Selene Mariani

Aber ich hatte ja die Nominierung

Über eine Autorinnenkarriere und die Abhängigkeit von Wettbewerbsformaten

 

Und, wusstest du schon immer, dass du Autorin werden wolltest? Die Frage wird mir häufig gestellt und ich ärgere mich jedes Mal ein bisschen, dass ich mit Ja antworten muss. Dass ich, was das angeht, dem Klischee entspreche. Ich erinnere mich daran, wie ich mit acht oder neun in meinem Kinderzimmer saß und auf Druckerpapier mit einem orangenen Fineliner den Anfang meines ersten „Romans“ schrieb. Er wurde immerhin dreißig Seiten lang. Danach verlor ich die Motivation. Nicht, weil mir das Schreiben keinen Spaß gemacht hätte, sondern wegen der Reaktionen der Außenwelt: Wie süß das sei, ich solle mir aber keine Hoffnungen machen. Ein Buch zu veröffentlichen sei sehr schwer, selbst die großen Klassiker seien ganz oft abgelehnt worden, außerdem sei Autorin auch gar kein richtiger Beruf, und in meinem Alter hätte ich ja noch nichts über die Welt zu sagen (Letzteres bekomme ich übrigens mit fast dreißig immer noch zu hören.).

Zum Glück war mein Wunsch hartnäckig und ich begann irgendwann trotzdem wieder zu schreiben. Allerdings hatte ich jetzt eine Begleiterin: Verzweiflung. Ich dachte nicht mehr, wenn ich einfach weitermachte und mich bemühte, würde es schon klappen. Ich dachte: Ich kann so dankbar sein, wenn irgendjemand jemals irgendetwas, das ich geschrieben habe, lesen möchte.

Lange Zeit hatte ich keine Ahnung, wie ich meinem Traum näherkommen konnte. Irgendwann zog ich nach Berlin und traf dort erstmals Menschen, die als Autor:innen tätig waren. Sie erzählten, dass Nominierungen, Preise und Stipendien der beste Weg seien, mir meine literarische Karriere aufzubauen.

Also begann ich mich zu bewerben und hatte irgendwann meinen ersten Erfolg: Ich wurde mit neun anderen Schreibenden für einen Preis nominiert. Ich konnte es kaum glauben. Mir wurde per Mail mitgeteilt, wann das obligatorische „Lesen zum Endausscheid“ stattfinden sollte. Am Ende stand der Hinweis, dass leider keine Kosten für Fahrt und Unterkunft übernommen werden könnten. Das machte mir jedoch nichts aus. Mehr noch: Ich hätte wahrscheinlich jeden wichtigen Termin verschoben und vielleicht sogar Geld dafür bezahlt, um dort auftreten zu dürfen. Warum? Siehe oben: Ich war einfach nur dankbar für die Chance, als Autorin wahrgenommen zu werden. Ich fuhr also hin, auch, wenn mir vor Aufregung übel war. Kein Wunder – ich war einundzwanzig und das war meine allererste Lesung vor Publikum: ein Wettlesen gegen Konkurrent:innen vor einer Jury, in der Menschen aus bekannten Literaturagenturen und -verlagen saßen. Ich setzte mich an den kleinen Tisch in der Mitte der Bühne, die Blätter in meinen Händen zitterten, das Wasserglas vor mir wackelte bedrohlich, ich las atemlos meinen Text. Natürlich verlor ich. Aber ich hatte ja die Nominierung, sagte ich mir.

Später bewarb ich mich für ein Studium am Hildesheimer Literaturinstitut, wurde angenommen, schrieb mit einem Kollegen ein Hörspiel, reichte es bei einem Wettbewerb ein. Das Hörspiel wurde für eine der Preiskategorien nominiert. Teil des Wettbewerbs war auch hier, dass die Stücke vor Publikum präsentiert werden mussten. Wir fuhren also hin. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich die Kosten erstattet bekommen oder ein Honorar erhalten hätte. Vor Ort wurde jedes Hörspiel vorgespielt, danach wurde das jeweilige Team auf die Bühne gebeten und musste eine Überraschungsfrage der Moderation beantworten – was wir gefragt wurden, weiß ich nicht mehr, ich kann mich nur noch erinnern, dass ich frustriert war, weil es nichts mit unserem Hörspiel zu tun hatte. Dann wurde abgestimmt: Das Publikum hatte Zettel, auf denen es seinen Favoriten wählen sollte. Es gewannen natürlich die Hörspiele mit der größten Fanbase im Raum. Da wir zu zweit angereist waren, hatten wir keine Chance. Aber wir hatten ja die Nominierung.

