Aber es geht doch um Literatur!
Aber lassen Sie uns über Geld reden
Was möchtest du werden, wurde ich als Kind gefragt, und ich sagte – Schriftsteller. Das sagte ich beharrlich, schrieb es in Klassenzeitungen, Freundschaftsbücher, die Schule dauerte an, dann ein Studium, die Geburt meines Kindes, eine Promotion, währenddessen schrieb ich weiter, es kamen drei Bücher heraus, bis mein Univertrag auslief und ich beschloss, selbständig zu werden. Natürlich hatte ich vorgesorgt, mit Lesungen, Stipendien und Preisen, hatte Angst und beschloss es zu wagen.
Mit dreißig also konnte ich endlich sagen – ja, ich bin Schriftsteller.
Die meiste Zeit schreibe ich allerdings keine Bücher, sondern E-Mails, Rechnungen und Finanzpläne. Ich trage jedes Honorar, das in Aussicht gestellt wird, für Lesungen, Workshops, Publikationen, in eine Tabelle ein und rechne aus, ob ich die Mindestsumme erreicht habe, um nach Abzug der Einkommenssteuer die Basics (wie Versicherungen, Website, Büromaterial) zu decken. Spätestens zum Ende des Jahres muss sich Soll und Haben decken, ich notiere, wer mir wieviel schuldig ist, da die Überweisungen manchmal Wochen und Monate dauern oder vergessen werden. Einmal im Monat überweise ich die Umsatzsteuer, viermal im Jahr zahle ich die Einkommenssteuer voraus, einmal im Jahr zahle ich sie nach, das Umsatzsteuergesetz lese ich wie ein Mönch die Bibel. Meine Miete kommt durch Preisgelder zusammen, von steuerfreien Stipendien versuche ich zu leben. Durch den Wechsel zu einem großen Verlag habe ich die Chance bekommen, vielleicht die einzige im Leben, etwas beiseitezulegen und vielleicht, irgendwann, wenn ich so alt werden sollte, eine kleine Wohnung zu kaufen, natürlich nicht in München.
Es gibt Lesungen, die mir mehr gefallen als andere, doch in erster Linie wäge ich ab, wie lange ich von Zug zu Zug springen muss und wie viel ich dafür bekomme. Natürlich gebe ich mir Mühe, in Kontakt mit dem Publikum zu treten, mich für sie und sie für meine Bücher zu interessieren, es macht Spaß, ja, aber ich versuche auch, nicht zu früh vor der Lesung zu erscheinen, eine Triptantablette mehr zu schlucken, manchmal ergreift mich Panik auf der Bühne und ich überlege, wie ich unbemerkt verschwinden könnte. Ich bekomme Anfragen wie „Gerne möchten wir Ihnen die Gelegenheit geben, aus Ihrem Werk vorzutragen“, unentgeltlich, versteht sich. Ich habe einen Text mit Honorarrichtlinien vom Verband deutscher Schriftsteller ver.di, Netzwerk Lyrik, Neustart Kultur etc. entworfen, die ich Kulturämtern und Vereinsvorständen schicke, eine Signatur mit Doktortitel soll taktvoll Eindruck verschaffen. Auch bin ich nicht an Stadtführungen interessiert und brauche vom Bahnhof nicht abgeholt zu werden, ich brauche keinen Blumenstrauß nach der Lesung, ich brauche Geld. Ich lebe in München, der teuersten Stadt Deutschlands, sage ich, allein für die Miete müsste ich, bei einem Bruttohonorar von dreihundert Euro, zehn Lesungen im Monat leisten und mich bei der Deutschen Bahn einquartieren. Manchmal ist es ruhig und friedlich im Waggon und manchmal riecht es nach Urin oder jemand vergisst die Kopfhörer seiner Kinder für ein Biene-Maja-Hörbuch oder schaut mir aus Langeweile über die Schulter oder ich habe keinen Sitzplatz, weil mein Zug ausgefallen ist und der nächste überfüllt, oder mir ist schwindlig und übel. Für eine Lesung in Hamburg, also mit bester Verbindung, sitze ich sieben Stunden im Zug hin und zurück, vierzehn Stunden in zwei Tagen, und nichts ist spannender, als irgendwo im Dunkeln nach dem Schienenersatzverkehr zu suchen. Je freudiger sich die Veranstalter zeigen, desto kleiner oft das Zimmer und desto schmaler das Bett. Ich weiß jetzt, dass es „kleine Einzelzimmer“ gibt, in denen man den Koffer in einem Spalt zwischen Bett und Tür am Boden öffnen kann, in anderen schiebe ich heimlich zwei Betten zusammen oder lege die Matratze auf den Boden, um mich auszustrecken.
