Synoptische Synopse des Czollek-Martynova-Disputs

Nun hat also Max Czollek den vermutlich auch nicht als Fehdehandschuhe gedachten Beitrag Martynovas in der FAZ tatsächlich nicht aufgenommen und stattdessen, wenn auch anders etikettiert (nämlich als „Antwort“), seine eigene Position vorgestellt. Das hat einen Vorteil und einen Nachteil. Der Vorteil ist, dass er ruhig und, geht man von seiner Position aus, sachlich bleibt. Und den Nachteil, wie ihm genau deshalb (weil es ihm selbst eine Antwort scheint) wohl nicht aufgefallen sein wird, dass er auf die kritisierte Position gar nicht wirklich, oder nur sehr unzureichend eingeht und sie sogar ein wenig entstellt.
So steigt er schon mit einem klassischen Strohmann in die Diskussion ein. Das Argument derjenigen Gegner der „Gomringer-Entfernung“, die überhaupt ernst zu nehmen waren (lassen wir also die medialen Banalitäten hier weg) war keineswegs, dass „Kunst (…) nicht im Kontext gesellschaftlicher Debatten gelesen werden (darf). Wer ein Gedicht in einen gesellschaftlichen Kontext stelle, habe Lyrik nicht verstanden.“ Sondern eher, dass dies nicht die alleinige, zensurbegründende Lesart sein darf. Bei aller Einsicht darin, dass eine Gegenposition schon immer eine andere Auffassung der widersprochenen Position beinhalten muss, ist dies doch ein wichtiger Zusatz, den Czollek hier weglässt.
Anschließend versucht Czollek seine Argumentationsfigur auf einer rekonstruierten und in erweiterte Zusammenhänge gestellten, aber eher unterstellten, denn analysierten Auffassung Martynovas von dem, was Sprache sei, aufzubauen: 
„Die Idee einer übergesellschaftlichen Literatur ist überhaupt eine ziemlich deutsche Vorstellung“ resümiert er diese Ausführungen. Das wiederum ist eine eigenartige Vorstellung von den Vorstellungen anderer Literaturen. Die monierte Position der Übergesellschaftlichkeit findet sich zum Beispiel in Russland noch wesentlich stärker (was erklären mag, warum Martynova tatsächlich von ihr beeinflusst sein könnte). Die Verweise auf die Nachkriegsliteratur sind somit zwar interessant, aber tun kaum was zur Sache, trotz ihres plausiblen Anscheins, und haben somit eher was von Küchenpsychologie. Trotzdem ist der Aufriss an dieser Stelle spannend. Er führt zu einer durchaus konfliktträchtigen Gegenüberstellung von Bewusstsein für die Versehrtheit der Sprache contra Selbstreparatur der Sprache. Hier berührt Czollek einen neuralgischen Punkt, der sich sicherlich nicht so schnell klären lässt.
Seine Überlegungen führen folgerichtig in die Praxis: niemand wolle verbieten, aber man wolle ja auch nicht alles seinen Kindern vorlesen. Ich meine, auch das führt hier am Argument vorbei. Martynova geht es ja gerade nicht um die persönliche Lektürewahl, sondern die Eingriffe in das Werk, die es vermeintlich „lesbar“ machen.
Auch die angeführten Beispiele seiner Kolleginnen werden Olga Martynovas Befürchtungen wohl eher vermehren als verringern (was ihm wiederum gleichgültig sein dürfte; im Sinne eines „Desintegriert Euch!“ verfolgt er hier vielleicht ja auch ein, auf den Literaturbetrieb gemünztes, „Dessegregatiert euch!“). Generisches Femininum im Gedichtband! Nun ja, was soll ich sagen? Mutig wäre es, das flächendeckend einzuführen. Was anbei eine, wie ich meine, gute Lösung des Sternchenproblems wäre. Auch eine „Korrektur“ klingt, Czollek sagt es selbst, zwar respektlos, aber eben nicht gerade genial, eher naseweisisch als wegweisend. Im Gegensatz zum Beispiel zu Falkners „Reparaturen“ (Zufall, dass Martynova auch diesen Begriff benutzt? Die einen wollen reparieren, die anderen korrigieren. Wäre nicht eine dritte Position denkbar, die weder korrigiert noch repariert, sondern einfach „sein lässt“, im Bösen wie im Guten? Die die Versehrungen anerkennt und doch noch weiß, dass Lieder zu singen sind?). Und ich bezweifle auch, dass Czollek wird Gefallen daran haben, wenn Studentinnen zum Beispiel im Namen eines Erwachens einer neuen, sagen wir religiösen Bewegung seine Gedichte von der Wand wischen werden.
