Sauber abgewischte Gedichte. Zu Peter Orlovsky

An Peter Orlovsky, geboren 1933 in New York als Sohn eines russischen Weißgardisten und einer ebenfalls schreibenden Amerikanerin aus Yonkers, gestorben im Bundesstaat Vermont an einem Frühsommertag 2010, entdeckt vor einundzwanzig Jahren in einem Antiquariat in der Berliner Kollwitzstraße, hatte ich mich eine Zeitlang nicht rangewagt. Und das in erster Linie deshalb, weil mir sofort das Krude aufgefallen war, seine lustige Rechtschreibung. Gleich beim ersten Drüberfliegen ließ sie mich Rätselraten, aber ich fand das eigentlich unmittelbar großartig, weil mir diese verspielt-inkorrekte Schreibweise wie ein Code vorkam, der der Grund dafür sein mochte, dass Orlovsky noch nie in größerem Umfang übersetzt worden war. Ginsberg ja, aber Orlovsky nein; Corso, Ferlinghetti, Kerouac & Snyder ja, aber Orlovsky nein.

Und Code konnte ich, in der DDR war Sprechen nichts als Kodifizierung, Dekodierung und Antidekodierung. Diese mit den Häkeldecken- bzw. Stacheldrahtkanten der so genannten Obrigkeit quasi vernähte Gesellschaft wusste sehr genau und in allen Lebenslagen – ob im Wald beim Pilzesuchen oder im Café Pogoda beim Eisbecher – welcher Sprachtrick anzuwenden war, um etwas Gemeintes seinem Onkel-&-Tanten-Gegenüber anzudeuten, klarzumachen oder an den Kopf zu knallen. Letzteres begann mir ab zirka 8 – vor allem im atheistisch-pseudoatheistischen Verwandtenkreis – mehr und mehr Spaß zu machen, obwohl ich als Neukatholik, meine Mutter hatte sich zwei Jahre vorher selbstkonvertiert (um nicht selbsteingelagert zu sagen), immer an der Wahrung einer gewissen Blumigkeit, Seltsamkeit und Befremdlichkeit des Geredeten interessiert war.

Im Laufe der Jahre reichte es – was eigentlich? Kraft? Vergesslichkeit? euphorische Schübe? – für nur vier Orlovskysche Gedichte: „Frist Poem“, „Second Poem“, „My Bed is Covered Yellow“ und „Snail Poem“, die lagen als ewiger Entwurf vier Jahre lang in der Schublade. Hatte schon damals Lust, das komplette Buch zu übersetzen, weil ich wusste dass er unübersetzt war und nur als Geheimtipp existierte, dessen Fama sich vor allem auf diese zerfledderte Pocket Poets-Ausgabe von 1978 bei City Lights Books bezog, die ich nun in der Hand hielt. Ich hatte auch den Titel sofort, der das Klopapier fokussiert, nicht das Arschloch, das mir die schlechtere Eins-zu-eins-Entsprechung zu sein scheint. Ich brauchte dafür einen Anstoß, ich brauchte Lebenszeit & Geld und hatte weder das eine noch das andere, beklagte mich auch nicht, sondern dämmerte so in meinen anderen Projekten hin und her, um die Lebenszeit bis auf den letzten Heller durchzubringen.

Dann, Jahre später, ein Abend bei einem befreundeten Dichter, wo mir ein anderer ebenfalls befreundeter Dichter erzählte, dass sein Verleger immer wieder Ausschau nach Leuten halte, Amerikanern aus der Beatnik-Ära und Assoziiertem. Gefiel mir, hatte ja was in der Schublade, dachte gleich, am Abend selbst, daran, ihn anderntags wegen Orlovsky anzuschreiben. Daraus entwickelte sich eine enge, von Euphorie getriebene Zusammenarbeit mit dem Verleger, die über ein Jahr lang dazu führte, aus einer anfänglich kleinen Gedichtauswahl aus den „Clean Asshole Poems & Smiling Vegetable Songs“ 39 Gedichte und zwei Songs zu destillieren, um sie unter dem Titel „Sauber abgewischt“ zweisprachig herauszubringen.