Danach bewarb ich mich eine ganze Zeit lang nicht mehr, weil ich damit beschäftigt war, mich zu fragen, ob ich als Autorin überhaupt irgendetwas taugte. Unter anderem lag das daran, dass mein Mentor am Literaturinstitut die Kurzgeschichte gelesen hatte, mit der ich damals für den Preis nominiert worden war, und mir dazu folgende Rückmeldung gab: vollkommen langweilig, höchstens noch zu retten, indem ich ein Tier einbaute. Ein Tier, fragte ich nach. Ja, ein Tier.  Wie ich ein Tier in meinen Text einbauen sollte, der von diskriminierenden Übergriffen auf ein queeres Paar handelte, wusste ich einfach nicht.

Irgendwann fand ich eine Mentorin, die mich bestärkte, und arbeitete an meinem ersten Romanprojekt. Ich begann mich wieder für Wettbewerbe und Stipendien zu bewerben. Das ist übrigens eine Tätigkeit, die gut mit einer Vollzeitstelle besetzt werden könnte: Man muss regelmäßig nach Ausschreibungen suchen, die für einen in Frage kommen und sich mit den Anforderungen auseinandersetzen. Dem Lebenslauf muss ein Motivationsschreiben beiliegen, und dazu Arbeitsproben – manchmal wird verlangt, dass man zu einem bestimmten Stichwort einen neuen Text verfasst. Fast immer muss man im Copyshop Berge an Papier ausdrucken, denn die Einsendung wird „postalisch und in sechsfacher Ausführung“ gebraucht.

Da hat man einen Tag oder eine Woche lang an der Bewerbung gesessen, Geld und Nerven verloren, um dann in einem halben Jahr eine Absage zu bekommen. Meistens sind es Absagen. Aber das ist wie bei diesen Spielzeugautomaten auf Jahrmärkten – meistens greift man frustriert ins Leere, aber manchmal klappt es eben doch – und deshalb versucht man es immer wieder.

Auch bei mir klappte es irgendwann erneut: Ich bekam einen Platz in einer Textwerkstatt, die in Kombination mit einer Preisverleihung stattfand. Wer den mit tausend Euro dotierten Preis erhielt, sollten wir als Teilnehmende entscheiden. Vorher aber sollte ja die Werkstatt stattfinden, in der wir gemeinsam an unseren Texten arbeiten sollten. Man kann sich vorstellen, wie entspannt die Atmosphäre ist, wenn von vornherein klar ist, dass am Ende nur eine Person gewinnen kann.

Ich weiß nicht, was das Unangenehmere war: das Gefühl, dass die anderen einen beäugen und überlegen, ob sie einen wählen sollen, oder die Gewissheit, dass ich mich für jemanden der anderen entscheiden musste. Die meiste Zeit schafften wir es trotz der latent angespannten Stimmung, einander wertschätzendes Feedback zu geben. In den Pausen lachten wir über die seltsame Situation und solidarisierten uns – zumindest fühlte es sich so an. Dann kam der Tag der Preisverleihung. Alle sollten ihre Favorit:innen auf einen Zettel schreiben. Die Gewinnerin wurde verkündet. Die Presse wuselte um sie herum, sie bekam den Preis, die Glückwünsche und das Geld. Wir anderen standen vereinzelt im Raum und traten auf der Stelle, bis wir schließlich nach Hause gingen. Aber wir hatten ja die Nominierung.

Was mir damals in Berlin erklärt wurde, stimmt. In der Literaturbranche gilt: Je mehr Nominierungen, desto öfter wird man für weitere Preise nominiert. Umso größer ist auch die Chance, dass man irgendwann einmal gewinnt, und die Aufmerksamkeit, die man für seine Arbeit bekommt.