Auch ist einer der letzten Sätze dieses Aufsatzes fast schon als Verleumdung zu werten, wenn Czollek scheinbar unschuldig in den Raum fragt: „Es bleibt mir ein Rätsel, warum Menschen diesen Respekt so vehement verweigern“, hatte doch Martynova genau diesen Respekt zumindest deutlich verlautbaren lassen (und auf wen sonst soll man das beziehen, wenn sein Aufsatz unter „Antwort auf Martynova“ firmiert?) – und da sollte man Martynova zumindest erst einmal ernst nehmen, bevor man ihr lautere Motive ohne Angabe von Gründen in Abrede stellt.
Ich hatte von dem geschätzten und klugen Autor Czollek mehr erwartet. Vielleicht war doch eine nur mühsam unterdrückte Wut im Spiel? Würde das Martynovas Annahmen von der Gewalt, die im Spiel ist, bestätigen? Ich bin mir nicht sicher.
Doch habe ich ein Argument besonders vermisst. Olga Martynovas Auffassung, Sprache könne sich selbst reparieren, ist nicht nur ein frommer, nicht nur ein unwahrscheinlicher oder utopischer Wunsch, wie sie selbst andeutet, sondern einer, der aus einer fast nostalgischen (und mir darum durchaus sympathischen) Haltung heraus Wesentliches an der Sprache verkennt. Was sich in diesen Worten ausdrückt, scheint mir fast ein Glaube an ein geheiligtes Original zu sein. Irgendwann repariert sich das Wort, so dass wir es wieder gebrauchen können wie einst der Dichter es gebraucht hat.
Doch Sprache ist nicht nur immer im Wandel, der Wandel ist das, was Sprache wesentlich antreibt und ausmacht: „Antreiben“ und „Ausmachen“: es treibt immer Neues hervor und Altes stirbt. Wir werden Benjamin nie wieder so lesen könne, wie er damals gelesen wurde, das ist aber auch gar nicht so wichtig. Denn genau das wäre kein Lesen mehr, sondern ein Repetieren. Benjamin muss stets neu geschrieben werden. Deshalb ja rief Mandelstam aus: Die großen Dichter haben noch gar nicht gelebt. Deswegen sind auch Eingriffe durchaus kein Sakrileg. Wie Czollek andeutet, könnte man damit Benjamin durchaus mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen, als wenn man an einem „Originaltext“ festhielte. Das Problem, dem man sich dabei freilich stellen muss, ist, dass somit die Genese der Texte verwischt, womöglich unkenntlich würde. Der historische Kontext würde zwar allseits verträglich und biologisch wiederverwertbar, sein Gift abbaubar, seine verstörende Kraft der Verfremdung und Eröffnung anderer Perspektiven aber zurechtgestutzt.
Es geht aber eben gar nicht um ein Entweder-Oder. Was spricht eigentlich gegen den einfachen Gedanken, mehrere mögliche Texte Benjamins (oder Pipi Langstrumpfs) „synoptisch“ nebeneinander zu stellen, sie sich vermehren und vervielfältigen zu lassen. Lasst Tausend Pipi Langstrumpfs blühen, könnte man ausrufen. Und dann können fröhlich mit der jeweiligen, „einzig legitimen“ Ausgabe die Vertreter des jeweiligen Lagers auf der Oberbaumbrücke in Berlin (wo alljährlich, nur zur Erläuterung, ein Clash of Kiez mit faulem Obst stattfindet) aufeinander losgehen!
Das würde tatsächlich ein buntes Bild voller Differenzen ergeben („zu bunt“?).
In dem Wissen, das eine solche, Zizek mimend, hegelianisch vermittelte Position keine Anhängerinnen finden wird, begebe ich mich an dieser Stelle in die Aufhebung.

Hendrik Jackson