Die Schwierigkeit war zunächst, in diesen fragmentarisch-erzählenden Tonfall zu finden. Eigentlich müsste er mir liegen, dachte ich, dieser völlige Verzicht auf Lyrismen, Lyrisches, obwohl er singen kann (bitte mal auf bbemusic.bandcamp.com sein „Creedmoor“-Gedicht anhören, die ersten & letzten beiden Zeilen singt er mit Holzfällerstimme, trifft jeden Ton), diese klare, erdige, immer ein bisschen ins Sperrige & Abrupte verrutschte, äußerst praktische Sprache. Diese Sprache sagt quasi ständig: Ich will eigentlich gar nicht sprechen, dachte ich, als ich ihn richtig zu lesen anfing, das was wir hier lesen, ist lediglich trotzdem da, der Rest eines Widerstands gegen das Sprechen. Das fasziniert mich unheimlich, dieses Gegenteil von Geschwätzigkeit, diese dieser Lyrik innewohnende Unwilligkeit. Das, was da ist, ist hingeknallt da, völlig uneitel. Als ich anfing mit dem Übersetzen, versuchte ich noch, seinen (bewussten?) Verschreibern eine dt. Entsprechung zurückzuspiegeln, aber das klappte nicht immer überzeugend und entsprach nicht der unbändigen Lässigkeit des Originals. Also ließ ich es und übernahm quasi nur das Spontane und Unfertige dieser sich unter anderem auf geradezu schlangestehenden Gedankenflows aufbauenden Lyrik.

Irgendwas zwischen Schlaf und Wachen erzeugt ihn, den Flow, denke ich, und gleichzeitig ist er an keiner Stelle beliebig oder nur-witzig, sondern immer gebunden an die Familien-, an die Liebes-, an die Reise-, an die Erinnerungsgeschichte, immer wird Umgebung sensorisch abgetastet und erscheint ganz ungefiltert im Text, Tiere erscheinen, Körperteile, Zähne, immer wieder Zähne, Knochen, Gehirn, Zunge, Extremitäten, der eigene Schwanz, Zwischenmenschlichkeit als Fickprodukt, Produktion von Sekret, nicht von Werten, ganz neutral, nie anrüchig, weil Anrüchigkeit ja moralische, außertextliche Direktiven voraussetzt, die keinen Schwanz interessieren, sondern das sind ganz jenseits davon, ganz eingetaucht ins Phänomen zur Sprache kommende Details (wie zum Beispiel unter dem Aspekt Tiergedicht extrem eklatant im „Snail Poem“, das sich auf die Perspektive einer Schnecke zurückzieht und alles Äußere zum Inneren macht bzw. wie bei der Laser-OP mit Chirurgenwerkzeug von innen her betrachtet, was gemeinhin nur von außen bekannt ist), das Innenleben in psychiatrischen Anstalten, seine an Schizophrenie erkrankten Brüder, die alkoholkranken Eltern, das heißt nur die Mutter, Vater als Nebenfigur, Gekiffe in Paris, Aktmalerei, das durch Heroin lädierte, lahmgelegte Bewusstsein, und natürlich Allen Ginsberg, den er feiert und als das rundere Gesamtpaket auch beneidet, vielleicht sogar hasst, aber im Gedicht immer auch als Papa, Papaersatz, Mentor, das größere Wunderkind auftreten lässt. Im Gedicht „Ich & Allen“ heißt es: „Erkenne eine große Kluft zwischen mir & Allen – er / hat ein eher verbales Bild von Poesie – / verbindet Bilder, um Erkenntnis / zu untergraben, die eine Leiter / in die Höhen der / Erkenntnis hinaufführt – / ich werd high durch Gefühl / & Gefühle für noch reinere / Gefühle oder so was / in der Art.“

Ja, sowas in der Art, kann demnächst bestellt werden.

 

Marcus Roloff