‘halber Aufenthalt / wie auf fotokopiertem Schnee’ Wie Lyrikkritik und eine Anthologie junger Lyrik einander verfehlten

Die außergewöhnlich scharfe Reaktion einiger Literaturkritiker auf die Anthologie „Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen“ (2003), ein Buch, „das eine Generation komplett aus dem eigenen Boden gestampft hat“ (Gerhard Falkner), ist Anlass, den Gründen für diesen offenbar kulturell grundierten Konflikt nachzugehen. Der Aufsatz rekonstruiert den Verlauf der in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet geführten Auseinandersetzung, untersucht die von Kritikern wie Michael Braun und Sebastian Kiefer ins Feld geführten Begriffe wie „Realismus“ oder „sprachliche Avantgarde“ hinsichtlich der Plausibilität, damit Schreibansätze der jüngeren Lyrik analytisch erfassen zu können. Er befragt kritisch ein methodisches Instrumentarium, das Wertmaßstäbe innerästhetisch normativ setzt, ohne die neuen poetischen Einsätze in Bezug zu setzen zu veränderter Wahrnehmung von Welt, zu neuen kommunikativen Verhältnissen, zu Verschiebungen im Aufmerksamkeitsgefüge für lyrikgeschichtliche Traditionen.

Seltsam still war es geworden in den neunziger Jahren auf den Diskurstribünen, von denen herab einst disputiert wurde über Poetiken und Schreibweisen, über Lyrik und Gesellschaft, das lange oder kurze Gedicht, das Engagement absoluter Poesie oder wie die Schlagworte sonst noch hießen. Diese Stillstellung war durchaus bemerkt worden, unter anderem von Durs Grünbein: Nach seiner Beobachtung gebe nun eben ‘nicht mehr der Stammesepiker, der Höfling, der rasende Patriot den Ton an, jetzt spricht das einzelne lahme Untier, der Übelsänger, der Parasit. Und was er sagt, führt hier und da zu stiller Ver­zückung, vielleicht zum Duell unter Künstlern, oder es bleibt in den Spalten der Feuilletons kleben.’i Im Nachwort zu Das verlorene Alphabet. Lyrik der neunziger Jahre konstatiert Michael Braun unüberlesbare ‘Materialermüdungen’:

es dominieren die Reprisen, Rekonstruktionen, Übermalungen und kunstvollen Fortschreibungen […] Die neunziger Jahre in der Lyrik sind ein Jahrzehnt der Kontinuitäten und Ausdifferenzierungen, nicht der Brüche und Nullansagen.ii

Auch Theo Elm vertritt in seinem Nachwort zu einer Anthologie der neunziger Jahre die an Arnold Gehlens Erstarrungsmetapher der ‘Kristallisation’ angelehnte Grundthese, die Lyrik der neunziger Jahre sei im wesentlichen exzentrisch und auskunftslos, zwischen Sinnverlust und Freiheitsgewinn lebe sie sich in die ‘Entwicklungsfremdheit’ (Benn) der Zeit ein.iii

Um eine ‘Entwicklungsfremdheit der Zeit’ zu behaupten, musste allerdings das Krachen im Gebälk großgeschichtlicher Konstruktionen überhört werden. Überhört werden mussten die melancholischen bis zornigen Befunde ostdeutscher Lyriker von Heiner Müller, Karl Mickel, Harald Gerlach oder Volker Braun über die gewollte Enteignung und Entmündigung der ostdeutschen ‘Revolutionäre’, die Verwandlung ihres Landstrichs in ein weitgehend deindustrialisiertes Mezzogiorno nach 1990. Sofern nicht das zeittypische Gehör auch hier nur ein Schweigen wahrnahm, konnten derartige Unmutslaute noch mit Assimilationsschwierigkeiten oder ‘Ostalgie’ herabgewür(di)gt werden.

Am Ende der neunziger Jahre deuteten sich indes einige Veränderungen in der verkehrsberuhigten Zone an, zu der die deutschsprachige Lyriklandschaft erklärt worden war. Um neugegründete Kleinzeitschriften wie Lose Blätter, Lauter niemand, edit, Die Außenseite des Elements oder Intendenzen sammelten sich neue Lyrikerinnen und Lyriker, die sich wiederum versammelten in Clubs außerhalb der Literaturhäuser, um einander ihre Gedichte vorzulesen. Um die Jahrtausendwende war ein Heraustreten aus einer solchen Kleinöffentlichkeit überfällig geworden. Jan Wagner und Björn Kuhligk übernahmen die Zusammenstellung einer Anthologie, die ungeachtet sich abzeichnender Ausdifferenzierung jeder der ausgewählten Stimmen ein Repräsentationsfenster von vier Gedichten eröffnen sollte. 2003 erschien Lyrik von Jetzt. 74 Stimmeniv schließlich nach unglücklich verlaufenden Kooperationsversuchen mit Suhrkamp beim Kölner DuMont-Verlag: ein Buch, ‘das eine Generation komplett aus dem eigenen Boden gestampft hat’,v wie Gerhard Falkner im Vorwort hervorhob. Unter der vielstimmigen Kritik, die die Anthologie erfuhr, fielen zwei Beiträge ob ihrer prinzipiellen Schärfe heraus, beide geschrieben von ausgewiesenen Kennern der deutschsprachigen Lyrikentwicklung der zweiten Jahrhunderthälfte. Auf beide wurde, ungewöhnlich genug, wiederum reagiert, so dass beinahe von zaghaften Ansätzen einer Lyrikdiskussion zu sprechen ist. Da die Wertungen und Argumente Kernpunkte gegenwärtigen Lyrikverständnisses und des Verhältnisses zwischen Poesie, Lyrikkritik und Gesellschaft berühren, lohnt es sich, sie zunächst nachzuzeichnen und sich dann mit ihnen genauer ins Vernehmen zu setzen.

Die Überschrift der Rezension in der Basler Zeitung vom 25. Juli 2003 von Michael Braun lautet: ‘Freiwillige Abstürze in die poetische Unterkomplexität: “74 Stimmen” vereinigen sich zum misstönenden Konzert einer “Lyrik von JETZT”’vi. Damit steht von vornherein fest: Michael Brauns Text ist recht eigentlich als eine Schmähschrift angelegt. Die Anthologie ist dem gestrengen Kunstrichter ein ‘ästhetisch taubes Ding’. In einer fortlaufenden Schimpfkanonade ist von der ‘trüben Sprachrealität dieser Gedichte’ die Rede, von ‘ranzig gewordenen Sprachgesten verspäteter Beat-Dichter’ oder ‘lyrische(n) Totalausfälle(n)’. Attributierungen müssen gereiht werden, um die Sammlung nachhaltig herabzuwürdigen:

Diese Realismus-Posen sind beängstigend zahlreich in der Anthologie vertreten, selbst dürftigste Elaborate einer hilflosen Beziehungskisten-Poesie haben die Herausgeber in ihrer unerschütterlichen Grosszügigkeit aufgenommen.vii

Der Furor des Rezensenten fokussiert sich auf das Auswahlprinzip der beiden Herausgeber einerseits und auf die, wie er meint, ‘ästhetische Unterkomplexität’ der ‘Realismus-Posen’ andererseits. So hätten sich Björn Kuhligk und Jan Wagner, die Herausgeber der “Lyrik von JETZT”, ‘(…) von jedweder Differenzierungsanstrengung dispensiert.’ Und weiter:

Wer nur ‘dokumentiert’, der sieht ab von stilistischen und qualitativen Differenzen, der verlässt sich auf positivistischen Sammelfleiss, ohne dem Stimmen-Konzert eine lyrische Kontur zu geben. Der stellt biedere Stilübungen neben avanciertes Sprechen, gibt sich mit dem Bündnis von Mittelmass und Einzigartigkeit, von Epigonalität und Avantgarde zufrieden. Wer jedem Autor unterschiedslos vier ‘Sprachfenster’ zugesteht, der sorgt für die rigide Nivellierung der himmelweiten Rangunterschiede.viii

‘Dieser Realismus’, behauptet Braun weiter, sei

bislang relativ erfolgreich als jüngste Metamorphose einer Berliner Grossstadtpoesie herumgereicht worden, ohne dass er über wirklich neue sprachdynamisierende Elemente verfügte. Es kennzeichnet die trübe Sprachrealität dieser Gedichte, dass die Realien des Alltags schon für Poesie genommen werden und sich eine hemmungslose Sentimentalität Bahn bricht.ix

Natürlich kann auch Michael Braun nicht daran vorbeisehen, dass etliche Texte nicht in sein ‘Realismus’-Raster passen, ergo werden sie als ‘Ausnahmen’ behandelt. Bestimmend bleibt der Gestus von Generalabwertung im Namen einer fraglos gesetzten sprachinnovatorischen Avantarde als einziger Bezugsinstanz. Ein eigentümlicher, in solcher Schroffheit in der Literaturkritik auch in den letzten Jahren selten vernommener Vernichtungswille grundiert die Rezension.

