Gerhard Falkner – Baumfällen

Zur Phänomenologie des Niedermachens in der deutschen Literaturkritik am Beispiel Michael Brauns und des Bandes Lyrik von JETZT

Vor 20 Jahren, Anfang der 1980er Jahre, sollte im damals literarisch noch sehr renommierten Darmstädter Luchterhand Verlag in der Sammlung Luchterhand ein Band mit dem Titel Gegenschlag – die Literatur kontert die Kritik erscheinen. Im Einladungsbrief, der an fast alle deutschen Autoren ging, die zur »Literatur« gerechnet wurden, war darauf hingewiesen worden, dass weder Racheschreiben noch Wutprosa erwünscht wären, sondern brillante Demontage falscher Attacken. Wir hatten uns höchstens die Bosheit Heinrich Heines oder das Skalpell Nietzsches an den Abszessen falschen und faulen Argumentierens gewünscht. Aber was heißt hier höchstens und wie falsch wäre erst mindestens. Das Unternehmen scheiterte an der blamablen Uncouragiertheit deutscher Autoren. Lieber blieben sie beim Bellen hinter dem Zaun, als Zähne zu zeigen gegen miese Tritte. Wäre es denn darum gegangen, die Hand zu beißen, die den Autor füttert? Dies ist eine schwierige Frage. Inwieweit hat der Kritiker Anteil daran, dass der Autor zu fressen hat und nach welchen Maßstäben entscheidet er, ob er den Hund streichelt oder züchtigt. Sein Anteil am Erfolg eines Buches ist sicher erheblich und im Zuge von immer größerer eigener Meinungsrückbildung tendenziell zunehmend. Kritiker beeinflussen den Kurs eines Buches, auch wenn sie ihn nicht ausschließlich bestimmen. Die Verlage zahlen strenggenommen nur die Kursanteile aus.

Aber worum geht es eigentlich?

Es geht darum, dass in Deutschland in der Literaturkritik eine Distanzlosigkeit bis hin zur persönlichen Beleidigung und Verbalinjurie gegen Autoren an der Tagesordnung sind, für welche die Täter weder über die Provenienz ihrer Urteilsfindung noch über das verhängte Strafmaß an irgendeiner Stelle Rechenschaft ablegen müssen. Auf keinem Gebiet gibt es wohl so viele »unfachgemäße« Kritiker wie in der Literatur. Aber auch die »fachgerechte« Kritik leidet unter ziemlichen Missständen. Neben Süßholzgeraspel, Gedankenflucht oder Gedröhne grassiert ein von den Medien protegierter Beißzwang, von dem besonders Menschen mit ungeordnetem Selbstbewusstsein und schwacher persönlicher Präsenz bereitwillig Gebrauch machen.

Man muss sich das vorstellen, jemand, der weiter nichts angerichtet hat, als ein womöglich mittelmäßiges Buch geschrieben zu haben, was neben einer so bedauerlichen wie weitverbreiteten Selbstüberschätzung trotz alledem oft ein respektables Stück Arbeit bedeutet und jedenfalls kein Verbrechen darstellt, muss damit rechnen, neben gellendem Hohn infamste persönliche Beschimpfungen einstecken zu müssen. Bei diesem Vorgang muss der Kritiker keinerlei Nachweis von Zuständigkeit oder Rechtschaffenheit erbringen; seiner Phantasie aber, dem Autor Namen zu geben und Niedrigkeiten zu unterstellen, sind keine Grenzen gesetzt.

Intelligente Schriftsteller lernen daher sehr schnell, ihre Kritiker ins Trockene zu bringen, und für die meisten bildet dies inzwischen, neben dem Schreiben und einer betriebsmäßigen Hyperemsigkeit, die Hauptbeschäftigung. Eine höchst einflussreiche Dame im deutschen Literaturbetrieb sagte mir einmal, sobald man sie alle persönlich kennt, schadet einem kaum noch einer. Sie allerdings alle persönlich zu kennen setzt wirklich eine Rossnatur voraus, und viele, die diese Prozedur hinter sich haben, haben dann zwar ihr Auskommen, aber keinen Funken Leben mehr im Leib und keinen Funken Anstand. Von ihnen bleibt nichts außer einem Säuseln.

