Zur Armut der Übersetzungskritik – von Theresia Prammer
„Si tu savais ce que je jette, tu admirerais ce que je garde.“Paul Valéry, Cahiers, 1914
Einige wenige tun es, viele
glauben, sie könnten es besser, fast alle glauben, sie dürften es
kritisieren: Das literarische Übersetzen ist nicht nur ein Stiefkind
der Literatur, es ist auch ein Stiefkind der Literaturkritik. Es ist
viel Tinte vergossen worden über den angeblichen Unwert, die
angebliche Unzulänglichkeit, Nutzlosigkeit, konstitutionelle
Vergeblichkeit von Übersetzungsanstrengungen, oft gerade von Seiten
der Übersetzenden: relativ unerschlossen scheint jedoch das Gebiet
der Übersetzungskritik. Ihr bleibt bis dato trotz eines Übermaßes
an Legitimation die eigentliche „Würde“ versagt, also jene
Aufwertung als diskursive Praxis, die auch ein anderes Licht auf den
Übersetzerberuf werfen könnte.
Die herkömmliche,
feuilletontaugliche Übersetzungskritik operiert im Regelfall auf der
mikrostrukturellen Ebene, sucht die Übersetzung nach punktuellen,
erfüllten oder verlorengegangenen Entsprechungen ab, exzerpierend,
kommentierend, stichprobenartig vergleichend und abwägend. Sie
erschöpft sich in einer Unzahl von Engführungsexerzitien von
Original und Übersetzung, sie spekuliert über die Erreichung oder
Verfehlung von Postulaten inhaltlicher, formaler (usw.) Äquivalenz,
sie ahndet „Abweichungen“, greift sich die handlichsten
Negativbeispiele heraus. Die weitgehend abgeschlossene und kaum mehr
hinterfragte Aufwertung des Sekundärtextes im Zuge
poststrukturalistischer Diskurse hat dieser Lesepraxis erstaunlich
wenig Abbruch getan. Der Gestus der Übersetzungskritik bleibt ein
militanter, dispensiert von jeglicher Pflicht zur Objektivierung. Der
Übersetzungskritiker muß sich in der Regel nicht rechtfertigen; er
nimmt in die Mangel, er verpflichtet: auf Kriterien, die von Mal zu
Mal wechseln oder andere Richtungen einschlagen können.
Die
Gründe für diese Mißstände sind vielfältig. Zunächst fehlt für
die Betrachtung der literarischen (poetischen) Übersetzung, so
scheint es, ganz einfach das geeignete Vokabular. Daher der
florierende, inflationäre Gebrauch von Worthülsen und
Standardfloskeln einerseits und blühenden Metaphern andererseits.
Übersetzung ist immer WIE etwas anderes, bald gilt sie als
anspruchsloses Handwerk, bald als philologisch-kritisches
Nebenprodukt, bald als steckenpferdähnliche Zuverdienstmöglichkeit,
bald wird sie unter „Sekundärliteratur“ subsumiert, bald
stillschweigend für die Zielkultur assimiliert. Ein Assimilieren,
das zumeist ein adäquates Thematisieren verhindert. Moniert wird da
die zu große Entfernung „vom Wortsinn“, dort die zu große Nähe
am Original auf Kosten der Idiomatik, da die Umstellung der Syntax,
dort die Entstellung der Bilder: Immer wieder verwickeln sich
ÜbersetzungskritikerInnen in solche Widersprüche. Man muß wohl mit
ihnen leben, denn eine Übersetzung, die es allen recht macht, ist
keine rechte Übersetzung.
In der Tat scheint es
nahezu unmöglich, einer Übersetzung gegenüber neutral zu sein.