In der österreichischen manuskripte-Abspaltung kolik. Zeitschrift für literatur veröffentlichte der Berliner Publizist Sebastian Kiefer in Heft 24 (2003) eine raumgreifende Auseinandersetzung mit der Anthologie unter dem kantigen Titel ‘Was dürfen wir hoffen? Eine neue Dichtergeneration drängt auf den Markt’,x der durchaus programmatisch grundsätzliche Fragen der kritischen Urteilskraft nicht aussparen will.

Sebastian Kiefer verrät dankenswerterweise bereits im Entrée seine Messlatte: die reine Poesie, die absolute, wie man zu Emil Staigers und Hugo Friedrichs Zeiten germanistikte, aufgefrischt mit Derrida und Wittgenstein:

Hört er (der junge Lyriker) etwas von Frege und Wittgenstein, streift er Derridas Rede von der Unmöglichkeit der Außenseite des Textes, begegnet er der Rede der allgegenwärtigen Zeichenprozesse mancher Semiotiker? Vielleicht hört der angehende Musenmensch von Mallarmés Leugnung jeder Außenreferenz des Gedichtes, sei es via Paul Valéry oder Gottfried Benn.xi

Im folgenden versucht Kiefer den sozialen Background und die Kommunikationskultur der jungen Lyriker und Lyrikerinnen zu beschreiben: Er verweist zutreffend auf die Netzkultur und den Stellenwert von gemeinsamen Lesungen und gegenseitiger Unterstützung, auf die Ähnlichkeit vieler Berufswege (geisteswissenschaftliches Studium mit anschließenden prekären Beschäftigungsverhältnissen), auf die Kultur der Kleinzeitschriften und die Cleverness, mit der die jungen Autoren sich daranmachen, den Literaturmarkt zu erobern. Doch seine Beschreibungsansätze geraten unter dem Vorsatz der Generalherabsetzung zur gehässigen Diffamierung. Ein kleines Beispiel für die Tonart, die der Kritiker anschlägt, um die Unernsthaftigkeit des ganzen Unternehmens ‘Junge Lyrik’ zu unterstellen:

Was immer der junge Dichter auf seinen Seminartouren aufschnappt, sicher ist: Er geht abends nach Hause und vergisst das alles. Denn jetzt dichtet er. Meistens dichtet er, weil seine Freunde auch dichten und die hinwiederum ihm in Zeilenform sagen, wie sie gerade drauf sind, was sie gesehen haben und wie es in der Liebe steht und weil man sich ja morgen oder übermorgen ohnehin wieder zum gemeinsamen Vorlesen, Klönen oder Zappen oder Abhotten trifft.xii

Im Kern laufen die Vorwürfe darauf hinaus, dass die jungen Dichter in ihren Gedichten unter dem Wissen ihrer sprachwissenschaftlichen Seminare bleiben und statt dessen reflexionsarmer Unmittelbarkeit beim Schreiben frönen. Die gemeinschaftsfördernden Netzwerke verhinderten eine ernsthafte Arbeit am Gedicht: ‘Obsessionen sind verpönt, Exzesse unbekannt, Ästhetik unerwünscht, das Leben ist die Schule der Dichtung’.xiii Was Wunder, sind doch ‘die Nachrücker erzbürgerlich wie ihre Lebensläufe – man will etwas werden in der Welt und verhehlt das nicht.’xiv Noch bevor Kiefer sich auch nur mit einem Gedicht, einem Dichter genauer auseinandergesetzt hat, resümiert er, dass die, wie er meint, von ‘Spießern’ installierten ‘ganzen “Social-Beat-Netzwerke” eine Flucht vor Komplexität in eine neue Bequemlichkeit’xv seien. Da ist es also wieder, das Modedonnerwort von der Komplexität.

Den weitaus größeren Teil der Arbeit nimmt die detaillierte Auseinandersetzung mit Texten ein, und deshalb lohnt eine genauere Beschäftigung mit Kiefers Argumenten.

Fraglos kann man in der Anthologie Lyrik von Jetzt Missglücktes zuhauf finden. Das von den Herausgebern gewählte Anthologieprinzip bedingt geradezu die Hereinnahme auch schwächerer Texte, wenngleich etliche Peinlichkeiten bei einem genaueren Blick der Herausgeber durchaus hätten vermieden werden können. Hierin unterscheidet sich diese Anthologie nur unmaßgeblich von anderen. Dass Sebastian Kiefer verunglückte Metaphernbildungen, prosodisch Ungelenkes, gedankenloses Bedienen aus obersten Schubladen lyrischer Trickkisten (Alliterationen, Interpunktionslosigkeit etc.) an etlichen Beispielen vorführt, ist ihm als Verdienst anzurechnen. Solch akribisches Lesen ist in der gegenwärtigen Lyrikkritik ansonsten kaum mehr anzutreffen. In seinen induktiven Schlüssen auf ein generelles ‘Generationsproblem’ schlägt dann leider wieder der Hang durch, das Kind mit dem Bade auszuschütten und in Bausch und Bogen handwerkliche Unfähigkeit und Poetikabstinenz zu unterstellen:

Die ‘neue Generation’ steht wieder im Banne solcher simulierter Moderne: Auch sie ist über weite Strecken hilflos in prosodischer Hinsicht, auch bei ihr ist die Konzeptlosigkeit hinsichtlich der Darstellungsmittel, die Dominanz des Lebensgefühls über Erkenntnisfragen nur die Komplementärseite konventioneller Bildsentimentalität […] Die Elementarfrage, was überhaupt ein ‘Vers’ meinen könnte, Kadenz, Phrase, Satzrhythmus, Melodie, Klangdramaturgie (von Polyphonie und ambivalenten Maßen zu schweigen), ist in der DuMont-Generation inexistent geworden. […] Niemand arbeitet ernsthaft an der Prosodie, man lässt geschehen, was einem die Alltagssprache so bereithält. Kunstvolles Verschleifen, Mehrstimmigkeit oder Engführen ist jenseits des technischen Horizontes dieser Generation.xvi

Dankenswerterweise gibt Kiefer dann doch noch einen Hinweis darauf, woher er die Wertmaßstäbe für seine Abstrafungen hernimmt:

Die Gattung des anekdotischen oder erzählenden Gedichtes ist kinderleicht zu bedienen, wenn man keine ernsthaften Fragen an Prosodie und Referenzkraft der Worte stellt oder stellen kann. Doch sie wird unendlich schwer, wenn man sich ästhetischen Fragen überhaupt erst stellt: Wie lässt sich etwas ‘erzählen’, das heißt, wie lassen sich sprachunabhängige Ereignisse in eine nachvollziehbare Kausalordnung bringen, und dabei doch ein ‘Gedicht’ schreiben, wo das doch die Gattung ist, der alle Gewissheiten, wie sich das musikalisierte oder metaphorische Wort zur sprachunabhängigen Wirklichkeit verhält, abhanden gekommen sind? (Oder sie nie besaß.)xvii

Doch nicht nur die vermeintlichen Brinkmann-Adepten stehen im Fadenkreuz des Wächters über das poetische Reinheitsgebot. Denn Kiefer sieht eine ganze Armada von Imitatoren aufmarschieren: So sei ‘der raunende Erhabenheitston der Fünfziger und Sechziger Jahre neben der Gebrauchslyrik das zweite Modell, dem sich die Jungdichter auf der Suche nach tragfähigen prosodischen und idiomatischen Konzepten bedienen.’xviii Auch hier moniert er völlig zu Recht vielerorts missglückte Erhabenheitsversuche über technisch leicht zu bewerkstelligende ‘dunkle’ Metaphern. Die Naivität, mit der viele junge Dichter lyrische Effekte für mitteilsam halten, ist in der Tat erstaunlich. Grundsätzlich vermutet der Kritiker dabei, dass diese Techniken über einschlägige Seminare an der Universität adaptiert wurden. Wer auch nur einen Blick in das Lehrangebot der deutschen Universitäten, Theorie und Geschichte der modernen Lyrik betreffend, geworfen hat, dem dürften ernste Zweifel an dieser Vermutung kommen, die indes mehrfach wiederholt wird.

