Florian Neuner – Der Mond liest Klopstock

Gerhard Falkner versteigt sich in glazial geprägten Landschaften

Seit einigen Jahren erfreuen sich Bücher, die sich mit Flora und Fauna befassen, stark zunehmender Beliebtheit. Sogar die Naturlyrik erlebt ihre Wiederauferstehung, auch wenn sie nicht mehr so genannt wird. Literarische Naturkunde wird neuerdings unter dem weniger verstaubt klingenden Label Nature Writing verhandelt. Auf diesem Feld meldet sich Gerhard Falkner mit seinem Gedichtband Schorfheide zu Wort – und zwar, wie wir es von diesem Autor kennen, äußerst ambitioniert, um nicht zu sagen überambitioniert. Denn obwohl Falkner in seinem »Schlusswort« zutreffend feststellt, daß »die Metapher ermüdet« ist und eigentlich nicht mehr zu gebrauchen, scheint er in seinem formal wie inhaltlich sehr heterogenen Buch streckenweise das genaue Gegenteil beweisen zu wollen, um dann schon auf der nächsten Seite wieder in einem metapoetischen Gedicht von der Unmöglichkeit dieser Unterfangen zu handeln.

Falkner schreibt in seinem »Schlusswort« auch: »Die Natur wird als Zeichensystem aufgefasst.« Die Natur ist aber kein Zeichensystem, allenfalls ist sie eine Projektionsfläche, auf die der Dichter z. B. das Walten eines Gottes, die Vergänglichkeit des Lebens, das Erwachen der Liebe oder was auch immer projiziert. Für sein »postmodernes Update« der Naturlyrik hat Gerhard Falkner sich die Schorfheide – ein wasserreiches Waldgebiet im nordwestlichen Brandenburg, Jagdgebiet und Ziel für Berliner Stadtfluchten – als Projektionsfläche ausgesucht. Der Großteil der 80 Gedichte ist identisch mit »Schorfheide« überschrieben. Das soll wohl heißen: Es handelt sich um Dutzende Annäherungen, Betrachtungen derselben Sache. Nun bleibt der Autor allerdings nicht geduldig, insistierend, variierend bei seinem Motiv, wie die Serie der titelgleichen Texte vermuten lassen könnte. Er springt vielmehr unausgesetzt von einem Bild, einem Ansatz, einer formalen Idee zur nächsten. Mal fallen die Zeilen locker, mal sind die Gedichte syntaktisch und/oder rhythmisch fester gefügt, mal bestehen sie aus mehreren Strophen, mal nicht, mal wird gar mit Reimen gearbeitet. Falkner spricht von einer »Methode« des »Abklopfens von Landschaft nach poetischen Informationen«. Das klingt zunächst schlüssig – und ergibt doch keinen Sinn. Denn die Landschaft enthält keine »poetischen Informationen«, wenn sie niemand in sie hineinträgt.

Zunächst verwundert, wie exzessiv Falkner mit Genetivmetaphern arbeitet – teils mit sehr konventionellen (»Blutstrahl der Sonne«, »düstere Beats der Gedanken«), teils mit recht bemühten, bis an die Grenze zur unfreiwilligen Komik und darüber hinaus (»Im Bierzelt des Sommers / hocken die Frösche am Wasser«). Häufig begegnen wir auch Fügungen wie »Grammatologie der Entwässerungsgräben« oder »Schaltkreise des Himmels«. Durch die Kombination von Landschaftsbeschreibungen mit Begriffen aus Theorie- und Fachsprachen wird die Autoreflexivität dieser Gedichte allerdings mehr simuliert als tatsächlich eingelöst. Denn betrachtet man die Bilder genauer, so ergeben sie meist keinen nachvollziehbaren Sinn. In diesen Zusammenhang gehört auch die sich durch den ganzen Band ziehende Strategie, Naturbilder und Begrifflichkeiten aus der Sphäre des Lesens und Schreibens ineinander zu führen: Da ist dann vom »Unterholz der Zeilen« die Rede, dampfen Wasser »in dämmernden Alexandrinern«, wird »in den Pfefferminzen gelesen«. Zeilen werden »flügge«, Zeichen sprießen »klar« und »kräftig«. Alle lesen einander im postmodernen Zeichenwald, der Mond liest Klopstock, der Käfer Kafka.

Ein Gedicht beginnt: »Die erste Zeile ist der Wald / der Himmel seine Überschrift«. Auch dies wieder ein Bild, das suggestiv die Natur als Zeichensystem zu inszenieren sucht. Zunächst besteht die Analogie in einer räumlichen Beziehung – die Überschrift über der ersten Zeile. Wo aber wäre die zweite, die es doch mindestens auch noch geben muß, wenn explizit von einer ersten die Rede ist? Falkner hält sich damit nicht länger auf und bricht, wie an vielen Stellen, das Naturbild abrupt und plakativ mit Verweisen auf Zivilisation und (digitale) Kommunikation: »Nirgends ist Ruh / Die Zeichen und Stimmen / von Twilight und Twitter / tönen hinzu«. Dieser Autor allerdings geht als Autor keineswegs unter im Zeichengestöber. Er zeichnet sich mit kräftigen Strichen als wahrnehmendes und reflektierendes Subjekt und als poeta doctus (»ich schlage die Hände über dem Kopf / zusammen, weil sich so viel Droste in mir angesammelt«). Und er versteigt sich immer wieder zu Sentenzen, die den Leser mit dem Eindruck zurücklassen, beim »Abklopfen« der Landschaft entweiche vor allem heiße Luft: »Das Ende der Schrift entziffert sich in der Natur«.

Florian Neuner