Daher rührt wohl auch die starke Polarisierung, von der das Reden
über Übersetzung vor allem anderen gekennzeichnet ist: die
Methodenbildung, „Verwissenschaftlichung“ und Dogmatisierung des
Übersetzens auf der einen, die leichtfertige feuilletonistische
Verunglimpfung seiner Resultate auf der anderen Seite. Übt sich die
„akademische“ Übersetzungsbetrachtung gerne in abwägender
Toleranz, dominiert im Bereich des Feuilletons, mit signifikanten
Ausnahmen, die Leittugend „Demut“ das Feld. Bescheiden und fügsam
soll die Übersetzung sein, aber doch ein „eigenständiges“
literarisches Werk hervorbringen, sie soll nichts Wichtiges auslassen
und sich nicht zu viel herausnehmen, sie soll sich – verhalten –
an das Original halten. Von einem viel wichtigeren Umstand jedoch,
nämlich von der Haltung
des Übersetzers, wird meistens geschwiegen: „Übersetzen ist eine
hybride
Sache, zu der man gerade als Autor
immer wieder ein positives Verhältnis finden muß. Der Zustand des
Dazwischen
– zwischen Einfühlung und Distanz, zwischen Autorschaft und
Nachschrift – will gelernt sein. Hier geht es um mehr als nur um
ein Metier, hier geht es um eine Haltung, um eine
Befindlichkeit“.(1)
Eine
Befindlichkeit, die oft überfließt in eine Empfindlichkeit;
ÜbersetzerInnen sind überempfindlich, leicht beleidigt, unleidlich,
fühlen sich manchmal auch zu Unrecht angegriffen. Kein Wunder: „ein
übersetzt buch ein verletzt buch“, liest man im Grimm. Der
Übersetzer als Verletzer? Wie viele Berufsstände gibt es, die mit
einer ähnlichen Hypothek belegt und belastet sind? Zudem macht die
Angst vor Sanktionen so manchen Übersetzer kleinlaut, führt zu
einer Tilgung des Ungewöhnlichen, zur unhinterfragten Bevorzugung
des Klang-Schönen vor dem Sonderbar Klingenden, zur Ersetzung
(etwaiger) Ungereimtheiten durch Explizierung und Geschwätzigkeit,
zu einer progressiven Glättung des Übersetzungstextes, zu seiner
Angleichung an einen vor-kodifizierten Standard, mitunter zu seiner
Ent-literarisierung. Selbstzensur und Rückzug ins Unverbindliche,
innere Emigration sind die Folge. Was, anders als beim
Original-Autor, offensichtlich niemanden stört. Denn paratextuelle
Präsenz gehört gemeinhin nicht zur Qualifikation des literarischen
Übersetzers.
Die heilige Kuh der
Übersetzungskritik, die Korrektiv sein will, ist die
Zweisprachigkeit. Die zweisprachige, synoptische Präsentation von
Poesie-Übersetzungen gibt auch noch dem unbedarftesten aller
Dilettanten das untrügliche „Beweismaterial“ in die Hand: Da
scheint alles augenfällig, alles nachprüfbar zu sein, der Text der
Übersetzung kann direkt „kontrolliert“ und dem Vergleich mit dem
Original unterzogen werden. Jeder tut es: Die Versuchung ist einfach
zu groß. Wer der Fremdsprache unkundig ist, zieht das Original
heran, um sein Vokabelwissen zu überprüfen oder seinen Wortschatz
aufzumöbeln. Wer die Fremdsprache nur ein wenig kennt, wird die
Chance nützen, um dieses Wenige posaunend an den Mann zu bringen.
Die Übersetzer aus dem Englischen sind am meisten zu bedauern. Hier
steigt die Zahl der Zwangsbeglückungen mit Besser-Lösungen und
Patentrezepten geradezu inflationär.
Doch eine poetische
Übersetzung ist eben kein unterstützendes Sprachlehrwerk; sie dient
nicht dem Spracherwerb, sondern, neben der nicht zu
vernachlässigenden Funktion der Vermittlung, auch der
Sprachbewegung, der Sprachveränderung. Und sie ist – wenn sie es
ist – ein für sich stehender und für sich bestehender Text.