Für beide Seiten, vor allem aber für den Kritiker, ergibt sich aus »Bekanntschaften/Freundschaften« mit Autoren das Dilemma, nur um den Preis der persönlichen Integrität eine Gemeinheit begehen zu können. Die Zeitung aber lebt von Gemeinheiten, besonders, seit sie zu den Medien gehört, und die Literaturgemeinde liebt sie, also müssen die Gemeinheiten, auch im Interesse der Karriere, begangen werden. Man sitzt gemeinsam beim Wein, führt ein gepflegtes Gespräch und vernichtet anschließend den Autor. Kritiker mit schwachen Nerven schützen sich vor diesem Szenario, indem sie befreundete Autoren im logischen Unschärfebereich kritisieren und ihr Mütchen an Autoren kühlen, mit denen sie nicht oder nur sehr ferne in Berührung stehen. Vielleicht erkennt man gerade deshalb in einem Publikum die Kritiker immer sofort an den leicht eingezogenen Schultern und dem etwas schief gehaltenen Kopf, kurz gesagt, am Geduckten, weil sie, so ungeschützt der Öffentlichkeit und womöglich den von ihren Beleidigten ausgesetzt, fürchten mögen, Prügel, die sie so gerne austeilen, könnten auf sie zurückfallen.

Dabei gäbe es durchaus die schöne Möglichkeit, ein Buch zu kritisieren, was hieße, ihm aus einer ausgewiesenen Sicht seinen Rang zuzuweisen, ohne seinen Autor als Mensch zu verunglimpfen. Sozusagen das Buch, wenn es misslungen ist oder unbedeutend, hinter dem Glanz der Kritik erst verblassen und dann verschwinden zu lassen. Überlegene Beweisführung statt Invektive. Mit Behutsamkeit die Schwächen zerlegen, damit diese in ihren Zügen erkennbar bleiben und nicht bloß Matsch zu hinterlassen, der seinen Beweis, ob es Mist war, schuldig bleibt. Schließlich gilt es ja, das Buch zu verreißen, und nicht den Autor.

In dem eindrucksvollen Buch Der grausame Gott, einer Studie über den Selbstmord, schreibt Alvarez in seinem Kapitel über Sylvia Plath: »Da ich für den Observer regelmäßig Lyrik besprach, verkehrte ich wenig mit Schriftstellern, Bekanntschaft mit denen, die ich rezensierte, schien all zu viele Schwierigkeiten zu machen: Nette Menschen schreiben oft schlechte Verse, gute Dichter können Ungeheuer sein, in den meisten Fällen waren beide, sowohl der Mensch, als auch sein Werk, scheußlich.« Dem kann man wohl im Großen und Ganzen zustimmen.

Wenn es um Prosa geht, um Romane, um etwas, für das viele Leser potentiell bereitstehen, dann erfindet die Zeit Möglichkeiten gegen die Ungerechtigkeit, dann berichtigt sich das Falsche durch das Richtige oder der jetzige Irrtum durch die spätere Einsicht, dann kann das, was zuerst viele begeistert, gegen das, was anfangs nur wenige begeistern konnte, auch ausgetauscht werden, wenn die Wenigen einfach den besseren Blick hatten, was der Normalfall sein dürfte.

Wenn es um Lyrik geht, ist das schon entschieden oder sogar unvergleichlich viel schwieriger, besonders natürlich in Deutschland, wo einfach der Respekt fehlt, und erst recht, wenn dann auch vom Verstand nicht viel da ist. Ich weiß, dass dieser letzte Satz grammatikalisch nicht einwandfrei ist, aber ich mag ihn so, gerade deshalb. Die Lyrik, ein literarisches Mikroklima im Schatten der breiten Kulturmassive, ist inzwischen schon beinahe ein selbstreferentielles System, was heißt, es organisiert sich weitgehend ohne Bezug auf Außenpositionen und ist wegen des Mangels großer, konkurriender Kontingente manipulierbar wie die Hölle. Wichtiger, als den Faden für die Poesie nicht zu verlieren, ist es, die Fäden des Betriebs in der Hand zu halten. Aus dem Hexenkessel berichten dann die dominanten Figuren, unter ihnen die Kritiker, wer gerade die besten Texte mixt, und kassieren dafür 50% vom spirituellen Erfolg. Der Einfluss wird durch Autorenhäufung ausgebaut, ein Vorgang, an dem die Kritik langsam verspeckt. Die Eifrigen, Glatten, Geschäftigen und Einflussreichen dominieren aus diesen Gründen die Leisen, Sperrigen und erst recht die Unzugänglichen.

Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass es problematisch ist, eine Kritik zu kritisieren.