Aber diese Zusammenhänge interessieren Kiefer nicht, sein Fokus hat den einen Namen: Konzept.

Solcherart Raunen erfreut sich bei den nachrückenden Dichtern nämlich durchaus der Beliebtheit, was leicht erklärlich ist: Man kann es ohne jedes Konzept von Prosodie und Bezeichnungskraft, ausgerüstet alleine mit Bauch und feeling, reproduzieren. Ganz schnell sind da Effekte zusammen, ohne sich um irgendetwas zu scheren, was die Wissensrevolutionen der vergangenen hundert Jahre sagen – sei es Sprachphilosophie, Linguistik, cognitive science, Texttheorie.xix

Man kann mit guten Gründen vielen nachrückenden Gedichteschreibern den Vorwurf nicht ersparen, nicht genügend Anstrengungen darauf zu verwenden, über kleinteilige Deskription von Momentaufnahmen hinaus zu gelangen. Wenn man aber in Bausch und Bogen einer ganzen Generation vorzuhalten sich anschickt, sie besäße keine Sprache, erklärt man den Gesprächsabbruch:

Sie besitzt keine Sprache, obwohl sie an kaum etwas anderem interessiert ist als daran, etwas zu auszusagen. Sie hat keine Sprache und redet viel, weil sie sich den Komplexitäten der fortgeschrittenen Kunstfragen noch gar nicht ausgesetzt hat. Befindlichkeitsrede und Imitation abgelebter Pseudomodernismen sind ihr gleich nahe, denn beide setzen keine ausgearbeitete Grammatik im umfassenden Sinne voraus, sondern leben von einem ungebrochenen Vertrauen auf ‘lyrische’ Wirkungen. Gut ist, was groovt, worin ich mich ‘wiederfinde’, was meine Beobachtungen, Stimmungen und Imaginationen ‘wiedergibt’ oder erhaben donnert wie bei den ‘Modernen Klassikern’ im seminaristischen Manual.xx

Nein, ein Meister der Zwischentöne ist Sebastian Kiefer nun wirklich nicht; dafür weiß er ganz genau, welche Fragen die Schreibenden sich zuerst stellen müssten, ehe sie drauflos dichten:

Heute, das ist wohl auch das durch Derrida (wenngleich nur metaphorisch) erneuerte Rätsel, ob man überhaupt jemals außerhalb des ‘Textes’ gelangen kann; oder auch die Frage, ob es überhaupt ein stabiles Etwas gibt, das Stimmungen ‘hat’, Erfahrungen ‘macht’ und dabei etwas anderes ist als ein illusorisches Moment im Akt des Schreibens selbst.xxi

Ich kann nachvollziehen, dass es ein möglicherweise instabiles ‘Etwas’ in den Dichterhirnen gibt, dass sich weigert, an diesen ‘Fragen’ verzweifeln zu sollen.

Zu diesen zählt zweifelsohne der jüngst beim Darmstädter Literarischen März mit dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis bedachte Berliner Lyriker Hendrik Jackson, der auf seiner Website www.lyrikkritik.de gleichfalls eine Generalbesichtigung der jüngeren Lyrik unternimmt. Seine sachliche Analyse kommt dabei zu Schlüssen, die auf den ersten Blick jene Kiefers bestätigen:

Bei aller Verschiedenheit der Stile läßt sich auch bei vielen Besseren eine Tendenz zum bilderverliebten und dabei harmlosen Schreiben erkennen. Man löst sich von zu starken ‘fremden’ Ansprüchen, seien sie geschichtlich, akademisch, avantgardistisch etc., geht einen unspektakuläreren Weg, um poetischen Wendungen Atem zu geben, die einmal, selbst wo sie große Themen behandeln oder vielschichtig gebaut sind, die einfache Präsenz eines unbefrachteten Moments, auch eines kleinen Glücks nicht scheuen. Sinnliche Eindrücke, Oberflächen, poetisierte Inventars und Erzählungen werden (wieder?) möglich. Gleichwohl klingen die alten Diskurse, das Wissen um die politischen, sozialen Hintergründe etc. in dieser neuen Dichtung manchmal an. Allein drängt man sie in den Hintergrund, um nicht allzu schnell das Bild oder die Bildkomposition durch zuviel Anspielungen, Bildung oder Erklärungen und philosophische Vermittlung zu beschweren oder zu ersticken.xxii

Jackson macht auf die Konsequenzen solcher Bescheidung aufmerksam:

Man sieht, daß, ob es sich um einen kunsthandwerklichen Setzkasten (Urweider), sentimentale Einsamkeit (Scheuermann) oder das altväterliche Timbre (Rost) handelt – oft eine biedere, genügsame, fast streberhafte Könnerschaft am Werk ist, die einen fahlen Beigeschmack hinterläßt. Verwundert stelle man fest, daß eine junge Generation in Ton und manche auch in Vortragsweise (wie z.B. Hendrik Rost) ihr Alter zum Vorbild genommen zu haben scheint, um im Tempo 30 durch verkehrsberuhigte Zonen der Historie und Liebe zu tuckern. Sicherlich entscheidet nicht die theoretische Komplexität über die Qualität von Lyrik. Aber doch gehört das Bewußtsein dazu, daß Sprache nicht nur Mittel zu lyrischem Sentiment oder gefälliger Reflexion ist, sondern auch Vermittlung und Trug.xxiii

Im Nachdenken darüber, woher diese selbstgenügsame Einübung ins Handwerk rührt und welche Folgen sie zeitigt, stellt er das Problem der Imitation heraus:

Das Problem ist eher, daß die postmoderne Distanz, die Selbstreflexion und das Zusammentreffen unvereinbar geglaubter Momente, das Hereinstehen eines Unverständlichen (das, was Adorno das Inkommensurable genannt hat) bei vielen vor allem imitiert werden. Unter dem wohltemperierten Design, das sich auch mal brüchig gibt, lebt ungebrochen ein Subjektivitätspathos, das wohl zu klug für einfachen Kitsch, nicht aber gebrochen genug für eine komplexe lyrische Faltung ist.xxiv

Wenn Jackson Kiefer noch in der Forderung nach mehr Reflektiertheit folgt, bezweifelt er zu Recht dessen Umkehrschluss:

Was dem Geist an weltanschaulich-kritischem oder luzidem Verstande fehle, mithin auch an Theorie oder zumindest an sprachlicher Höhe der Zeit, könne die sinnliche und bildliche Kraft einer Naivität ausgleichen, ist ein unter unbedarften Poeten weitverbreiteter Irrglauben. Doch die Umkehrung dieses Satzes: Theorie oder Systematik richte, was an dichterischer Eingebung, Feingefühl, an Beobachtungsgabe oder Erfahrungsgehalt fehle, ist in der Praxis wohl ebenso trügerisch und wird auch nicht durch das angeblich banausische Desinteresse des Publikums in einer Art seltsamen Umkehrschlusses gerechtfertigt.xxv


Vor allem aber meldet Jackson Widerspruch an gegen den Generalgestus der Abstrafung, der Kiefers Text durchzieht:

Seine Aufräumarbeiten sind, nicht nur wegen ihrer angestrengten Anleihen beim adornitischen Polemikjargon, einer Diskussion nicht immer zuträglich, schon gar nicht der jungen Lyriklandschaft. Man wird den Verdacht nicht los, daß einen Kritiker, der schon mal leicht altbackene Dichter wie Rühmkorf und Enzensberger lobt, aber Talente wie Daniel Falb und Monika Rinck meint mit zwei Sätzen abfertigen zu können, doch recht undurchschaubare Ressentiments umtreiben.xxvi


Das ist artig formuliert, geradezu bewundernswert zurückhaltend. Es ist aber vielleicht gerade diese Contenance, die den aus unterschiedlichen Erfahrungseinsätzen mitbestimmten Konflikt zwischen den jüngeren Lyrikern und ihren in den siebziger und achtziger Jahren sozialisierten Kritikern bisher unter der Schwelle öffentlichen Aufmerkens gehalten hatte. Auch deshalb war nicht zu unterschätzen, dass sich mit Gerhard Falkner der Verfasser des Vorworts und ein in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik herausragender Lyriker in neue deutsche literatur mit Nachdruck zu Wort meldete, um auf Michael Brauns Verdikt zu reagieren.xxvii Falkner beschäftigte sich darüber hinaus immer wieder mit den Beziehungen zwischen, Lyrik, Markt und Gesellschaftsverfassung.xxviii Seine Entgegnung trägt wie bei ihm erwartet programmatischen Charakter. Sie berührt wesentlich drei Problembereiche:

Erstens: das der weitgehenden Selbstreferentialität des lyrischen Feldes.