Indes, das regierende Übersetzungsverständnis ist immer noch eines,
das in der Übersetzung bestenfalls ein paraphrasierendes Pendant,
ein temporäres Substitut, einen mickrigen Ableger sieht, und das
sich zwar mokiert über sogenannte „Schnitzer“, doch nichts
auszusetzen findet an rein explikativen Texten, die wie ein
schmückendes Beiwerk um die Original-Gedichte herum drapiert sind:
papieren und seelenlos. So führen die Übersetzer, dem
jahrhundertealten Topos nach, das Dasein von Dienern zweier Herrn,
deren Existenz nur dann bemerkt wird, wenn sie ihre Aufgabe nicht
erfüllen: wenn „gepatzt“ wird. Sie lassen sprechen und sie haben
dabei, als Moderatoren, moderat zu sein; sie vermitteln, aber sie
stehen nicht im Mittelpunkt, sondern in der Regel einfach nur
dazwischen. Und sie gelten, wenn sie nicht Paul Celan oder Ingeborg
Bachmann heißen, grundsätzlich als „umstritten“.
Der
sprachliche Umgang mit Übersetzungen und ihren Verfassern ist sehr
bezeichnend und wenig facettenreich. So wird die Übersetzung, die
vor lauter „Flüssigkeit“ auf das Original vergißt, gerne als
elegant
bezeichnet. Während das Original-Werk „geschaffen“ wird, wird
die Übersetzung (übrigens auch die kritische Ausgabe) im besten
Falle gemacht,
meistens aber besorgt
oder erledigt.
Es war aber auch schon von Übersetzung als Beeinträchtigung oder
Beschädigung
(2) des Originals die Rede: als lästiges Übel letztlich, dem, in
Zeiten des Internet, durchaus Abhilfe geschaffen werden kann.
Und
auch die Adjektive, die zum Beschreiben von Übersetzungsleistungen
herangezogen werden sprechen für sich. Wird eine Übersetzung z.B.
mit dem Attribut solide
versehen, so soll damit meistens die Redlichkeit der Absichten des
Übersetzenden lobend herausgestrichen werden: Denn die solide
Übersetzung ist die ihren Zweck erfüllende Übersetzung, es ist die
gelungene
Auftragsübersetzung. Die solide Übersetzung steht nicht auf
wackeligen Beinen, sie ist sattelfest
und handwerklich gut gearbeitet, sie schwankt nicht, sie bringt keine
Sicherheiten ins Wanken. Wer sie zuwege bringt, dem wird zumeist ein
ausreichendes Maß an philologischem Hintergrundwissen zuerkannt. Die
solide
Übersetzung vollführt keine Wunder oder Kunststücke, sie ist nicht
mit den Weihen der „Autoren“-Übersetzung gesegnet, sie gilt als
achtbar und nachmachbar. Gerne werden Übersetzungen aus DDR-Zeiten
als solide
bezeichnet: Da hat sich einer rigoros Mühe gegeben, da wird man
nicht betrogen, da bekommt man es schwarz auf weiß, da weiß man,
was man hat.
Wer die Übertragung lobend erwähnen will,
ohne sich im Detail mit ihr befassen zu müssen, der wählt das
Attribut verdienstvoll:
wie ein langjähriger Beamter oder tapferer Krieger ist dann die
Übersetzung: sie hat sich bewährt und kann sich getrost zur Ruhe
setzen. Gerne wird von der Übersetzung auch als sauber
gesprochen: wie ein Schulaufsatz, eine Reinschrift, eine Schönschrift
gar, behutsam und gewissenhaft. Wenn der „geniale“ Schriftsteller
auf den „genialen“ Übersetzer trifft kommt es, kraft eines
Prozesses, den man nur als alchimistisch bezeichnen kann, zu
kongenialen
Übersetzungen. Als gut
und gelungen
wird zumeist die Übersetzung tituliert, die allem Anschein nach ein
„Original“ ist. Das ist, im wahrsten Sinne des Wortes, blinde
Bewunderung, ist ansteckend und entwaffnend zugleich, aber es ist
nicht Übersetzungskritik.