Eigentlich gibt es nur zwei Umstände, die dies rechtfertigen. Erstens, wenn anhand der Kritik einer Kritik strukturelle Fehler oder bewusste Falschstrategien aufweisbar sind, welche sich auf dem jeweiligen Gebiet, in unserem Falle der deutschsprachigen Lyrik, durch den Einfluss des Kritikers fortzusetzen drohen; zweitens, wenn der kritisierte Gegenstand nicht nach nachvollziehbaren oder zumindest ausgewiesenen Kriterien analysiert wird, sondern offensichtlich aufgrund einer narzisstischen Kränkung oder Gekränktheit attackiert wurde. Beide Umstände scheinen mir in Michael Brauns in der Basler Zeitung und anderswo erschienenen Kritik an Lyrik von JETZT gegeben.

Bevor ich auf die einzelnen Punkte eingehe erst einmal einiges Grundsätzliches zur Lyrikkritik. Wir haben es beim Gedicht mit einer nicht nur gedemütigten, sondern auch mit einer demütigenden Kunst zu tun. Volle Kraft für keinen Lohn. Nur die Ehre ist der Sold, wollte man über etwas spotten, was nichts als beschämender Ernst ist. Lohn kommt nur aus allem, was nicht eigentlich im Geschäft des Dichtens liegt, kurz gesagt, aus Beziehungen. Allein dieser Umstand, vom riskanten Emotionsgitter, das die Dichtung fordert, noch gar nicht geredet, müsste ein bestimmtes Zartgefühl oder eine Spur von Respekt und Redlichkeit in die kritische Auseinandersetzung bringen. Es ist meine feste Überzeugung, dass kein Gedichtband so schlecht ist, dass er persönliche Beleidigung oder jenes Gemisch aus Hass und Hohn verdienen würde, in das manche Kritiker entgleisen. Schlechte Gedichtbände kann man auch mit freundlichen Worten ins Vergessen befördern. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, sollte die einzige Strafe für ein unnötiges Gedicht seine Nichtveröffentlichung sein.

Nun ist leider jenes eingangs angeführte Argument, dass es nicht als opportun gilt, eine Kritik zu kontern, auch der Grund, dass so viele Kritiker sich in der trügerischen Ansicht wiegen, zu Recht richtig satt vom Leder gezogen zu haben, und sich bestätigt halten von der Stille, die ihrem Angriff folgt. Die im allgemeinen eingehaltene Reglosigkeit der Angegriffenen bewirkt, dass die Kritiker quasi nie von den Argumenten der Betroffenen schikaniert oder vom Einspruch der Autoren zu mehr Selbstkontrolle erzogen werden. Dadurch werden sie, was sie im Grunde ja sind: rechthaberisch wie die Lehrer – Besserwisser, die übersetzend, verständlich und trotzdem konfus, davon berichten, was auf den Streckbänken der Dichtung für Laute ausgestoßen werden.

Das zweite Übel ist die Hilflosigkeit, mit der die Literaturkritik insgesamt neuer Lyrik im allgemeinen gegenübersteht. Ein Übel, dem abgeholfen werden könnte durch Bildung, Begriffsbildung wie Bildbildung. Durch ein Einüben in die Sprache des Zeitgenössischen. Das Zeitgenössische ist allerdings nur sehr bedingt in den sogenannten experimentellen Avantgarden zu finden, denn die Avantgarden waren die Sprachmaschinen des Industriezeitalters – in diesem aber leben wir nicht mehr, wir leben im Informationszeitalter, also liegt alles wirklich Zeitgenössische in der Verknüpfung, und die Avantgarden, so sie denn wirklich noch den Mut aufbringen, sich so zu nennen, sind weiter nichts als eine von unendlich vielen Verknüpfungsmöglichkeiten. Allerdings scheut sich der auf rasche Textumsetzung eingestellte Normal-Kritiker, Arbeit zu leisten für etwas, das sich mit Sicherheit nicht auszahlt, und genau dies vertieft die Kluft zwischen Dichter und Kritiker immer mehr.

Was aus alledem folgt, ist der Umstand, dass auf einem Gebiet, auf dem sich kaum einer auskennt, die, die behaupten, sich auszukennen, auf so gut wie keinen Widerstand stoßen,

