Im Alter von 37 Jahren verlor der Dichter Friedrich Hölderlin seinen Verstand. Sein Arzt gab ihn 1807 auf, befand ihn unheilbar geisteskrank. Man überließ ihn der Obhut eines Verehrers des Hyperion, des Tübinger Tischlers Ernst Zimmer. In dessen Haus, genauer in einer Stube des Turmes, der heute Hölderlin-Turm genannt wird, verbrachte er seine letzten Lebensjahrzehnte wohl überwiegend in geistiger Umnachtung. Gedichte schrieb er kaum noch. Nur sehr wenige Texte sind überliefert: formal anspruchslose, redundante, ans Banale grenzende Naturbetrachtungen und Reflektionen über die Jahreszeiten, womöglich nur aus Verlegenheit für gelegentliche Besucher verfasst. Der Hölderlin, der hier schreibt, hat keine Ähnlichkeit mit dem Hölderlin, der die Lyrik bis heute prägt. Womöglich blieb ihm noch genug Bewusstsein seines früheren Selbst, um diese Zäsur deutlich zu markieren: Denn Hölderlin signierte unter Pseudonym, zeichnete einige seiner spätesten Gedichte: „mit Untertänigkeit: Scardanelli“.
166 Jahre nach Hölderlins Tod nennt Friederike Mayröcker einen Gedichtband „Scardanelli“. Fast alle Texte entstanden im Jahr 2008, Mayröcker war zu diesem Zeitpunkt bereits 84 Jahre alt. Der drohende Tod ist das drängendes Thema ihres Bandes, ein Text ist überschrieben mit der Zeile: „meine Hysterie ist die Sucht geliebt zu werden ist die Angst nicht mehr schreiben zu können ist die Angst sterben zu müssen„. Harte, klare, ehrliche, aber vor allem offene Worte sind das. Sie laden ein: zur Gegnerschaft, zur Rebellion gegen den Tod. Denn Mayröcker ergibt sich nicht in ihr Schicksal, ihr Schreiben ist ein Anschreiben gegen das Unausweichliche.
Wie passt Hölderlin hierzu? Zunächst dadurch, dass Scardanelli die letzte Metamorphose eines Künstlers war, der sich den geläufigen Zugriffen und Interpretationen seiner Gegenwart entzog, der sich selbst als Dichter und damit auch die Dichtung im Ganzen neu erfand. „Scardanelli“ lässt sich als Chiffre für einen Umgang mit dem Ende verstehen, also dem großen Thema Mayröckers.
Ihr Krisenmanagement angesichts der drohenden größten menschlichen Katastrophe erinnert zudem an Hölderlins Poetik. Sein Interesse an der griechischen Mythologie war kein rein literarisches und auch kein bildungsbürgerliches. Hölderlin glaubte an diese Götter, wenngleich nicht im theologischen Sinne. Für ihn offenbarten sich die Gottheiten in intensiv erfahrenen Momenten, sie waren ihm Personifikationen der Gefühle, Stimmungen, Mächte, die einen Menschen durchs Leben leiten. Ihre Erfahrung war für ihm umso intensiver, je gekonnter er sie schreibend heraufbeschwören konnte. Man könnte sagen: Die Götter hingen von ihm ab, sie lebten und starben mit dem Zustand seines Genius. Seine geistige Zerrüttung erscheint in diesem Licht fast unausweichlich, trug er doch den ganzen Olymp auf seinen Schultern.
Friederike Mayröcker lastet sich eine nicht weniger schwere Last auf. An ihrem Schreiben hängt die Fortexistenz all dessen ab, was sie erlebte, wen sie liebte, was sie sah und heute noch erfährt. Auch ihre Gedichte haben etwas Religiöses an sich, es sind Beschwörungen. Sie sind sind überfüllt mit Zitaten, teils auch Namen ihrer Weggefährte oder Widmungen. Ernst Jandl natürlich, Elke Erb, immer wieder Hölderlin, John Updike, Thomas Kling und viele andere tauchen auf. Zitate, Erinnerungen an Reisen und Begegnungen stehen gleichberechtigt daneben. In diesem Archiv fallen das Leben, das Lesen und das Schreiben fallen in eins.
„… ich möchte bleiben die Lupe in der Hand ich möchte / leben Hand in Hand mit Scardanelli, das Lamm in meinem Bett / die Schäbigkeit meiner Zwischenzeit ekstatisch ahnunglos (ent- / flammt wie damals als Vater mich fotografierte in meinem weiszen Kleid und 1 Strähne Haar (hatte den Kopf gedreht) ins Auge wehte -“
Mayröckers Ich dichtet gegen den eigenen Tod an. Aber nicht für sich allein, sondern in Gemeinschaft anderer. Sie exekutiert damit keine Theorie von Intertextualität, ihr Schreiben ist nicht nur ein Schreiben mit, sondern auch ein Schreiben für die anderen, um die Gemeinde zusammenzuhalten. Es ist ein Heimkommen in der Sprache, in der die Gefährten auf Errettung warten. Diese Rettung kann nur darin bestehen, sie vor dem Vergessen, vor dem Vergehen zu bewahren. Es gilt, sie alle nicht mit dem eigenen schwachen Körper mit ins Verderben zu ziehen.
„es rissen sich los die Worte am heutigen
Morgen ich spucke Blut keuche durch Amselgärten und
Blüthentod habe die Fische gewickelt in altes Zeitungspapier“
Mayröckers Ich trägt eine ungeheure Verantwortung für die Geliebten, die Freunde, für all die Wörter, die ganze Welt, das Leben schlechthin, hier vor allem in floraler Gestalt. Es hängt von diesem Ich ab, die mittlerweile längst verblühten Blumen nicht ein zweites Mal sterben zu lassen. Ihre Gedichte sind ein Inventar des Gefühlten und Erlebten, eine letzte Ausflucht für alles, was mit ihr eines Tages verschwinden wird. Das Ich, das sich hier äußert, ist nicht eigentlich ein lyrisches, denn ein erinnerndes, ein erinnerliches. Es ist nur noch in der Erinnerung, sein Sein hängt ganz vom Schreiben ab, es ist „knallharte Mnemotechnik, Gedächtniskunst“.
Tieftraurig ist dieses Unterfangen, weil der Ausgang schon feststeht, doch nie sentimental, weil hier schlicht zu viel auf dem Spiel steht: Wiederholung als existenzielle Aufgabe, Rekreation gegen die Erschöpfung. „Scardanelli“ – das ist pure Melancholie, aber ohne die implizierte Schwäche.
Für Freud war der Melancholiker ein Trauernder, der den Verlust des geliebten Objekts nicht anerkennt, es sich einverleibt, sodass es in sich selbst weiterleben kann. Die Melancholiker dieses Bandes trägt nicht nur ein Objekt in sich, sondern eine ganze Welt. Man liest und staunt: So viel Liebe muss man erst mal aufgebracht haben, so viel Liebe man sich bewahrt haben, um eine ganze Welt vor dem Untergang zu verteidigen. Was für eine Hybris, was für ein Heldentum.
Michael Wolf