Je vollkommener die
Ausblendung der Übersetzung als
Übersetzung, desto überschwenglicher mitunter das Lob des
„Original“-Autors. Wo gibt es in Deutschland, in Österreich eine
Frau, die so eine Prosa schreibt?“ ereifert sich Marcel
Reich-Ranicky im literarischen Quartett – und vergißt, daß diese
Prosa eine übersetzte Prosa ist, daß also eine Deutsche, eine
Deutschsprachige sie geschrieben haben muß. „Es ist neu übersetzt
worden, und so schön,
und sauber“
heißt es in einem anderen Literarischen Quartett (15. 12. 00) über
ein anderes Buch, auch dies ein wohlmeinender Kommentar, der in
dieselbe Kerbe wie das, mindestens ebenso häufige, tadellos
schlägt (3): den Übersetzenden als reinen
Ausführenden wird insbesondere die
Reinheit der Ausführung
abverlangt.
Es sind die Kriterien, die generell der Hausfrau
zuteil werden, die sich hier auf die Übersetzung übertragen haben.
Sorgfältig
und ordentlich
wie der Haus-Halt sollten Übersetzungen sein, gewissenhaft,
wie die Haus-Frau der Übersetzer, die Übersetzerin. Die Hausfrauen,
ja überhaupt Frauen-Analogie läßt sich bis in die Modi der
Wahrnehmung hinein verlängern: Übersetzungen werden nicht studiert,
sondern taxiert, nicht kritisiert, sondern ausstaliert. Übersetzungen
werden begutachtet (und manchmal für gut erachtet), sie werden, wenn
sie Glück haben, als achtbar
eingestuft (vielleicht ob ihrer philologischen Absicherung). Sie
werden (allzu oft) verachtet, mitunter regelrecht abgeschlachtet. Sie
sind für einen leichten Witz ebenso gut wie für eine flüchtige,
aufmunternde oder abschätzige Bemerkung. Korrektheit und hübsche
Aufmachung bringen Pluspunkte, Ausrutscher und Schlampigkeiten dürfen
nicht passieren.
Im doppelten Wortsinn – denn manche Kritiker gebärden sich wie
Zollpersonal, das die ein oder andere Schmuggelware schon einmal
„durchgehen“ läßt. Nicht Deklariertes wird
zurückgeschickt.
Bald sind die Urteile überschwenglich
und emphatisch, bald hämisch und vernichtend, bald salbungsvoll,
bald gönnerhaft-nachsichtig: kaum einmal sind sie „angemessen“ –
ein Maß, das doch an Übersetzungen so gerne angelegt wird. Gerne
wird joviales Lob angeschlagen: recht
gut, heißt es
dann, ordentlich,
beachtlich, im Großen und Ganzen gelungen
oder bis auf einige
Schnitzer passabel, korrekt.
Es ist die Rede vom Übersetzungsfehler
oder vom übersetzerischen
Totalausfall und
manchmal, im Guten, von einer Übersetzung, die sich bewährt,
von einem bewährten
Übersetzer. Der Maßstab, der hier waltet, scheint der Autor (Text)
zu sein, an dem der Übersetzer sich bewährt. Woran aber bewährt
sich der Autor? An der Dichtung? An der Sprache? An der Welt? Am
großen Ganzen?
Zuweilen schaffen es, in der Regel unter negativen
Auspizien, die Übersetzer sogar in die Titelunterschrift: „Raymond
Carvers nachgelassene Storys, leider schlampig übersetzt“,
rezensiert die FAZ an einem Dienstag im Oktober 2002. Fast drei
Spalten widmet der Rezensent Fragen der Übersetzung, das wäre eine,
im Falle einer positiven Besprechung, beinahe unvorstellbare
Ausnahmeerscheinung. Der Tonfall des Verrisses ist salopp und
apodiktisch in einem.