gesetzt, sie befolgen die Regeln und lassen die Schranzen und jene, die ihren Ruf ausschließlich ihrem Einfluss verdanken, in ihrem Wahn, große Dichter zu sein, unbehelligt, prügeln die Jungen, wenn ihnen keine anderslautenden Rauchzeichen gegeben worden sind, pflegen die Institutionen und bauen einigermaßen geschickt an ihrer Hausmacht, bestehend eben auch aus Dichtern, die in ihren Demutsbezeugungen gar keinen Halt mehr kennen, wenn ihnen der Halm der Gunst und der finanziellen Entschädigung geboten wird. Als Ersatz dafür, sich in der Sache nicht auszukennen, genügt es bis ganz weit an das eigentliche Gedicht heran, die Namen zu kennen und fallen zu lassen, was natürlich viele Autoren ermuntert, der Person deutlicheren Umriss zu geben als dem Werk. Auskennen aber würde heißen, in der Fließrichtung des gesamten poetischen Sprechens, das ich als den inneren Monolog des sich im Flusse befindlichen jeweiligen Jetzt bezeichnet habe, bestehend aus Bereits-Wahrnehmbarem und nur erst Unbestimmt-Aussprechbarem, Strömungen und Stimmen zu erkennen und ihre Kraft zu beurteilen. Auskennen würde heißen, prüfen, checken, vergleichen, hören, hören können und vor allem ein paar Funken nicht instrumentalisierten Verstandes zu besitzen und bereitzuhalten, irgendeine freie Fläche, auf die es reine Niederschläge geben kann, irgendeinen kleinen Zipfel Ernst und Echtes für diese Wohltat auf der gegenüberliegenden Seite von Spaß.

Nun aber zur Sache: Lyrik von JETZT ist ein schwacher Titel, zugegeben, vor allem, weil er als Untertitel entworfen wurde, und mit dem richtigen Titel wäre es auch der richtige Untertitel geworden, soviel zu meiner persönlichen Auffassung. Ein Buch mit einem schwachen Titel ist deswegen aber noch kein schwaches Buch.

Und die Argumente?

Zuerst einmal muss man sich fragen, welches Ziel eine Sache sich gesetzt hat, danach kann man urteilen, ob dieses gesteckte Ziel erreicht wurde oder nicht. Ist dieses geschehen, kann man sich auch mit der Frage beschäftigen, ob dieses Ziel nach eigenem Dafürhalten Sinn macht. Wohlgemerkt, ich spreche von der Kritik am Konzept der Anthologie, noch nicht von den Texten, denn bei einem Gedicht spielt es selbstverständlich keine Rolle, wonach es sich streckt, sondern was es erreicht. Bei einer Anthologie aber sollte sich niemand beschweren, wenn Äpfel versprochen waren, dass keine Kartoffeln geliefert wurden. Die Anthologie wollte alle zeigen, die in einem definierten Zeitrahmen nach Maßgabe untereinander geltender und wie ich glaube, überzeugender Kriterien einer solchen Veröffentlichung für wert befunden wurden. Das hat sie getan.

Gewiss hatte Lyrik von JETZT zwei Optionen und diese auch beide erwogen. Die erste wäre gewesen, den »Schaden« der neuesten Generation auf 30 Beispiele zu begrenzen. Der Vorteil hätte darin gelegen, dass er nicht wirklich bestanden hätte. Keine so seltene Konstruktion übrigens. Es wären dann die dreißig Namen gewesen, auf die man sich gewissermaßen von oben nach unten schon verständigt hatte. Lyrik von JETZT wäre damit den stillschweigenden Empfehlungen des Jury- und Kritikerkreises gefolgt, dessen Unabhängigkeit und Sachverstand ich an dieser Stelle einmal sehr erheblich in Zweifel stellen möchte. Das Buch hätte dann bestätigend zusammengefasst, wovon alle, die einigermaßen Überblick haben, schon gehört hatten und alle hätten ihre jeweiligen Schützlinge wiedererkannt und der gröbste Unmut wäre besänftigt gewesen.

Die zweite Option war, den vorhandenen Bestand, der ja alles andere als kriterienlos zustande kam, sondern durch zahllose Filter gegangen war und mit seinen Krokusblüten eine dicke Schneedecke bis zur Veröffentlichung durchdringen musste, zu kartographieren und damit noch jüngeren und unbekannteren Autoren die Chance zu geben, in das Ganze einbezogen zu werden und quasi von einer nächsten Ebene aus sich weiterentwickeln zu können.

Größere Bäume, kleinere Bäume, man wird sehen, was sich wie entwickelt. Verdoppelung des Angebots um die neuen Stimmen, gewählt von den bereits bekannteren Stimmen, das war der Deal. Gerade diesem Umstand verdankt die Anthologie Lyrik von JETZT eine ihrer Besonderheiten, dass da Dichter/innen sind, die noch niemand eingeordnet hat, – außer sie selbst unter sich, und gerade dem verdanken sich, das behaupte ich, auch einige ihrer besten Texte. Klar, dass sich da mancher Kritiker, ebenso wie ein ganz bestimmter Lektor, um das »Recht der ersten Nacht« betrogen fühlte.