Lange hatte ich deshalb das Gefühl, mir keine persönlichen Grenzen leisten zu können. Hätte ich das Wettlesen gegen andere Autor:innen gern vermieden? Natürlich. Fand ich es ungerecht, dass mein Hörspiel keinen Preis gewann, weil ich nicht genug Freund:innen im Publikum hatte? Klar. War es unangenehm und kontraproduktiv, mit Kolleg:innen an Texten zu arbeiten, nur um danach einen Gewinnertext wählen zu müssen? Auf jeden Fall. Trotzdem lächelte ich, gratulierte, sagte nichts.

Inzwischen habe ich zwei Bücher veröffentlicht und fühle mich nicht mehr ganz so verzweifelt wie vor ein paar Jahren. Erst jetzt traue ich mich langsam, meine Kritik zu äußern.

Und was die Verantwortlichen erwidern, verwundert mich: Du hättest ja nicht mitmachen müssen, sagen viele. Sie verkennen, dass Autor:innen, die eine Karriere anstreben, diese Wahl eben nicht haben. In der Literaturbranche können sich die, die Macht haben, vieles leisten. Sie können die unmöglichsten Anforderungen formulieren – vermutlich hätten sie sogar verlangen können, dass ich ein Tänzchen vor allen aufführte, und ich hätte es getan. Und damit bin ich nicht allein: Neulich habe ich mit einer etablierten Lyrikerin gesprochen, die mir erzählte, dass sie vor kurzem erstmals Geld für eine Veröffentlichung erhalten hat. Vorher sei sie einfach nur dankbar gewesen, dass jemand veröffentlichen wollte, was sie geschrieben hatte. (Veröffentlicht werden ist ein bisschen wie ein Kompliment zu bekommen – es würde als eingebildet wahrgenommen werden, wenn man sich nicht bedanken, stattdessen abwinken und sagen würde: Ach, ich weiß, dass ich schön bin. Oder eben: Dass mein Text etwas wert ist. Und zwar folgende Summe.)

Wenn ich kritisiere, dass der Wettbewerb gefördert wird, sagen Verantwortliche: Diese Konkurrenz gibt es ja auch im Literaturbetrieb. Ist doch gut, dann wirst du darauf vorbereitet.

Leider stimmt das, aber umso wichtiger ist es, dass wir Räume schaffen, die konkurrenzfrei sind, oder zumindest konkurrenzarm. Dass wir uns neue Formate überlegen, in denen es um Austausch und Kollaboration geht. Damit wir einander unterstützen können, statt uns gegenseitig bewerten zu müssen. Damit alle Nominierten ihren Anteil am Preisgeld erhalten und davon ihre nächsten Bücher schreiben können.

Übrigens finde ich es ungerecht, dass es bei den meisten Wettbewerbsformaten nicht reicht, einen guten Text zu schreiben – ich muss vor Ort sein, ihn vorlesen, Fragen dazu beantworten.

Dabei ist es so: Wenn ich als Autorin einen Text geschrieben habe, ist meine Arbeit eigentlich getan. Zu meiner Arbeit gehört es nicht, hübsch auszusehen, sympathisch zu wirken und möglichst ausdrucksstark zu lesen, damit mich ein Publikum oder eine Jury oder Kolleg:innen als Favoritin auswählen. Ich möchte, dass meine Arbeit prämiert wird. Und meine Arbeit ist der Text.

 

 

 

Selene Mariani wuchs in Verona und Dresden auf. Sie studierte am Hildesheimer Literaturinstitut und lebt heute in Hannover. 2021 erschien ihr Kurzprosaband „Miniaturen in Blau“ beim Re:sonar Verlag, 2022 ihr Roman „Ellis“ bei Wallstein. Nominierungen u.a. für den Literaturpreis Prenzlauer Berg, den Berliner Hörspielpreis und den BücherFrauen-Literaturpreis. Sie ist Mitgründerin des Vereins „Autor:innenzentrum Hannover“ und leitet Schreibwerkstätten.