Die Lyrik, ein literarisches Mikroklima im Schatten der breiten Kulturmassive, ist inzwischen schon beinahe ein selbstreferentielles System, was heißt, es organisiert sich weitgehend ohne Bezug auf Außenpositionen und ist wegen des Mangels großer, konkurrierender Kontingente manipulierbar wie die Hölle. Wichtiger, als den Faden für die Poesie nicht zu verlieren, ist es, die Fäden des Betriebs in der Hand zu halten. (123f.)

Falkner konstatiert, dass es sich unter diesen formenden Zwängen ‘um eine vollkommen durchkommunizierte, disziplinierte und eigentlich brave Generation handelt, die rebellische Gesten eher zitiert als lebt. Ihre Freundlichkeit wird sie noch umbringen.’ (S. 132). Und er insistiert darauf, dass

über den Charakter der Zähmung nachgedacht werden (muss), der von Schreibwerkstätten, Literaturinstituten und dem Betrieb seinen Ausgang nimmt. Mit dem heraufziehenden Sozialfaschismus, der die Nischen für junge Dichter/innen noch weiter reduzieren wird – und somit unabhängiges Gedeihen von Eigensprachen -, wird eine Anlehnung an den Literaturbetrieb noch zwingender. Der aber erwirkt eine Generalumwandlung vom Dichter zum Lyrikdarsteller und erzwingt eine für diese Kunst absolut tödliche Geschäftigkeit. (S. 133)

Zweitens: das der Wertungskriterien. Falkner berührt in seiner Entgegnung den neuralgischen Punkt jeder Kritik, die ihren Namen verdient: den der Wertungskriterien. Und er benennt dabei einen Widerspruch der Selbstverständnisse von Kritikern und inkrimminierten Autoren, der geradewegs ins Zentrum der Auseinandersetzung führt. Michael Braun und Sebastian Kiefer berufen sich in ihren Polemiken auf die bekannten Avantgarde-geprägten Sprachregelungen von sprachlicher Innovation als alleinigem Kriterium für das Gelingen eines Gedichts. Dem hält Falkner entgegen, dass ‘die Sprache des Zeitgenössischen nur sehr bedingt in den sogenannten experimentellen Avantgarden zu finden’ sei, ‘denn die Avantgarden waren die Sprachmaschinen des Industriezeitalters – in diesem aber leben wir nicht mehr, wir leben im Informationszeitalter, also liegt alles wirklich Zeitgenössische in der Verknüpfung’ (S. 125).

Drittens: das eines falschen bzw. verengten Blickes auf lyrikgeschichtliche Traditionsbildung. Wie schon bei Sebastian Kiefer fällt auch bei Braun reflexartig der Name von Rolf-Dieter Brinkmann, wenn nach Vergleichsankern in der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts gesucht wird. Während Gerhard Falkner auf die inzwischen hinreichend recherchierte Tatsache hinweist, dass

Brinkmann selbst der “Traditionszertrümmerer” nicht war, sondern Importeur amerikanischer Findungen und Schwimmer im Kielwasser von Ted Berrigan, Frank O’Hara und zahlreicher anderer Beats, denen die neue Poesie tatsächlich großartige und verblüffend neue Fenster verdankt, verkennt Michael Braun das Faktum, daß sich aus all dem ein fester Bestand an, wie er es nennt, “Realismus” entwickelt hat, neben anderen Beständen, der als schlicht vorhandener jedes Recht auf Gebrauch genießt. (S. 130)

Dass, wie Falkner moniert, auf ‘subtilere Einflüsse’ aus der internationalen Poesie von Braun überhaupt nicht eingegangen wird, komplettiert sein Bild der Ignoranz.

Die Interventionen Gerhard Falkners sind hilfreiche Anhaltspunkte, um die von ihm umrissenen Problembereiche noch einmal genauer zu bedenken.

1. Problembereich Selbstreferentialität des lyrischen Feldes:

Ein Effekt der ‘Zähmung’ durch den ‘Betrieb’ besteht darin, dass einflussreichen Kritikern kaum noch widersprochen wird. Nun spiegelt die zunehmende Gewichtung des Sekundären (der Kritik, oder was von ihr übrig geblieben ist) gegenüber dem Primären (der Literatur) in der Öffentlichkeit ohnehin wesentlich die Verschiebung vom Kunst- zum Warencharakter der Literatur wider. Wenn der Großkritiker sich im Fernsehen inszeniert, sagt das Verhältnis von Redegestus zu Schlichtheit der Aussagen viel über diese marktverliehene Macht aus. Allerdings steht dem Lyrikkritiker schlechterdings so gut wie kein Markt zur Verfügung; dafür sitzt er oft in jenen Gremien, die für die Konservierung halbfeudaler Verkehrsverhältnisse einstehen: Zeitungsredaktionen, Juries für die Vergabe von Preisen und Stipendien. Gerhard Falkner lenkt zu Recht die Aufmerksamkeit auf die Konsequenzen jener quasi-inzestuösen Abhängigkeitsverhältnisse für das Verhalten der jungen AutorInnen. Wo zudem die Kohäsionskräfte einer kaum noch spürbaren Gesellschaft rapide schwinden, wächst die Neigung des Einzelnen, sich als Selbstverwertungsmonade personaler Beziehungen verstärkt zu versichern und Märkte zu sondieren, seien es auch nur die symbolischen der Aufmerksamkeit. Dafür ist ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft selbstredend Voraussetzung. Hinzu kommt bei Dichtern, die in der Lesebühnenkultur daran gewöhnt worden sind, auf den Augenblicks-Zuspruch des Publikums zu achten, dass diese Art von Rückversicherung um den Preis von Text-Raffinements geschlossen wird, welche sich erst eigentlich dem genau Lesenden erschließen. Dass diese permanenten Beziehungskalkulationen Rückwirkungen auf inhärente Poetiken und damit auf die Dichtungspraxis selbst haben können, liegt auf der Hand. Insofern gilt in gewissem Maße auch für die Lyrikszene, was Richard Herzinger 1999 noch mitten im Boom der jungen deutschen Erzähler beobachtete:

Der Schriftsteller von heute ist jung, schick und heiter, gibt sich abgeklärt-illusionslos und mit allen Wassern des Umgangs mit der virtuell verdoppelten Wirklichkeit unserer Medien und Konsumgesellschaft gewaschen. Auf dem neuesten Stand der Moden und der Kommunikationstechnik zu sein gilt nicht mehr als ‘affirmativ’ und damit verderblich. […] Lesungen und literarische Salons sind gut gefüllt und ziehen junges Publikum an. Von den Autoren erwartet es keine Welterklärungen und ethischen Aufbauhilfen. Es verlangt von ihnen auch keine innovativen ästhetischen Programme und verstörenden Formexperimente.xxix

Inzwischen ist die gegenwartsversessene hedonistische Euphorie zusammen mit dem Hype des ‘Neuen Marktes’ verflogen, aber ihr Erlebnis wie ihre rasche Verflogenheit dürften Spuren hinterlassen haben. Wo kaum noch dem eigenen Talent allein, aber viel dem geschickten Agieren in Distributationsmechanismen vertraut werden muss, sind zwittrige Strategien nicht weit, zwischen Eigenimpulsen und vermuteten Effekten zu oszillieren.

Allerdings wäre es fatal, aus diesen Rückkopplungen Automatismen herzuleiten. Und geradezu lächerlich ist es, den jüngeren Dichterinnen und Dichtern die Freude an Geselligkeit, die Nutzung moderner Kommunikationsmittel und den Aufbau interner Codes vorwerfen zu wollen. Waren nicht so gut wie alle künstlerischen Erneuerungsbewegungen im 20. Jahrhundert Initiativen von jungen Künstlern zwischen 17 und 35, die sich von vorausgehenden Generationen absetzen mussten und Gruppendynamiken stets noch als paramilitärischen Vorzug der Gemeinschaftsattacke instrumentalisierten? Vom ‘Jungen Wien’ über Futurismus, Expressionismus, Surrealismus, den 27ern in Spanien, dem Poetismus in der Tschechoslowakei der 30er Jahre, der Neuen Sachlichkeit bis zur Konkreten Poesie, der ‘Sächsischen Dichterschule’ in der DDR der sechziger Jahre oder dem ‘Prenzlauer Berg’ bzw. der ‘Kölner Schule’ um Kling, Beyer, Hummelt in den Achtzigern – alles Kunstbewegungen, die selbstverständlich Netzwerke installierten, um sich durchzusetzen. Denn ihre Gegner waren in der Regel altersmäßig jenseits der 40 und, den Regeln der Moderne sowie denen des Eigeninteresses folgend, Einzelkämpfer geworden, die nun erhebliche Anstrengungen auf die Sicherung und Erweiterung ihrer öffentlichen Reputation verwenden mussten. Schlagbare ‘Gegner’ also, zumal der Jugendwahn im Kapitalismus erst exzessiv wurde, als er alle Traditionen überkommener Bande zwischen Generationen in seinem einzigen Interesse verdampfen konnte, aus dem Neuen Profit zu schlagen. Auch hier gibt es womöglich Zusammenhänge mit dem poetologischen Eklektizismus, der bei vielen der jüngeren Lyrikerinnen und Lyriker evident ist.