Während nun Michael Braun das Projekt als »ästhetisch taubes Dokument« bezeichnet, was beim enormen Erfolg aller bisherigen Auftritte als wenig zutreffend erscheint, schreibt er wenige Zeilen später: »Die 74 Stimmen, die sie eingesammelt haben, repräsentieren – in quantitativer Hinsicht – durchaus den poetischen Orientierungsrahmen der jungen Lyrik-Szene, dessen Konturen bislang nur in den Zeitschriften der Szene, intelligenten Periodika wie ›edit‹, ›intendenzen‹ oder ›Die Außenseite des Elements‹ sichtbar geworden sind.« Bereits an diesem Punkte so freimütig demonstrierter Denkungenauigkeit könnte man sich die Mühe einer weiteren Analyse dieser Kritik eigentlich sparen. Da es sich aber um wirklichen Schaden handelt, der von so viel falscher Unbescheidenheit ausgeht, folgen wir ihrem logischen Schwanken zwischen Bücklingen und Fußtritten weiter.

Gerade in diesen Periodika, die generös als intelligent bezeichnet werden, sind ja alle die Autoren erschienen, über die Braun sein, wie ich ihm in der Formulierung gerne folgen würde »ästhetisch taubes« Urteil fällt. Vor allem seine bei jeder Gelegenheit geschmähte Berliner Großstadtpoesie, aber eben auch ein Großteil jener, an die sein Ohr sich noch nicht gewöhnt hat oder die er noch nicht mit einer Besprechung für sein Lager kassieren konnte und die deshalb nach seiner Meinung in so einer Anthologie nichts verloren haben. Eben die Intelligenz jener Periodika – »Lose Blätter« und »lauter niemand« vergaß er zu erwähnen – hätte diese »lyrischen Totalausfälle« doch erkennen und verhindern müssen. Da sie gerade zu anderen Urteilen fanden und diese Autoren gedruckt haben und veröffentlichten und andere nicht, waren sie Teil jener »Differenzierungsanstrengungen«, von denen nach Brauns Vorwurf die Herausgeber sich »dispensiert« haben.

Aber obwohl der Anthologie expressis verbis eingeräumt wird, ihr Klassenziel erreicht zu haben, nämlich tatsächlich, sogar in qualitativer Hinsicht, den poetischen Orientierungsrahmen

der jungen Lyrikszene umfassend zu zeigen – sogar ihre »varietätenreichen Artikulationsformen« (du lieber Himmel!) werden eingangs anerkannt – und obwohl Braun sich immer wieder verrenkt, Ovationen zu vergeben, bleibt er doch unbeirrt außerhalb der von ihm indirekt bestätigten Koordinaten und benebelt uns mit Begriffen wie »trübe Sprachrealität« und »Nivellierungswut« und »Qualitätsbereinigung nach unten« (man beachte hier vor allem auch die Richtungsangabe), ohne uns irgendwelche durch Analyse gereiften Gründe für sein abschätziges Urteil zu liefern. Er bleibt bei seiner vagabundisierenden Ablehnung.

Wenn aber, und hier komme ich zu meinem ersten grundsätzlichen Argument, eine komplette und sich selbst definierende Generation verworfen wird, dann handelt es sich nicht mehr um Literatur-, sondern um Kulturkritik. Dann heißt das, dass sich Wahrnehmungen, Maßstäbe und Zielsetzungen so stark gegen die geltenden Gütesiegel und Beobachtungskriterien verschoben haben, dass die Leitung unterbrochen ist. Dafür wäre dann nicht Michael Braun zuständig, der diesen Verschiebungen nicht folgen kann oder will, sondern ein gesellschaftlicher Diskurs allgemeinerer, etwa soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Prägung. Dann müsste geklärt werden, was die totale Kommunikation dem Gedicht raubt und was sie ihm vielleicht »Neues« schenkt.

Natürlich könnte die Tatsache, das diesem Buch von einigen Seiten so an den Karren gefahren wird, auch schlicht und einfach bedeuten, was am heftigsten bestritten wird: dass eine neue Generation da ist. Und so ist es auch.

Da Michael Braun die von unübersehbarer Wut auf die Berliner Szene überschattete Konfusion seines Argumentierens vielleicht ahnt, sucht er ständig nach fragwürdigen Absicherungen. So bezweifle ich sehr, dass Walter Höllerers laut Braun »bahnbrechende« Thesen zum langen Gedicht eine viel längere Bahn als die vom ersten Stock des Literarischen Colloquium Berlin bis vorne zum Eingangstor am Sandwerder 5 gebrochen haben. Bereits bis zu meiner Generation sehe ich keine Spur reichen, geschweige denn zur jüngeren.

