Die Definition einer Sache lässt diese gleichsam erstarren. Ihre Bedeutung ist von nun an festgelegt, ihre Möglichkeiten gekappt, die Entfaltung auf DinA-Maße beschränkt. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte, der Literaturgeschichte wie der persönlichen, der Biografie. Beflissen sammelt man retrospektiv all jenes auf, was sich zum Zeitpunkt des Schreibens, Lesens und Lebens noch wand und zappelte, mit Händen und Versen gegen eine Einordnung wehrte, um es mit klebriger Bedeutung zu laminieren.
Elke Erb, Jahrgang 1938, geht mit ihrem jüngsten Band den umgekehrten Weg. Unter dem programmatischen Titel „Gedichtverdacht“ versammelt sie Gedichte aber auch Tagebucheinträge, Reflexionen, Lektüren und Notate und über Jahrzehnte hinweg entstandene Texte. Erb hat viele ihrer Texte aus den 70er und 80er Jahren „geholt“, was den Eindruck formaler Heterogenität nur noch verstärkt. Da will ein Werk nicht nur lebendig bleiben oder gewesen sein, da will es erst geholt werden von der Hebamme, da will es allererst geboren werden.
Der Titel darf man zudem als Augenzwinkern verstehen, als Aufmunterung für jene, die manchen Text als schwer zugänglich befinden dürften oder einen roten Faden vermissen. Der Verdacht ist das vorherrschende Gefühl des Lesers, der oft nicht sicher sein kann, worum es sich handelt, was verhandelt oder wer der überhaupt der Händler ist. Elke Erbs Ich lässt seiner nicht habhaft werden, es ist ruhelos, flieht vor einer Bedeutung, ruht in sich nur als Paradox: sein Beharren auf Eigenständigkeit beruht auf der Flucht vor der Feststellung.
„Individualität. Schützt sie,
schätzt sie,
wo ihr sie trefft.“
Eines der Gedichte ist „Tagebuchbeute aus dem Bertelsmann-Taschenlexikon“ überschrieben. Es geht um das Volk der Petschenegen. Erb bricht den Eintrag auf, setzt ihn in Verse, kommentiert und stört die Nüchternheit, ironisiert die bürokratische Beschreibung, ringt ihr Literatur ab, das heißt in diesem Falle: Leben. „Poesie ist ist schlichthin Glück“ heißt es an anderer Stelle, was heißt: Erb, diese Optimistin, verdächtigt jeden Text, aber auch jede Anschauung des Poetischen. Das Glück ist bei ihr die Unabgeschlossenheit, ihre Arbeit am Begriff ist ein Anzweifeln desselben. Kinder und Poesie sind belebt von diesem Zauber des Unbestimmten, jede Seite ein Ausflug in terra incognita.
„– Wo war ich denn – Weißrußland, wo die Kinder im Kulturhaus alte Volkslieder sangen, und ich spürte beider, der Lieder wie der Kinder,
belebende Beschwörungskraft.“
Erb zitiert aus Leo Trotzkis Biografie, dessen Reflexionen man als Poetik des Bandes lesen darf: „Man kann mein damaliges Lesen vielleicht am besten mit dem nächtlichen Fahren über die Steppenwege vergleichen, man hört das Knarren der Räder, sich kreuzende Stimmen, Scheiterhaufen am Wege treten aus der Dunkelheit hervor – alles erscheint so vertraut zu fühlen, warum, gleichzeitig jedoch unbegreiflich: was geschieht da, wer fährt da und zu welchem Zwecke; es ist sogar unklar, wohin du selber fährst, vorwärts oder rückwärts. Aber beim Lesen ist niemand da, der dir, wie Onkel Grigorij in der Steppe, erklärt: unsere Fuhrleute fahren den Weizen.“
Die Kunst befreit die Welt aus der Umklammerung der Gewissheiten. Es ist ein heiteres Projekt, bei aller Schlaflosigkeit, über die hier oft geklagt wird. Wie sollte ein solches Ich auch ruhen können, das doch allen Zuständen Beine macht, das weder Nacht noch Tag bejahen darf? Oft ist von Licht und Dunkelheit die Rede, von der Sonne, von Schatten, von Lampen, die aber keine Orientierung bieten.
„Ich schaltete die Lampe an und erwartete,
daß sie mich zu irgendetwas führt!
Es ereignete sich nichts.“
Das Terrain ist unsicher, muss es sein, weil die Dichotomien der Poesie nur den Weg ins Offene versperren würden. Die Welt funkelt und irrlichtert; hier ist keine Aufklärung zu erwarten, keine Orientierung. Sehen, Denken und Lesen sind gütige Wächter dieses Irrgartens. Erb lädt ein zu Auswegen aus der sogenannten Wirklichkeit, auf ein Abenteuer im Jenseits des kalten Wissens.
Michael Wolf