2. Problembereich Wertungskriterien:

Sowohl Sebastian Kiefer als auch Michael Braun führen als entscheidendes Wertungskriterium das der sprachlichen Innovation ins Feld und bauen in ihren Polemiken die Gegensatzkonstellation ‘Naturalismus’ / ‘Realismus’ versus ‘sprachliche Avanciertheit’ / ‘Avantgarde’ auf. Wenn man diese schlichte bipolare Grundkonstruktion allem Ordnungsbegehren zugrunde legt, verwundert es kaum noch, warum zunächst das Anthologie-Prinzip desavouiert werden musste. So geht Michael Braun auf die von Gerhard Falkner im Vorwort erläuterten Abwägungsprozesse in der Arbeit an der Anthologie – ‘dokumentarische Anthologie’ eines nahezu kompletten Generationsauftritts oder ‘Best-of’-Sammlung – erst gar nicht ein. Denn die Schwierigkeit bestand darin, dass mehr als die Hälfte der Beiträger längst schon durch eigene Gedichtbände, durch Stipendien, Preise und beständige Zeitschriftenpräsenz hervorgetreten war, etwa Marcel Beyer, Franzobel, Raphael Urweider, Uwe Tellkamp, Jan Wagner, Albert Ostermaier, Silke Scheuermann, Sabine Scho, Christian Lehnert, Thomas Kunst, Johannes Jansen, Dirk von Petersdorff. Durch die Gleichbehandlung aller 74 Autoren wurden nicht nur Entdeckungen möglich (Udo Grashoff, Monica Rinck, Hendrik Jackson u.a.), sondern auch Korrespondenzen besser sichtbar. Denn als ein wesentliches Argument für eine ‘breite’ Zusammenstellung führte Falkner die neuartige Netzwerkkultur der jüngeren Autoren an, die durch die technischen Innovationen der neunziger Jahre erst möglich geworden war und ihrerseits Rückwirkungen auf Poetiken hat. Wirft man einen genaueren Blick in die Gedichte der genannten Autorinnen und Autoren, so wird rasch klar, dass das Auseinanderdividieren in ‘Naturalisten’ und ‘Avantgardisten’ kein methodisch hilfreiches Instrument sein kann, der tatsächlichen Vielfalt von Schreibweisen gerecht zu werden. Das lyrische Herausstellen geschichtlicher Kodierungen bei Sabine Scho und Hendrik Jackson, das surrealismusnahe Engführen von Wahrnehmung und metaphorischen Verwandlungsspielen bei Thomas Kunst, die Bilderschleifen im Zeichen rauschhafter Ich-Entgrenzung bei Uwe Tellkamp oder Christian Lehnert – diese lyrischen Einsätze entziehen sich den genannten Zuordnungen. Schließlich: Wenn Michael Braun das ‘Bündnis von Mittelmaß und Einzigartigkeit’xxx beklagt, so möge man einen Blick in beliebige Anthologien einschließlich der von Braun mitverantworteten Punktzeit zur Lyrik der achtziger und Das verlorene Alphabet zur deutschen Lyrik der neunziger Jahre werfen.

Das Polarisierungspaar ‘Epigonalität und Avantgarde’ lenkt den Blick auf die Wertungshintergründe: Michael Braun installiert einen Gegensatz von ‘Avantgarde’ und einem vermeintlich epigonalen ‘neuen Realismus’, ohne die geringste Anstrengung des Begriffs zu bemühen, soweit das im Rahmen einer Zeitungskritik möglich ist: Wenigstens anzudeuten, was der Rezensent unter ‛Avantgarde’, unter ‛Realismus’ versteht. Die beschreibende Hereinnahme von Alltagswahrnehmung ins Gedicht hat z.B. eher mit naturalistischer Partikelstreuung zu tun, aber nicht zwingend etwas mit dem Begriff ‘Realismus’, vorausgesetzt, man denkt die Geschichte diverser Realismen und die mit ihnen verbundenen Debatten seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts mit. Rolf Dieter Brinkmanns flapsige Verszeile ‘Ein neuer Realismus entstand, er stand rum’, die Braun ins Feld führt, war seinerzeit Ausdruck von beiläufiger Provokationslust. Sie als Etikettierungsillustration zu benutzen zeugt eher von dem Willen, begriffsgeschichtliche Hintergründe unbeachtet zu lassen. Ähnlich verhält es sich mit der eher abschätzig gemeinten Floskel von der ‘herumgereichten’ ‘Berliner Grossstadtpoesie’. Ein Blick in die Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren belehrt darüber, dass 52 der 74 Beiträger nicht in Berlin wohnen, insofern ist der Stempel ‘Berliner Grossstadtpoesie’ schon eine kühne Induktion. Eine ebenso kühne auch die, aus gewiss ärgerlichen Gedichtbeispielen der banal-nachlässigen Machart auf die gesamte Anthologie zu schließen. Nun ist die Tendenz zur Inventarisierung von Beobachtungs- und Erlebnisoberflächen, zur Scheu, sich mit ‘Welt’ außerhalb der Sehweite des sprechenden Ich ins Vernehmen zu setzen, in dieser Anthologie unübersehbar und mit Recht kritisch zu analysieren. Zur Analyse gehören aber auch die Betrachtung von kulturellen Codes und sozialen Kontexten, Rekurse auf Poetiken – alles dies unterbleibt.

In der Handhabung des Naturalismus-Vorwurfs als Verbalinjurie treffen sich Michael Braun und Sebastian Kiefer, wobei der Berliner Kritiker sogar so weit geht, die in Lyrik von Jetzt versammelten Autoren irrtümlich der ‘social-beat’-Szene zuzuschlagen, die sich nun in der Tat über antikünstlerische Allergene definiert. Anstatt nach Bedingungen und Ursachen zu fragen, die dergleichen ‘Naturalismus’-Schübe hervorbringen, behilft sich der Rezensent mit Unterstellungen der Reflexionsfaulheit und des generellen Unernstes. Die ‘Sezessionstypologie’xxxi einer wie auch immer vorgestellten ‘Unmittelbarkeit’ drängt sich, wie die Geschichte der modernen Lyrik zeigt, in erklärbaren Abständen jedoch immer wieder einmal in den Vordergrund: Die ‘Neue Sachlichkeit’ antwortete dem expressionistischen Pathos, die ‘Kahlschlag’-Lyrik nach 1945 der nazistischen Panegyrik, die ‘Beat-Lyrik’ der Endfünfziger in den USA der kanonisierten Hochmoderne von T.S. Eliot und Ezra Pound, die ‘Neue Subjektivität’ der siebziger Jahre reagierte auf die reduktionistische Agit-Prop-Lyrik der sechziger wie auch auf die ‘Hermethik’ und die ‘Konkrete Poesie’. In Zeiten erheblicher Wahrnehmungsbrüche setzten sie die Versicherung von Erfahrungswelt gegen als nicht mehr tauglich empfundene kulturelle Verabredungen. Für viele jüngere Dichter in den Neunzigern waren das vor allem die einer postmodernen Ästhetik, die in scheinbar stillgestellter Zeit nur noch mit Luhmann Selbstreferentialität im sich selbst genügenden Sprachspiel, in der Kombinatorik des Vorgefundenen und in theoretisch aufgeladenenen Erfindungen immer neuer Grammatiken bestand. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks war es dann mit der ‘posthistoire’ vorbei. Im Globalisierungsfuror der neunziger Jahre entfaltete die dritte technische Revolution ihre Breitenwirkung und der Kapitalismus sein in den achtziger Jahren von den USA und Großbritannien aus begonnenes Zerstörungswerk der europäischen Gesellschaften im Namen des Neoliberalismus. Die pragmatisch gestarteten und nun zumeist selbst vor eher trübe Zukünfte gestellten Dreißigjährigen hatten mithin genügend Gründe, sich angesichts gigantischer Umbauten in der Gesellschaft, der Erkenntnis- und Informationssysteme, angesichts des ökonomistischen Zurichtungsterrors des ‘homo faber’ zunächst einmal wieder ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer Sensorien, ihrer Begehren versichern zu wollen. Dass dies zumeist aus einer Position weitgehender Verunsicherung erfolgt, kann nicht wirklich überraschen. Lyrik von Jetzt offeriert dieses Zaghafte, Irritierende, Vorsichtige. Eine kleine, beliebig erweiterbare Auswahl von Gedichtzitaten belegt das Unbehagen und die Verunsicherungen, die aus Utopieverlust, dem Verschwimmen von Realität und Imitaten, aus dem Flüchtigkeitsfuror der augenblickbesessenen Medien- und Marktgesellschaft erwachsen:

ich war selbst

wie ummantelt, ausgekühlt, angeranztxxxii

Man weiß ja, man kann weder vor noch zurück.