Auch scheint mir das ständige Hochlebenlassen des doch oft auch ziemliches Holterdiepolter liefernden Ulf Stolterfoth – ein wie Braun sich katholisch ausdrückt: »leider zum Opfer gefallener« – neben seiner insgeheimen Pflege des Neckarkreises auch auf einer akademischen Sicht zu beruhen, die nicht wahrhaben will, dass die Avantgarden nach solchen Mustern kulturelle Antiquitäten geworden sind. Sprachen, die aus heutiger Sicht manchmal wirken wie die Wagenräder, Deichseln und Pferdejochs, die in den Vorgärten und auf den Giebeln gelandet sind, nachdem die Landwirtschaft ausgezogen ist.

Für das fatalste Eigentor der Braunschen Kritik halte ich aber (auf die Fußballsprache komme ich noch zurück), gegen Lyrik von JETZT Jürgen Theobaldys Und ich bewege mich doch ausspielen zu wollen, als eine Anthologie, die entscheidende Zeichen gesetzt hat. Für keine Anthologie, die ich kenne, gilt so sehr Brauns eingangs seiner Kritik formulierter Einwand, dass sie über keine »wirklich neuen sprachdynamisierenden Elemente« verfüge. Nirgends ist wohl auch der von Braun zitierte Satz Wapnewskis vom »Tagebuch im Stammel-Look« durchgängiger anwendbar als in dieser Rumpelbudenanthologie. Abgesehen davon, dass die »wirklich neuen sprachdynamisierenden Elemente« Schwarzwald-Floskeln sind im Stile jener besonders hübschen Formulierung, mit der Lyrik von JETZT unterstellt wird, dass sie »aus einem Juvenilitäts-Bonus ästhetische Distinktionsgewinne schöpfen will«, hätten vier Fünftel der in dieser Sammlung veröffentlichten Gedichte die Lektorate der von Braun lobend erwähnten intelligenten Zeitschriften höchstwahrscheinlich nicht passiert und damit keinen Eingang in die von Michael Braun so ungeschickt kritisierte Anthologie Lyrik von JETZT gefunden. Ich habe mir die Mühe gemacht, dieses Dokument nochmal zu studieren und kann nur sagen: Junge, Junge! Hier haben Dreistigkeit, Zeitgeist und Unbelecktheit von allem, was Dichtung so inkommensurabel macht, wirklich fröhliche Urständ gefeiert und mehr als eine Handvoll Namen, denen das Buch nichts anhaben konnte, sind aus diesem Katalog ja auch

nicht übrig geblieben. So wenig an stilistischem Vermögen und Intelligenz wie in Und ich bewege mich doch kommt in Lyrik von JETZT wahrhaftig nicht vor.

Nun zur nächsten ollen Kamelle. An den »Heroen-Glanz des lyrischen Solitärs Brinkmann«, der nun auch nach Brauns Ansicht verblasst ist, obwohl er gleichzeitig moniert, dass er ihm überall in dieser Anthologie begegnet (ja was isser nun, verblasst oder allgegenwärtig?), habe ich schon, als er angeblich noch glänzte, nicht geglaubt. Ich hab ihn eher für jene Art Enfant terrible gehalten, mit der eine gewisse literarische Stubenhockerphantasie versucht, sich selbst zu erschrecken. Uneingedenk der unverarbeiteten Tatsache, dass Brinkmann selbst

der »Traditionenzertrümmerer« nicht war, sondern Importeur amerikanischer Findungen und Schwimmer im Kielwasser von Ted Berrigan, Frank O’Hara und zahlreicher anderer Beats, denen die neue Poesie tatsächlich und zurecht großartige und verblüffende neue Fenster verdankt, verkennt Michael Braun den Fakt, dass sich aus all dem ein fester Bestand an, wie er es nennt, »Realismus« entwickelt hat, neben anderen Beständen, der als schlicht vorhandener jedes Recht auf Gebrauch genießt.

Dies immer wieder durch das Nadelöhr Brinkmann in die Diskussion eingefädelt zu sehen und nicht über die Beats selbst, ist ermüdend. Subtilere Einflüsse, wie die wieder wachsenden von Wallace Stevens oder Robert Frost und John Ashbery oder neuer wie der Paul Muldoon oder Simon Armitage, um einfach mal ein paar aus dem englischen Sprachraum zu erwähnen, werden überhaupt nicht erkannt. Stattdessen werden in bedrückender Beliebigkeit Rühmkorf,

Leonard Cohen oder Jimmy Hendrix aufgezählt und damit ein weiterer Beweis erbracht, dass der Klamauk des Kritikers hier jedenfalls größer ist als jener der jungen Dichter.