„Die Frage, wie ein Satz klänge, wenn
er auf deutsch geschrieben worden wäre, scheint sich Frielinghaus
nie gestellt zu haben. Sonst hätte er folgenden Satz nicht
durchgewunken. ’Frank setzte das Auto zurück in eine kleine,
felsige Ravine und sagte, der Platz sei gut genug.’ Es geht hier
weniger um die ’Ravine’, die F. der
Bequemlichkeit halber
einfach im Original beläßt, soll der Leser doch rätseln, was das
ist (eine Schlucht, ein Hohlweg). Es geht um den englischen Satzteil
’the place was good enough’, den der Übersetzer wie ein Stück
Torte krümelfrei ins Deutsche hebt. […] Es ist jedoch nicht der
’Platz’, der hier gemeint ist, sondern eine bestimmte Stelle. Und
sie ist auch nicht ’gut genug’, sondern geeignet […]“
Zwar
geht es um den amerikanischen Dichter Raymond Carver, doch wichtig
ist anscheinend, daß der Satz klingt, als sei er auf Deutsch
geschrieben worden. Was hier rückhaltlos als Übersetzungsfehler
gebrandmarkt wird ist – man denke an die Alternativen
Schleiermachers – aus anderem Blickwinkel freilich eine
Übersetzungsmethode, die man zwar kritisieren kann, doch die auch
ernstgenommen werden muß. Daß der Übersetzer die „ravine“ „der
Bequemlichkeit halber einfach im Original beläßt“ darf bezweifelt
werden, er wird seine Gründe gehabt haben. Vermutlich, wie im
ebenfalls beanstandeten Falle von „the place was good enough“,
jene, so nah wie möglich an der Idiomatik und am Lexikon des
Originals zu bleiben. Doch nicht genug: „Leute mit
Englischkenntnissen, und das sind inzwischen ziemlich viele, hören
ständig die Tonspur der amerikanischen Idiomatik mit“. Das wäre
allerdings, denkt man es mit Rudolf Pannwitz’ Plädoyer für eine
Übersetzung als Entfremdung, als Zum-Fremden-Hin-Übertragen
zusammen, ein Glücksfall und eine Auszeichnung für den
Gemaßregelten:
unsre übertragungen auch die besten gehen von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. […] man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann […] dieses aber nicht wenn man sie allzu leicht, sondern gerade wenn man sie schwer genug nimmt. (4)
Und eher als in den Tenor der
chauvinistischen Verunglimpfung einzustimmen, sollte man sich fragen,
ob der Übersetzer ein solches Kompliment überhaupt verdient hat.
Hier kommt das Streben nach Wahrung der Alterität mit jenem nach
einer funktionierenden Idiomatik in Konflikt – für das es
mindestens ebenso gute Gründe gibt.
Warum es zum Parken eines
Autos keinen guten (günstigen) „Platz“, sondern nur eine
„geeignete Stelle“ geben kann, bleibt jedoch, in dieser
Apodiktik, schleierhaft. Eine Geschmacksfrage, sollte man meinen. Die
denunzierende Schlußfolgerung des Rezensenten kann die Kluft, die
sich hier auftut, sehr gut bezeichnen: „Das soll die lakonische
Alltagssprache sein, für die Carver berühmt ist? Gibt es irgend
jemanden zwischen Flensburg und Lindau, der so spricht?“
Doch
Carvers Erzählungen spielen eben nicht zwischen Flensburg und Lindau
und sprechen daher eine andere Sprache, deren Wendungen der
Übersetzer (eine Strategie unter vielen) in Wortlaut und Syntax
nachzuzeichnen suchte. Diese Strategie bezeichnet der Rezensent als
„Anbiederung ans Original“. So wird „Demut“ vor dem Original
auf der einen Seite eingeklagt, jedoch „Anbiederung an das
Original“ auf der anderen Seite beanstandet: für viele Übersetzer
bedeutet das entweder eine immobilisierende Sackgasse oder den Zwang
zum zumeist farblosen Mittelweg, der versucht, es allen Recht zu
machen, dabei aber weder die so oft eingeklagte, nebulos definierte
„Eigenständigkeit“ erreicht, noch dem Originaltext recht gibt.
Wahrscheinlich wird ihm dafür die Bezeichnung solide
sicher sein.