Vorwärts und rückwärts

Sind ausgeschlossene Richtungen.

Aussichtslos ist man, abgenabelt von beidem.xxxiii

das

Aufblitzen in den Augen ‚wie sich diese unsteten Gegenden nach und nach

lossagen von uns’

Imitate und Tarnungen, halber Aufenthalt

wie auf fotokopiertem Schneexxxiv

daß die Zukunft uns brauchen würde

war ein landesübergreifender Witz, in dem die ersten

den dritten das Bewußtsein runterfahren

am Ende der persönlichen Computer steht

der zentrale Zentralcomputer und löscht

die brennenden Mönche der Vorzeitxxxv

die Zukunft geht aus (uns)

von VISIONEN

zu sprechen liegt mir fremd

wohnhaft in Fatalismus

der Restposten Menschxxxvi

‘Imitate und Tarnungen’ (Marion Poschmann) – die durchaus symptomatischen Gedichtzitate weisen darauf hin, dass sich die Verfasser durchaus im Klaren darüber sind, dass es unmittelbare sprachliche Zugriffe auf ‘authentische’ Erfahrungswirklichkeit kaum mehr gibt, aber sie ziehen daraus durchaus nicht den Schluss, dass deswegen nur noch ‘Sprachwirklichkeit’ poetischen Insistierens würdig sei. Und schon gar nicht kommt ihnen in den Sinn, den Seitenzweig rein sprachbezogenen Dichtens seit Mallarmé als ‘Avantgarde’ zu hofieren, die sie im übrigen nie war: Längst hat sich auch das technizistische Verständnis der Verbindung von Sprache, Poesie, Technik und Fortschritt eines Max Bense oder Eugen Gomringer als Hybris erwiesen, die vor allem Auswirkungen auf Werbung und Produktdesign hatte. Üblicherweise wurde der Avantgarde-Begriff in den letzten fünfzehn Jahren mit den Hinweisen auf die unselige Allianz von eschatologischen Emanzipationsvorstellungen seitens der Künstler und ihrer Vereinnahmung durch stalinistische Realpolitik (Boris Groys u.a.) diskreditiert. Dass er interessanterweise wieder hoffähig geworden ist, hat mit einer neuen Besetzung nach seiner Entleerung zu tun: Mit einer vorerst schwammigen Verschlierung mit Elite-Vorstellungen, der Aufwertung kultureller Codes, die soziokulturellen Abgrenzungsbedürfnissen entgegenkommen. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie Begriffe wie ‘Reform’, ‘Fortschritt’ etc. neoliberal in konzertierten Aktionen etwa der Iniative ‘Neue Soziale Marktwirtschaft’ umdefiniert wurden, bis sie scheinbar unhintergehbar wurden. Wenn jetzt ‘avantgardistisch’ gegen ‘realistisch’ ausgespielt wird, dann liegen Parallelen auf der Hand. Ein solches Koordinatensystem von historisch immer zu kommentierenden Grobbegriffen scheint indes wenig tauglich zu sein für adäquate Zugänge zu Phänomenen lyrischer Artikulation im 21. Jahrhundert. Ob der von Falkner vorgeschlagene ‘Verknüpfungs’-Begriff äquivalenztauglich zum ‘Informationszeitalter’ im 21. Jahrhundert – auch dies eine eminente Verkürzung – sein kann, wird sich erst noch zeigen müssen. Aber er liefert zwei wichtige Fingerzeige: Er macht zum einen nachdrücklich darauf aufmerksam, dass der pseudoavantgardistische Wertmaßstab der sprachlichen Überbietung ein einliniger ist. Überbietungstechniken der Wortpermutation, -kontamination und –auflösung hatten schon vor Jahrzehnten ihr Extrem im Lettrismus gefunden. Die Auffassung, handwerkliche Innovation als Ausweis der Güte eines Textes anzusehen, wird allmählich obsolet. Zum zweiten verweist er auf die Tatsache, dass in vielen Gedichten jüngerer Autoren nicht Sprachwaschung, sondern Sprachmischung dominierendes Prinzip ist. Wenn Erfahrung immer mehr medienvermittelte in ihrer Splitterhaftigkeit und Disparatheit ist, so sollen diese „Sprachen“ auch ins Gedicht.

Aber was ist, wenn sich ein Lyrikkritiker nicht einmal für Erfahrungszusammenhänge interessiert, wie sie in den Gedichten der Jüngeren Reaktionen erheischen? Da es, wie Sebastian Kiefer nicht müde wird zu betonen, für ihn bereits fraglich ist, ob das Gedicht überhaupt auf Außersprachliches verweisen kann, setzt er den Wertungsrahmen der Selbstreferentialität des lyrischen Textes in Mallarméscher Tradition als unhintergehbar an.

Die die Moderne seit Baudelaire und Hofmannsthal begleitende Sprachskepsis wurde in den postmodernen Ästhetiken der achtziger Jahre mit Derrida, Lacan und Lyotard bekanntlich entschieden radikalisiert, die damals euphorisierte Engführung von ästhetischer Theorie, Philosophie und Autorenpoetiken hat ihre Fruchtbarkeit im lyrischen Werk etwa von Thomas Kling, Peter Waterhouse, Gerhard Falkner, Andreas Koziol oder Franz-Josef Czernin hinlänglich bewiesen. In unterschiedlichem Maße sind viele ihrer Gedichte von einem Benennungszweifel grundiert, der dazu nötigt, die Zuverlässigkeit (besser: Unzuverlässigkeit) des Bezeichnungsinstrumentariums ständig mitzureflektieren, die problematischen Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat zu thematisieren. Nur ist weder einem Thomas Kling noch einem Gerhard Falkner jemals beigefallen, in Frage zu stellen, dass sprachliche Zeichenketten auch auf außersprachliche Wirklichkeit verweisen. Beide haben im übrigen nicht nur die Signifikationsprozesse im Blick gehabt, sondern das Gedicht immer auch als Kommunikat behandelt, ein Funktionsaspekt, den etwa Oswald Egger oder Franz-Josef Czernin für weitgehend vernachlässigenswert halten. Dem Dichter ist es unbenommen, in seinem Schreiben poetischen Auftrieb für das bedeutungssetzende Spiel der Zeichen aus Theorien zu gewinnen, nach denen die außersprachliche Wirklichkeit uns prinzipiell verborgen bleibt. Wenn jedoch ein Kritiker als Vermittlungsinstanz zwischen Dichtungspraxis und Gesellschaft hier seinen Maßstab setzt, ignoriert er nicht nur andere Weisen lyrischen Sprechens, sondern redet einer Verarmung der Möglichkeiten von Poesie das Wort, die in ihrer Unbedingtheit grotesk anmutet. Von unterschwelliger Hysterie ist schon der Fauxpas getragen, die ‘Gattung’ als Erkenntnissubjekt setzen zu wollen, abgesehen davon, dass die Behauptung Kiefers, ‘sie’ hätte nie Gewissheiten über Wirklichkeitszugriffe gehabt, literaturhistorisch blanker Unsinn ist. Es sei nur an Brechts ‘Kurze[n] Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker’ erinnert, der aus seiner Abneigung gegen ‘solche “rein” lyrischen Produkte’ kein Hehl machte, weil

sie […] sich einfach zu weit von der ursprünglichen Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung

[entfernen]

. Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfasssers enthalten, eines wichtigen Menschen.xxxvii