Und die Konkurrenz, es ist nicht nur ein symbolischer Kampf um Nominierungen, die den Lebenslauf aufwerten, mal passiv (im Wartemodus einer Juryentscheidung), mal aktiv (auf eine Art, die an Germany’s Next Topmodel erinnert), er beruht auf der immensen ökonomischen Abhängigkeit der Autoren. Als mein letztes Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, meldeten sich Verlage, die das Manuskript zuvor abgelehnt hatten. Hätte man es auf die Shortlist gewählt, wäre der Preis für die Taschenbuchrechte doppelt so hoch ausgefallen. Hätte es bis zum Buchpreis gereicht, wäre um meine Miete der nächsten paar Jahre gesorgt, und ich fieberte mit und spürte, wie hilflos ich eigentlich bin. Neulich hatte irgendwer die Liste meiner Auszeichnungen auf Wikipedia gelöscht und ich wurde so wütend, als hätte man mir ins Gesicht geschlagen, als wären all die jahrelangen beharrlichen Bewerbungen und Absagen nichts wert.
Ein gewisses Maß an Erniedrigung gehört dazu, etwa bei Wettbewerbslesungen, wenn Texte zu Attributen ihrer Urheber werden, die eine möglichst originelle Show abhalten sollen. Gute Fotos, gutes Aussehen gehören ebenfalls zum Image dazu, vor allem bei Frauen, gern würde ich die ganzen Blazer und Kleider von der Steuer absetzen. Ich verstehe es als eine Machtdemonstration von Jurys, die sich selbst zur Geltung bringen, und eine voyeuristische Praktik, die alles außer Büchern zu verwerten weiß. Vor der Auswahllesung zum Märkischen Stipendium haben wir, drei Autorinnen, beschlossen, nicht gegeneinander zu kämpfen, sondern das Geld untereinander aufzuteilen, egal, wer es bekommen sollte (uns wurde kein Honorar gezahlt; das Konzept sah vor, dass zwei von uns umsonst angereist wären). Es war für mich ein wunderbares und seltenes Erlebnis, eine Solidarität auf der Bühne – dafür wurde uns die Umsetzung schwer gemacht. Zur feierlichen Verleihung bekam ich stellvertretend die genaue Adresse am Abend davor, buchte Bahntickets, Hotel auf eigene Kosten, bestellte ein Taxi, denn der Ort war nur mit Auto erreichbar, hörte mir eine Rede des Bürgermeisters an und fuhr, mit Urkunde und Blumen versehen, den restlichen Tag lang nach Hause. Später sollte ich eine Reihe kostenloser Lesungen halten (ich habe es abgelehnt und jeden Monat damit gerechnet, dass wir das Stipendium nicht überwiesen bekommen). „Lesungen an Schulen sollten umsonst sein“, lautete das Motto von Angestellten und Gewerbetreibenden mir gegenüber. Für die Schüler vielleicht, aber doch nicht für mich.
Ich weiß nicht, ob es einen Gender Pay Gap im Literaturbetrieb gibt (laut ver.di schon), aber ich schäme mich immer noch, wenn ich mein Mindesthonorar brutto und netto verkünde, weil ich weiß, dass ich dem Bild im Kopf meines Gegenübers gerade überhaupt nicht entspreche, ja ihn enttäusche, mich käuflich und berechnend zeige („Aber es geht doch um Literatur!“). Ich habe schließlich ein Kind, sage ich. Was, wie schaffen Sie dann alles, fragt das Gegenüber und wir wechseln das Thema. Ich denke an Andri bei Max Frisch, der jedes Mal, wenn er über Geld spricht, sein vermeintliches jüdisches Blut preisgibt. Ich schäme mich dafür, dass ich mich dafür schäme, über Geld zu sprechen.