Michael Braun, von den paar unentwegt mit fragwürdigen Superlativen bedachten Schützlingen mal abgesehen, schafft es in seiner gesamten Kritik nicht, auch nur eine einzige der mindestens ein Dutzend zählenden starken und originären Stimmen zu

erkennen, die in der Hälfte der weniger oder nicht bekannten Autoren des Buches zu finden sind. Sein »Man sieht nur, was man weiß« setzt ihm da in Verbindung mit seiner etwas gusseisernen Art wohl unüberwindliche Grenzen. Leider verbietet es sich mir als Schreiber des Vorworts, in Namen zu denken. Einzige Ausnahme vielleicht die 2002 verstorbene Beatrix Haustein, die mit ihrem Gedicht Heilig Heilig fast die beklemmende Wucht großer Sylvia-Plath-Gedichte aufbringt. Keinem der bisherigen Kritiker ist sie aufgefallen und so geht es einigen der besten Dichter/innen in diesem Buch.

Um nun gewissenhafterweise noch einmal auf die Fußballsprache zurückzukommen und damit indirekt auf die Erfüllung jener Kriterien, die es rechtfertigen, eine Kritik zu kritisieren: Bereits bevor Michael Braun Lyrik von JETZT in Händen hielt, wurde von vielen Autoren mit einer Attacke »aus seiner Feder« gerechnet, so dass, was schließlich kam, auch gar nicht den Rahmen einer selffullfilling ignorance sprengte, den man bei ihm vermutet hatte. Ließ der Kritiker sich doch immer wieder vernehmen, wie zuletzt beim Leonce-und-Lena-Preis, die Berliner Szene »entzaubern« zu wollen. Eine so eindeutig vorgefasste Meinung, verbunden mit gedopter Blindheit gegen jede Qualität außerhalb sozusagen der Klientel, mit so viel sachlicher und logischer Unschärfe hätte Michael Braun wahrscheinlich auch über den Koran herfallen lassen, wenn er ein Elaborat der Berliner Szene dahinter vermutet hätte.

Aber was der Kritik an Argument, Glaubwürdigkeit und Klarheit mangelt, konnte sie ja wenigstens an Auflage wettmachen. Ebenso wie der unselige Karl Krolow, ebenfalls die Kategorie: »Einflussreich, aber gedankenarm!«, ist Braun ein Meister der Vielfachverwertung, so dass man nachfühlen kann, wenn einer der Autoren entnervt fragt, ob »mit diesem Teil wohl der halbe süddeutsche Raum vermüllt werden soll(te).«

Das bringt mich abschließend zu dem Punkt, zu bekennen, daß ich dieser Anthologie durchaus auch mit Kritik begegnen würde. Sie enthält sicher eine Anzahl von Gedichten, die ich mir nicht aufs Nachtkästchen legen würde. Sie enthält Autoren und Autorinnen, die in einer

dokumentarischen Anthologie Berechtigung haben, nicht aber in einer »Auswahl«, wie der Name schon sagt. Das ist doch klar. Nach meiner Meinung sind es aber trotzdem nur wenige, die man nicht an den Start hätte lassen sollen, denn um einen solchen handelt es sich ja für viele. Einen Bücherstart allemal. Im Gegenteil, bei Lyrik von JETZT handelt es sich zum weit überwiegenden Teil um stilsichere und intelligente Lyrik, formbewusst und unverkrampft. Gedichte, die über eine oft sehr ins Detail gehende Nervlichkeit versorgt werden mit Gegenwart. Aus dieser Anthologie werden vermutlich fast alle Namen hervorgehen, über die man in zehn Jahren sprechen wird.

Gerade dieses Buch aber könnte über die Literaturkritik hinaus Gelegenheit zu einer kulturkritischen Debatte Anlass bieten, wenn man sich denn in diesen Abmessungen zu rüsten verstünde. Durch genaue Analyse müsste geprüft werden, welchen Stand und Status Lyrik erreicht beziehungsweise nicht erreicht und warum es dieses riesige Loch in der Gesellschaft gibt, durch das sie allemal fällt. Man müsste fragen, warum es, obwohl es sich fast durchweg um intelligente, zeitnahe und sich ihrer Mittel sehr bewusste Lyrik handelt, so wenig deutlich Herausragendes gibt. Alles im oberen Bereich, aber kaum Gipfel. Gegenfrage: In welcher Anthologie der letzten 20 Jahre gab es viel Herausragendes? Als Erklärung heute würde sich anbieten, dass es sich um eine vollkommen durchkommunizierte, disziplinierte und eigentlich