Ebenso skurril mutet auch der Generalvorwurf an, die jungen Dichter scherten sich in ihrer Konzeptionslosigkeit nicht um die Wissensrevolutionen der letzten hundert Jahre auf dem Gebiet von Texttheorie oder Sprachphilosophie. Das ist nicht wirklich originell, weil die Vorwürfe, die Lyrik sei nicht auf dem neuesten Stand der Wissenschaften, die Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Dichtung seit der Verabschiedung des ‘poeta doctus’ im Barock wellenartig begleiten. Deshalb sei lediglich daran erinnert, dass etwa in den sechziger Jahren in der DDR der Hauptvorwurf gegen die Kunerts, Kirschs, Brauns von Seiten affirmativer Literaturwissenschaft darin bestand, nicht auf der Höhe marxistisch-leninistischer Gesellschaftstheorie zu sein. Nun also die Sprachphilosophie. Ich vermute, auch in Zukunft nehmen sich Menschen heraus, sich in Versen mitteilen zu wollen, ohne texttheoretisch up to date zu sein. Im übrigen darf bezweifelt werden, dass, wer sich im Besitz des theoretischen Steins der Weisen dünkt, um so trefflicher Verse zu schreiben weiß. Dabei teile ich Kiefers Unbehagen an redundantem Geschichtsbewusstsein, lyristischem Kunsthandwerk und gewollter Theorieferne. Die Standards waren in der Tat schon einmal andere. Insofern waren in den achtziger Jahren die Gegenbewegungen gegen die Plapperlyrik im Westen ein Glücksfall, verbunden mit Namen wie Gerhard Falkner, Peter Waterhouse, Thomas Kling. In der DDR waren die strengen ästhetischen Standards der ‘Sächsichen Dichterschule’ so prägend, dass sich auch der texttheoretische Furor des ‘Prenzlauer Bergs’ an ihnen abarbeiten musste. Deshalb gab es Symbiosen (wie bei Bert Papenfuß) oder energische Absetzbewegungen auf höchstem Niveau wie bei Andreas Koziol oder Ulrich Zieger. Mitte / Ende der neunziger Jahre, als die in der Anthologie Versammelten Gedichte zu schreiben begannen, war die Situation eine andere: Die Repräsentanten der nunmehr mittleren Generation hatten begonnen, sich durch ambitionierte und oft ausufernde Großprojekte in den eigenen Nachruhm hineinschreiben zu wollen (Kling, Schrott, Grünbein, Czernin), sich dabei in etwas hochfahrende Fehden untereinander verstrickt (Czernin versus Grünbein) bzw. sich zeitweise vom brutaler gewordenen Literaturbetrieb dispensiert (Falkner). Die mit diesen Entscheidungen einhergehende Strenge in ästhetischer oder politisch-moralischer Hinsicht wirkte auf viele der Jüngeren befremdlich bis abschreckend; symptomatisch hierfür ist beispielsweise die Abwendung vom einst als Vorbild betrachteten Durs Grünbein nach den Satiren. Es ist kein Zufall, dass viele der jüngeren Lyrikerinnen und Lyriker sich eher an Gerhard Falkner orientierten, der in seinem Werk mit Erfolg (dichtungsgeschichtlich, nicht marktpolitisch) innovative Ausfaltungen in scheinbar ausgelaugten Traditionen des sprachbezogenen, des politischen, des Liebes- und Alltagsgedichts vorführte. Die Energie, die solch offene Subtilität ausstrahlt, sollte in ihrer Langzeitwirkung nicht unterschätzt werden auf die zunächst oft noch ungelenken Abtastversuche der Jüngeren an der Offenheit weltlyrisch geprägter Integrationsvorstöße, die Falkners Gedichten eignet.

Dass sich – eine historisch neuartige Situation – die individuell entwickelten Poetiken der in den achtziger Jahren reüssierenden Dichter nach dem Geschichtscrash 1990 weder auf einen anziehenden Gruppenkonsens noch auf eine Gesellschaftsvorstellung noch auf irgendeine Art durchzusetzender zeitgemäßer Lyriktheorie beziehen konnten, da der Echoraum weitgehend in sich zusammenfiel, dämpfte merkbar die Lust hier anzuschließen. ‘Nach den Avantgarden’ hieß dann für die Nachrückenden schlicht und scheinbar das Zurückgeworfensein auf den unmittelbaren Erfahrungsraum und auf das im allgegenwärtig zuhandenen ‘anything goes’ Adaptierbare, zumal immer weniger Kenner das Imitat als Imitat herauslesen bzw. -hören konnten. Deshalb folgten Literaturkritiker, denen der Bruch mit dem lyrischen mainstream der ‘Neuen Subjektivität’ in den achtziger Jahren ästhetisches Initialerlebnis war, einem bedingten Reflex, als sie die Anschlussmodi der jungen Lyriker auf den Grundübel-Täter Rolf-Dieter Brinkmann reduzierten.

3. Problembereich Lyrikgeschichtliche Traditionsannahmen

Dieser dritte Kritikpunkt Gerhard Falknersdesverengten Blickes auf lyrikgeschichtliche Traditionsbildung bindet sich zum einen methodisch in die Polarisierungsvorhaben der Literaturkritiker ein, wie er zum anderen verhindert, dass die Modi von Intertextualität nuanciert werden können. Denn die Tendenzbeschreibung deskriptiver Nahaufnahme verdeckt die tatsächliche Vielfalt von Beziehungsbildungen und vor allem ihre Funktionen in den lyrischen Sondagen. Die sorgsamen Anleihen, die etwa Thomas Kunst bei Henri Michaux, Monica Rinck bei Inger Christensen, Christian Lehnert und Uwe Tellkamp bei Wolfgang Hilbig, Beatrix Haustein bei Inge Müller oder Tom Schulz bei Thomas Brasch nehmen, bezeugen ein durchaus breit gefächertes Spektrum an lyrikgeschichtlichen Korrespondenzen. Diese Rückbezüge sind weitgehend frei von programmatischen poetologischen Standortbestimmungen. Vielmehr handelt es sich, wie Ulrike Draesner treffend feststellt, ‘um Verbindungsarbeit – das Aufgreifen verlorener Fäden, Bereicherung, Ausweitung’,xxxviii das eher unaufdringliche Einweben von Traditionsfäden in die Textur. Die Unaufgeregtheit, mit der dies geschieht, erklärt sich nicht zuletzt aus dem selbstverständlich gewordenen Gebrauch von Techniken aus der Musik- und Filmindustrie in der Lyrik, die in den achtziger Jahren von Gerhard Falkner, Thomas Kling und Marcel Beyer eingeführt worden waren. Im Cuttern, Überblenden, Sampeln und Ineineinanderschneiden von Material werden Traditionsbestände als zuhandenes Material betrachtet wie andere Materialien auch. Durch all die Lässigkeitsattitüden scheinen freilich immer noch die alten Orientierungsfragen des Ich in neuer Brechung: Wo kann sich das Ich noch etwaiger Haltepunkte versichern in einer total beschleunigten, durchmedialisierten Welt der Daten- und Warenströme, die rascher denn je auch die Hoffnungen auf nicht warenförmige Momente geglückten Lebens als Illusion einzukassieren dem einzelnen gegenübertritt.

Symptomatisch für die generelle Situation, in der sich die jungen Lyrikerinnen und Lyriker bewegen, ist das Ende eines ‘Beat-Gedichts’ von Rainer Stolz:

Da sah ich die Kunst: ein Turm aus Schrott.

Drumherum lungerten Warengruppen.

Ich sah wie Kontrakte sich schlossen.

Ich ging gespenstisch um in vertrauten Ketten.

Wieder trat die Utopie hart ein.

