Michael Wolf – Zu Walter Benjamins „Aufgabe des Übersetzers“ (Entwurf)

Walter Benjamin unterscheidet in seinem Essay zwischen der Intention des Gemeinten und der Art des Meinens. Sein Beispiel von „Brot“ und „pain“ aufnehmend, würden beide Wörter gleichermaßen der Intention des Gemeinten gerecht, nicht aber der Art des Meines, womit Benjamin die unterschiedliche „kulturelle Aufladung“ (Hilfsausdruck) meint, die mit den jeweils verschiedenen Wörter abgerufen werden. Man könnte mit Benjamin sagen, dass ein Deutscher an etwas anderes denkt, wenn er Brot sagt als ein Franzose, wenn er pain sagt. Der Übersetzer sollte sich für Benjamin sehr viel stärker einer Übersetzung der Art des Meinens verpflichtet fühlen, also der in jeder Sprache unterschiedlich ausfallenden Konnotation bei der Bezeichnung eines Gegenstandes.

 

„Sie (die Aufgabe des Übersetzers) besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird.“ Die Aufgabe besteht also nicht darin, pedantisch ähnliche Wörter zu finden, sondern das, was durch die Wörter der Originalsprache evoziert wird, was gleichsam mitschwingt. Für die Arbeit des Übersetzers ist damit nicht ein Wörterbuch wichtigstes Hilfsmittel.

 

„Die Übersetzung (…) sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.“ Die Dichtung organisiert sich innerhalb der Original-Sprache, im „Bergwald der Sprache“ also insofern, als es sich dabei um eine Art organische Struktur handelt, in der sich die Original-Dichtung entfaltet. Für den Übersetzer gilt es nun, das Original auf eine solche Weise widerhallen zu lassen, dass es in der Zielsprache eine möglichst ähnliche Konnotation hervorruft.

 

Für die Arbeit des Lyrik-Übersetzens entnehme ich dem die folgenden Punkte:

1. Der Erfolg einer Übersetzung besteht nicht in Exaktheit des Wortlauts, sondern in einer Annäherung an das, was mitschwingt. Dieses Mitschwingen, diese Konnotation zieht Benjamin der Exaktheit des Ausdrucks vor.

 

2. Daraus folgt, dass der Übersetzer nicht nur die Original-Sprache beherrschen muss, sondern auch über profunde Kenntnisse z.B. in Kultur und Geschichte der Kultur benötigt, aus dessen Sprache er übersetzt. Nur so kann er in der Zielsprache eine Sprache finden, die einem Echo des Originals gleichkommt. Ähnliches gilt für den Kritiker von Lyrikübersetzungen. Seine Aufgabe läge darin, die Schwingungen (Hilfsausdruck) des Originals mit deren Echo in der Übersetzung zu vergleichen.

 

3. Die Übersetzungsarbeit erschöpft sich nicht nur in einer Übertragung, sondern ist auch Bearbeitung der eigenen Sprache. Sie kann modelliert/variiert werden, wenn es der Übersetzungsleistung dient. Während die Dichtung in der Originalsprache als organisch angesehen werden kann (Bergwald), ist die Zielsprache im Akt des Übersetzens veränderbar. Die Zielsprache wird dadurch bereichert, dass mit ihr etwas ausgedrückt werden soll, was in ihr noch keinen Ausdruck hat. Der Übersetzer genießt damit zwei Freiheiten: 1. sich von dem Wortlaut des Originals so weit zu entfernen wie er es für nötig erachtet, solange das Original die gleichen Saiten in der fremden Sprache zum Klingen bringt. 2. die Zielsprache so weit zu bearbeiten, wie es das Original verlangt und damit auch über deren bisherigen Grenzen hinauszugehen

 

4. Wenngleich Benjamin dem Übersetzer also viele Freiheiten überlässt, ist mit ihm doch keine „Neu-Dichtung“ erwünscht. Der Übersetzer darf sicher dichterische Mittel einsetzen, aber er ist nicht schöpferisch tätig, soll nichts erfinden, sondern (nur) eine Entsprechung finden.