brave Generation handelt, die rebellische Gesten eher zitiert als lebt. Ihre Freundlichkeit wird sie noch umbringen. Sofort müsste dann aber zurückgefragt werden, welche Umstände Wirklichkeiten schaffen, in denen das Brave und das Amüsante zwingende Erfolgsmuster bilden, und warum sich viele unter Abweichung heute höchstens noch eine andere Frisur vorstellen können. Wo steckt die Gefahr heute, wenn das Gedicht Alarm schlägt – neben Liebesdingen liegt da ja immer auch ein gesellschaftlicher Hintergrund vor. Zu welchem Sprachansatz verleitet das ja fast von allen mitgetragene gesellschaftliche Beliebigkeitsparadigma, und wie beliebig darf Beliebigkeit sein, um noch als Signal gelten zu

können und nicht bereits als Vorfall gerechnet werden zu müssen. Und dann müsste über den Charakter der Zähmung nachgedacht werden, der von Schreibwerkstätten, Literaturinstituten und dem Betrieb seinen Ausgang nimmt. Mit dem heraufziehenden Sozialfaschismus, der die Nischen für junge Dichter/innen noch weiter reduzieren wird – und somit unabhängiges Gedeihen von Eigensprachen ­–, wird eine Anlehnung an den Literaturbetrieb noch zwingender.

Der aber erwirkt eine Generalumwandlung vom Dichter zum Lyrikdarsteller und erzwingt eine für diese Kunst absolut tödliche Geschäftigkeit. Weiter wäre dann zu fragen, wie weit wir damit, dass der Dichter an den Betrieb angebunden wird, bereits eine Strecke zurückgelegt haben, die uns mit den akademischen Dichtern der USA vergleichbar machen wird, bei denen es praktisch gar keinen Bauchschuss mehr gibt, sondern so gut wie jedes Gedicht durch Kopfschuss erledigt wird. Einer Poesie des Goodwill, die es schafft, auch ohne einen Lebensfunken auszukommen. Wenn wir allerdings Erstarrung der poetischen Kraft und Verglimmen des Lebensfunkens konstatieren wollen, müssen wir erst einmal beweisen, dass wir nicht in fremden Taschen nach unseren eigenen Abenteuern suchen, schließlich war es unsere Generation, die das Abenteuer abgeschafft hat, und vielleicht vermitteln uns ja die Leidtragenden, wodurch sie es ersetzt haben.

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»Baumfällen – Zur Phänomenologie des Niedermachens in der deutschen Literaturkritik am Beispiel Michael Brauns und des Bandes Lyrik von JETZT«

Erstveröffentlicht in: Jürgen Engler (Chefredakteur): ndl – neue deutsche literatur, 554. Heft, März/April 2004, Aufbau-Verlag, Berlin 2004, S. 121 – 133.

Mit diesem Text reagierte Gerhard Falkner auf Michael Brauns Kritik Freiwillige Abstürze in die poetische Unterkomplexität: »74 Stimmen« vereinigen sich zum misstönenden Konzert einer »Lyrik von JETZT« an der 2003 von Björn Kuhligk und Jan Wagner im DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln, herausgegebenen und mit einem Vorwort von Gerhard Falkner versehenen Gedicht-Anthologie Lyrik von JETZT (siehe: Michael Braun über Lyrik von Jetzt; abgerufen am 8.6.2016).

Appendix von Gerhard Falkner zu Baumfällen – Zur Phänomenologie des Niedermachens in der deutschen Literaturkritik am Beispiel Michael Brauns und des Bandes »Lyrik von JETZT« im Mai 2016: »In der Kampfsache Lyrik von JETZT war Michael Braun der Einzige, der nicht vom allgemeinen Unrecht Gebrauch gemacht hat, sich durch nichts betroffen zu fühlen. Er reflektierte später seine brüske Ablehnung als Fehlstart, als »zu kurz gegriffen« und zog sich mit sympathischer Selbstkritik aus der Affäre. Dies eröffnete einen Dialog, während dem ich ihn mehr und mehr schätzen lernte als subtilen Dentisten, umfassenden Kardiologen und zupackenden Chirurgen. Seine raffinierten Texte zur Lyrik sind oft viel substantieller als die in ihnen Gepriesenen. Ich fühle mich ihm mittlerweile freundschaftlich verbunden und bitte für meinen damals rauhen Ton um Entschuldigung.«