Happyendverbraucher sah ich

und ging rasch zum Bäcker.xxxix

Der Kurzschluss von Zitatresten ideologischer Provenienz mit Alltagsverweisen und Wort­neubildungen – ‘Happyendverbraucher’ – generiert einen leichthin zusammengeschnittenen Mix von Befindlichkeitskundgabe und Reflexion, der jedoch kaum über die Beschreibung eines Dilemmas hinwegzutäuschen vermag: Noch jede rebellische Geste, noch jedes Fünkchen Utopie wird in der fast vollständigen Umklammerung der Wa­rengesellschaft scheinbar in konsumierbaren Pop verwandelt. Um so schwieriger erscheint dann die Sache mit der Ich-Bildung, denn:

in den dunklen boutiquen der ichbildung

finden wir kinder, gefahren und penisse vor

sag vorhang, sag dingdong, sag deutung

entfährt es Monica Rinck beim ‘shopping mit melanie klein’,xl bei BjörnKuhligk ist ‘die Ich-Funktion … einkaufen gegangen’.xli Der Zugriff auf Kleinrealien des Lebens als Konsument (zum Bäcker gehen, in Boutiquen, überhaupt einkaufen) erfolgt hier keineswegs naiv wie in vielen Gedichten der alten ‘Neuen Subjektivität’, in der die Abkehr von ideologiebefrachteter Reflexion bereits als subjektiver Befreiungsakt deklariert wurde. Schon deshalb greift eine Kritik, die auf die Widergängerei Brinkmanns fokussiert ist, zu kurz. Die auffällige Beschwörung von Naturzeichen bevorzugt nicht eine Rückkehr zum traditionellen Naturgedicht als Gegenbild zu urbanen Zumutungen, sondern problematisiert eine Wahrnehmungsweise, die Naturenklaven nur noch als fremd bzw. semiotisch reflektiert aufnehmen kann. Ron Winkler etwa, dem immerhin 2005 der Leonce-und-Lena-Preis im Darmstädter Wettlesen zugesprochen wurde, überraschte die Jury nach seinem Entrée 2003 aus Geschichtszeichenmythologe in den Fußstapfen von Heiner Müller, Volker Braun und Durs Grünbein 2005 mit sprachlichen Genauigkeitsessenzen, in denen alle modischen Anklänge an beiläufiges Sprechen getilgt worden waren. Um aufleuchtende ‘glimpses’(T.S.Eliot) herum tuscht Winkler Ausfühlungen und Sprachweitungen im Spannungsfeld von Wahrnehmung, Sprachintuition, Reflexion. Unüberlesbar deshalb das Bemühen um Konzentration auf das tragende Bild und darauf, in den behutsamen Erweiterungsgängen die Sprachspannung aufrecht zu erhalten. Den Großteil der Gedichte tragen Naturetüden, doch stets erscheint Landschaft als Textur. Eine ‘kleine maritime Poetik’xlii bringt es auf den Punkt:

[…] die Brand­gänse

über dir lassen sich damit nicht löschen.

sie bleiben übrig, der Text bleibt dahinter

zurück, verbreitet das Bild eines Menschen,

der Steine aufliest als Bilder.

Der Prozess der Signifikation er­scheint, durchaus im Sinne Derridas, symbolisch als unabschließbar, weil jede Benennungsbewegung eine neue Benennungslücke offen­bart, in die die poetische Phantasie springen und neue Bildbewegun­gen auslösen kann.

Interessanterweise sah sich Michael Braun hier und auch in Hinblick auf Anthologie-Autoren wie Monica Rinck, Nico Bleutge oder Hendrik Jackson genötigt, seine Apodiktik der Verurteilungen partiell zurückzunehmen:

man war verblüfft über die poetische Wandlungsfähigkeit dieses Autors. Der geschichtsphilosophische Überflieger hatte sich in einen urban-ironischen Betrachter der Natur verwandelt. Seine ländliche Elegie hält sich jede Idyllik vom Leib, indem sie Natur mit diskreter Reflexion auf ironischer Halbdistanz hält: ‘in manchen Glockenblumen / schwingen Kirchenversuche. / die Katzen unverändert / per Sie mit ihrer Umgebung / die Vögel sind überstimmt. Sie beschließen / den Tag im silent mode’.xliii

Verwandelt hatte sich Ron Winkler eigentlich nicht, sondern eine Klausur eingelegt, die das bereits in seinen Texten Angelegte schärfen konnte. Ähnliches ließe sich über andere Autoren der Anthologie berichten. Es dämmert der routinierten Lyrikkritik, dass das so sein könnte. Es wird sich lohnen, über den darunterliegenden kulturellen Konflikt, der für einen Moment offen sichtbar wurde, weiter nachzudenken.


Peter Geist

iAnmerkungen

 ‘Durs Grünbein,’ in: Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski, Peter Waterhouse: Die Schweizer Korrektur, Engeler: Basel, 1995, S. 1 – 21, hier S. 27.

ii Michael Braun, ‘Ganz kleine Verschiebungen. Statt einer Gebrauchsanweisung: Elf Fußnoten zum “verlorenen Alphabet,’ in: Michael Braun und Hans Thill, Hrsg., Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre, Wunderhorn: Heidelberg, 1998, S. 205 – 212, hier S. 205.

iii Vgl. Theo Elm, ‘Einleitung,’ in: Theo Elm, Hrsg., Lyrik der neunziger Jahre, Reclam: Stuttgart, 2000, S. 15 – 35, hier S. 25.

iv Björn Kuhligk und Jan Wagner, Hrsg., Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen. Mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont: Köln, 2003 (zitiert als LJ).

v Gerhard Falkner, ‘Vorwort,’ S. 11.

vi Michael Braun, ‘Freiwillige Abstürze in die poetische Unterkomplexität: “74 Stimmen” vereinigen sich zum misstönenden Konzert einer “Lyrik von JETZT”, in: Basler Zeitung; 25.07.2003; Seite 32

vii Ebenda.

viii Ebenda.

ix Ebenda.

x Sebastian Kiefer, ‘Was dürfen wir hoffen? Eine neue Dichtergeneration drängt auf den Markt’, in: kolik. Zeitschrift für literatur, 24 (2003), S. 5 – 32, hier S. 5.

xi Ebenda, S. 3.

xii Ebenda, S. 4.

xiii Ebenda, S. 5-

xiv Ebenda.

xv Ebenda, S. 5.

xvi Ebenda, S. 10.

xvii Ebenda, S. 12.

xviii Ebenda, S. 17.

xix Ebenda, S. 20.

xx Ebenda, S. 20

xxi Ebenda.

xxii Hendrik Jackson, ‘Privates und Pittoreskes – Eine Polemik,’in: www.lyrikkritik.de.

xxiii Ebenda.

xxiv Ebenda.

xxv Ebenda.

xxvi Ebenda.

xxvii Gerhard Falkner, ‘Baumfällen. Zur Phänomenologie des Niedermachens in der deutschen Literaturkritik am Beispiel Michael Brauns und des Bandes “Lyrik von Jetzt”,’ in: ndl 2 (2004), , S. 121 – 131.

xxviii Siehe etwa Gerhard Falkner, Über den Unwert des Gedichts. Fragemente und Reflexionen, Aufbau: Berlin, 1993.

xxixRichard Herzinger, ‘Jung, schick und heiter. Im schönen Schein der Marktwirtschaft: Der Literaturbetrieb entwickelt sich zur neuen Sparte der Lifestyle-Industrie,’ in: Die Zeit 13, 29. Mai 1999.

xxx Michael Braun, ‘Freiwillige Abstürze in die poetische Unterkomplexität: “74 Stimmen” vereinigen sich zum misstönenden Konzert einer “Lyrik von JETZT”, a.a.O.

xxxi Vgl. Rolf Grimminger, ‘Aufstand der Dinge und der Schreibweisen. Über Literatur und Kultur der Moderne,’ in: Rolf Grimminger, Jurij Murašov, Jörn Stückrath: Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Rowohlt: Reinbek, 1995, , S. 12 – 40, hier S. 21f.

xxxii Hauke Hückstädt, ‘Auf halber Strecke,’ in: LJ, S. 41

xxxiii Tom Schulz, ‘Ich bin eine geräuschlose Maschine,’ ebenda, S. 349.

xxxiv Marion Poschmann, ‘winterliche Anwendung mit Teelichtern,’ ebenda, S. 33.

xxxv Björn Kuhligk, ‘Der Stoff, aus dem die Welt,’ ebenda, S. 157.

xxxvi Ron Winkler, ‘Systemverlust,’ ebenda, S. 305.

xxxvii Bertolt Brecht, ‘Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker,’, in: Bertolt Brecht, Ausgewählte Werke in 6 Bänden,Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M., 1997, S. 49.

xxxviii Ulrike Draesner, ‘Gespräch um Zuneigung,’ in: bellatriste. Zeitschrift für junge Literatur, 11 (Februar 2005), S. 54-63, hier S. 55

xxxix Rainer Stolz, ‘Beat-Gedicht,’ in: LJ, S. 59.

xl Monica Rinck, ‘shopping mit melanie klein,’ ebenda, S. 22.

xli Björn Kuhligk, ‘Der Stoff, aus dem die Welt,’ ebenda, S. 157.

xlii Ron Winkler, ‛kleine maritime Poetik’, in: vereinzelt Passanten, Idstein 2004, S. 48.

xliii Michael Braun, ‘Die Vögel sind überstimmt,’ in: Frankfurter Rundschau, 16. 03. 2005.