Fragmentarische Eindrücke zu „Orchidee und Technofossil“ (Daniel Falb)

Der erste Eindruck ist der, Artefakte einer Festplatte zu lesen, Fragmente von Sinn. Damit einhergeht ein spontanes Gefühl von Überforderung. Natürlich ist es begleitet von dem Einwand, diese sei mir nicht erlaubt, denn sie disqualifiziert mich.
Gedankenexperiment: Eine echte beschädigte Festplatte (als Fundstück) würde mich nicht überfordern, sondern Neugier wecken. Vor vier Wochen habe ich auf dem U-Bahnhof Mehringdamm eine SD-Karte gefunden, 8 GB. Bis heute habe ich es nicht gewagt, mir den Inhalt anzuschauen, vorgeblich aus Angst vor Viren, in Wahrheit aber eher, weil ich die Enttäuschung fürchte, dass sie etwas Banales enthalten könnte. Sie ist eine Blackbox, eine Wunderschachtel mit allen Welträtseln. Oder eine Kiste der Pandora?

Eine Blackbox ist „Orchidee und Technofossil“ keineswegs, denn ich kann hineinsehen. Was mich beim Lesen behindert, ist mein Lektorenblick. Normalerweise ist es mein Job, Texte mit allen Mitteln clean zu bekommen. Diese Texte wollen das Gegenteil von clean sein. Beim Layout frage ich mich, ob das wirklich der endgültige Zustand ist. Dann wäre es ein Anti-Layout.

Zurück zu dem Gedanken der Artefakte: Ein Paradoxon besteht darin, dass Artefakte hier vorgetäuscht werden. Das Material mag irgendwoher kommen, aber Falb trifft die Auswahl. Damit entsteht ein Effekt, der mich an die Bilder von Anselm Kiefer erinnert: Patina wird vorgetäuscht mit Mitteln der Bühnenbildnerei (Gips, Gaze). Ich kann diese Texte nicht mit der gleichen Entdeckerlust anschauen, wie ich Klowände oder S-Bahn-Graffiti anschaue. Warum? Weil Falb schon die Auswahl getroffen hat – und damit darüber bestimmt, was hier Kunst (Lyrik) sein soll. Aber vielleicht würde er sagen, es gab gar keine Auswahl?

In den Passagen, die vorgeben, dem normalen Textstandard zu folgen, finde ich Rechtschreibfehler: „das Pariser Centre-Georges Pompidou“ (statt: Centre Georges-Pompidou, S. 2). Ich habe den Verdacht, dass diese Fehler nicht gewollt sind. Andererseits: Was würde das beweisen? Und was bedeutet hier überhaupt „Fehler“? Vermutlich hat Falb für jeden Fehler eine Begründung, und wenn er keine hat, ist das die Begründung. S. 6. fällt mir auf, dass der Beginn einer Zeile („Übergibt“) plötzlich feierlich groß geschrieben wird, obwohl es ein Verb ist und Großschreibungen sonst nur bei Substantiven vorkommen:
„Alpen. Svalbard Paem übergibt sich heftig in eine Felswand. Svalbard
Paem übergibt sich in ein Gesicht. Svalbard Paem
Übergibt sich in einen Wasserfilm, wo unten,“ (…)

Die Vermischung von Wissenschaft und Poesie: Benn, Grünbein. Mich erinnert das aber noch an etwas anderes, nämlich an die Experimentalfilme von Vladimir Kobrin. Auch das Wahnhafte, das Größenselbst (S. 27: „Ich lege das Alter auf 13.789.211.963 Jahre fest“). Es gibt einen Kobrin-Film mitStimmen von Insassen sowjetischer Irrenanstalten (Interviews), im Ton ähnlich. Sie lösen Welträtsel oder geben Marschbefehle, wobei die Sprache, die sie benutzen, die der sojwetischen Gesellschaft ist.

Ich ertappe mich dabei, die Berechnungen auf S. 27 ernst zu nehmen. Aber was heißt ertappen? Wäre das Gegenteil nicht angemessener?
„(vgl. Langergraber et al., S. 15717)“ Ich überlege, ob es Langengraber et al. tatsächlich gibt, weil die hohe Seitenzahl mir eigenartig vorkommt. Eine Recherche im Netz zeigt, dass der Artikel existiert und die Seitenzahl stimmt, denn es ist eine Fachzeitschrift mit fortlaufender Paginierung. Im Grunde habe ich das erwartet. Ein glaubwürdiger Fake wäre schwieriger zu inszenieren als etwas zu nutzen, das existiert.
S. 46:
„Ökologische Schulden gibt es nur, wo es Leute gibt, die
wissen, dass sie Gläubiger sind, und in der Lage,
die Schulden einzutreiben.“

Bei diesem Satz habe ich den Verdacht, dass er hineinkopiert ist. Ich google ihn, finde aber kein Ergebnis. Der Satz ist essayistisch. Irgendwie finde ich ihn modisch. Im Grunde könnte Robert Habeck das sagen oder sogar Precht. Absicht?
S. 9:
„einen Licht-Raum-Modulator von
Moholy-Nagy.“

Ich prüfe das. Ja, das Ding von Moholy-Nagy hieß tatsächlich „Licht-Raum-Modulator“ ( 1930). Warum suche ich eigentlich Fehler? Würden sie etwas beweisen? Zumindest wäre es komisch, wenn der „Licht-Raum-Modulator“ von Schwitters wäre. Aber auch dann wäre das Gedicht nicht „falsch“, denn
es könnte ja Absicht sein. Meinetwegen, aber hier lauert tatsächlich ein Problem: Beliebigkeit. Eigentlich kann Falb alles machen und ich muss es gut finden, weil er Falb ist. Aber sind wir nicht alle Falb? Ich ertappe mich dabei, ständig zu googeln, zu recherchieren. Ist das ein Gedichtband, den man nur mit Smartphone versteht? Setzt er das Netz voraus? Ein Blick zurück auf den Titel: „Technofossil“ deutet eine technische Komponente an. Ein Bekannter hat über die Atonalität alter Spielekonsolen promoviert und nachgewiesen, dass der schiefe, nicht wohltemperierte Klang das Ergebnis zu geringen Speicherplatzes war. Hat das etwas mit Falb zu tun?

Einer meiner derzeitigen Lieblingsgedanken ist es, dass die verbreitete Denkfigur, dass irgendjemand mal in hundert Jahren wissbegierig auf die Moderne zurückblickt und dann alles entschlüsselt, was uns unverschlüsselt geblieben ist, eine Gegenwartsprojektion ist. Wir gucken so zurück, nur wir, schon jetzt. Nicht die Zukunft. Die Zukunft hat anderes zu tun. Das Artefakt ist die Gegenwart. Wir sind lebende Fossilien, und der Begriff „Fossilie“ selbst ist Gegenwart. Vermutlich hat es nie Quastenflossler gegeben und natürlich auch keine Neandertaler. Alles Konstruktionen. Meint Falb das? Wohl kaum. Deine Gedanken springen wieder über das Feld wie Hasen.