Das eigentliche Schreiben findet zwischendurch statt, in Residenzen, in der S-Bahn am Handy, abends beim Kochen, der Laptop neben dem Herd. Keiner hat Residenzstipendien so nötig wie Autoren mit Familie und nichts ist familienfeindlicher als das. Es gibt kein Künstlerhaus in Deutschland, das den Besuch von Kindern und Partnern (nach Anfrage, in Ausnahmefällen) mehr als duldet und eine Kinderbetreuung anbietet. Oft sind es zwischen tausend und eineinhalbtausend Euro im Monat, die Lebenshaltungskosten und die Miete der eigenen Wohnung decken sollen, selbst bei seriösen Institutionen in Berlin, Hamburg und Edenkoben; in Gotha oder Pfaffenhofen sind es achthundert Euro. Solange Autoren die Residenzpflicht per se nicht in Frage stellen, so tun, als wären sie mit allem einverstanden, nur leider, leider kommende Woche kurz zu einer Lesung müssten oder heimlich übers Wochenende nach Hause fahren, drücken auch die Gastgeber ein Auge zu. Und da es als Prestige gilt, überhaupt eingeladen zu werden, die Wartelisten lang sind, wird kaum ein Autor laut und offen sagen, was er will. Ich denke nicht, dass viele außerhalb des Literaturbetriebes mit diesen Bedingungen einverstanden wären. Bei allen Textwerkstätten, an denen ich teilgenommen habe, ob in Boltenhagen, auf Schloss Retzhof oder im Herrenhaus Edenkoben, waren eigene Zimmer nur für die Dozenten vorgesehen; ich schrieb die Veranstalter stets vorher an und bat um einen Raum, in dem ich alleine schlafen könnte. In Neustrelitz sollten die Stipendiaten für Bettwäsche und jedes ausgeliehene Handtuch zahlen, in Ahrenshoop wurde eine Preis- und Strichliste für jede ausgedruckte Seite geführt, da ließen sich viele Anekdoten erzählen. Es scheint ein Trend zu sein, Autoren das Leben nicht zu leicht zu machen, gefährliche Bequemlichkeit vorzubeugen („Der arme Poet“ arbeite wohl besser). Anstelle plakativer Wettbewerbsformate oder umständlicher Residenzaufenthalte braucht es aber dringend mehr Arbeitsstipendien in adäquater Höhe, von denen Autoren zumindest – ich wage es auszusprechen – ein halbes Jahr lang leben können (von München aus wird das einzige vom Deutschen Literaturfonds vergeben).
Ich stelle mir kurz vor, ich wäre alleinerziehend (so abwegig ist es nicht, mein Mann könnte erkranken oder sterben oder keine Lust mehr haben, sich meinen Terminen anzupassen), dann kämen für mich nur Lesungen in München in Frage (ich würde als erste nach Hause rennen oder mein Honorar für einen Babysitter ausgeben) oder nur während der bayerischen Schulferien, vorausgesetzt, mein Sohn wäre immer gesund und gut gelaunt und wir bekämen zwei Hotelzimmer bezahlt. Oder ich würde mir irgendwas Körperliches zuziehen, das sich nicht wie Migräne mit Tabletten zügeln ließe, gebrochenes Bein, Schlaganfall – wie viele Häuser, Bahnhöfe und Hotels wohl rollstuhlgeeignet wären.
Solange ich davon nicht betroffen bin, laufe ich bei diesem Marathon weiter und versuche, Dinge zu verändern, wo ich es mir leisten kann (höhere Honorare durchzusetzen, bessere Hotels für Kollegen zu buchen, in Dankesreden über Geld zu sprechen). Es gefällt mir, meine Texte nicht mehr heimlich in Unibüros ausdrucken zu müssen, ich freue mich jeden Tag darüber, endlich das zu sein, was ich sein will, und ich bin vielen Menschen dankbar, die mir dabei geholfen haben. Aber wir müssen öffentlich über die Missstände sprechen, den Spieß umdrehen, indem wir Bewertungen an Residenzhäuser vergeben, uns über Ausschreibungstexte lustig machen, Forderungen setzen, uns solidarisch zeigen mit unseren Kollegen, denn der Literaturbetrieb muss dringend einfacher und fairer werden.
Slata Roschal, geboren 1992 in Sankt Petersburg, studierte Literaturwissenschaften und promovierte in München über Männlichkeiten und Dostoevskij. Zahlreiche Stipendien und Preise, zuletzt Kunstförderpreis des Freistaates Bayern und Schubart-Literaturförderpreis der Stadt Aalen. Ihr drittes Buch „153 Formen des Nichtseins“ war u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im Frühjahr 2024 erscheint das nächste Buch im Ullstein Verlag.