillen // zwanzig leeren handyhüllen und / dass der vater in der heimat / tot ist YOU CAN SEE? vier frauen / ohne mann im haus die warten // godot verkauft im schatten babylons / auf himmelblauen strandkleidern / die siebgedruckten götter / senegals an einen russen.“ Da versteh ich die „clicks“ nicht, sagte ich nach einer Pause, aber er redete weiter, „familienalbum“ zum Beispiel sei ein Kapitel, das die Grabungen in den Ablegern und Ablagerungen der eigenen Familie vertiefe, es sei ein Versuch, Lesarten der eigenen Kindheit um deren Landschaften und Protagonisten zu bauen, weniger als Kulissenschieber, sagte er, denn Archäologe, der das Recherchemoment nutze und auch tendenziell narrative Sprechweisen miteinbeziehe. Gebe es überhaupt etwas anderes als narrativ? Ich frage, als würde mich das alles etwas angehen, dieser Mensch und sein mir vollkommen gleichgültiges Manuskript, für das er sowieso keinen Verlag finden wird, dachte ich mir. Wäre das dann das Lyrische? Und falls ja, worin bestehe dann der Unterschied? Ach ja, meinte er und wischte alle Fragen weg wie den Kondenswasserfilm vom beschlagenen Spiegel, ich muss los, hier, er reichte mir einen zusammengefalteten A4-Ausdruck. „familienalbum // onkel otto war blind, granatsplitter / aus weltkrieg eins, ist gewandert, / hatte zwischen fluss und meer / ein zimmer am markt, las in blinden- /schrift u. a. balzac. ist zu sehen / auf einem foto von einundachtzig / an seinem eichenlaub-schreibtisch / im frühjahr bevor er in einem greifs- / walder krankenhaus starb.“

 

Marcus Roloff