Besser als Walter Benjamin, der die
„Anbiederung an das Original“ unter anderem Namen als höchste
aller Tugenden in die Übersetzungswissenschaft eingeführt hat, weiß
dieser Rezensent, was die Aufgabe
des Übersetzers
ist: „Was uns zu dem ernüchternden Resümee bringt, daß deutsche
Übersetzer sich zwar oft wie der Fisch im Wasser unter den
Spezialitäten der amerikanischen Lebenswelt bewegen, aber nicht mehr
wissen, was ihre Aufgabe ist. Ihre Aufgabe besteht darin, für einen
fremdsprachigen literarischen Text eine angemessene deutschsprachige
Version zu finden. Helmut Frielinghaus hat dieses Ziel verfehlt, und
niemand im Lektorat des Berlin Verlags hat es bemerkt.“
Ein
Beispiel, das in eine ganz andere Richtung weist, findet sich im
Archiv des Wiener Standard:
Es geht um die italienische Autorin Margaret Mazzantini, die dem
Rezensenten in jeder Hinsicht ganz außergewöhnlich gefällt. Doch
leider: „Geh
nicht fort bleibt
allerdings hinter dem italienischen Original zurück. Für die
mediterrane Bildhaftigkeit und den unerschöpflichen Sprachfluß von
Mazzantinis Prosa ist das Deutsche zu spröde.“ Gut ist, was gut
klingt. Die Übersetzung kann diese Qualität nicht einholen, mag sie
noch so gut sein. Unter solchen Prämissen kann das Übersetzen nur
ex negativo zu Besprechungs-Ehren kommen: zur Debatte stehen nicht
die Parameter ihres Gelingens, sondern die Modalitäten ihres
Scheiterns. Der Mythos vom Klangschönen, Schön-Klingenden gehört
übrigens zu den beharrlichsten Nationalstereotypen im Umgang mit
italienischer (oder allgemein mediterraner) Übersetzungsliteratur,
die man, kann man sie schon nicht auf Italienisch lesen, zumindest
italienisch lesen will: eine Tourismus-Belletristik.
Eine
weitere Übersetzung aus dem Italienischen macht, will man der
Rezensentin Glauben schenken, eben den umgekehrten „Fehler“:
„Vielleicht aus Ratlosigkeit bieten die Übersetzer gleich vier
Fassungen des ersten Gedichts, ’Oltranza Oltraggio’ an. An zwei
Stellen sind dieselben Texte doppelt abgedruckt, sowohl auf Deutsch
als auch auf Italienisch – unverständlicherweise, da in Abweichung
von der Originalausgabe der ’Beltà. Vielleicht wollte man den
zyklischen Charakter der Sammlung betonen. Waterhouse, Fehringer,
Capaldi und Paulmichl spielen sich damit aber als Mitautoren des
Bandes auf, was nicht ohne Peinlichkeit ist.“ Was aber sonst?
Übersetzer sind nicht mehr und nicht weniger als Mit-Autoren des
betreffenden Bandes. (In diesem Fall: La
beltà, von Andrea
Zanzotto.) Und was hier, mit einem Gedicht, das nicht eine, sondern
Hunderte von Übersetzungs- und Verschiebungsanordnungen zuläßt,
passiert, paßt zwar nicht in das Bild der orthodoxen zweisprachigen
Ausgabe, doch ist es, in der Vielfalt der Varianten als Auffächerung
der gedichtimmanenten Mehrsprachigkeit, vielleicht sogar die
adäquateste Übersetzungsmethode.
Viertes und, in
dieser Kategorie, letztes Beispiel: Die Neuübersetzung von „Combray“
aus Marcel Prousts „Recherche“. Hier liegt, wie kaum anders zu
erwarten, das Gewicht auf der schwierigen, hypotaxenreichen Prosa –
vom „Fetzenflug der Nebensätze“ spricht der Rezensent des Bandes
und beeilt sich vorab zu (er)klären, daß es kein
Übersetzungsunternehmen mit dem Original aufnehmen könne. „Der
Höhenflug, den der Roman des zwanzigsten Jahrhunderts mit der
’Recherche’ antrat, ist unübertroffen geblieben. Das kann man
von ihren diversen deutschen Übersetzungen nicht so eindeutig
sagen.“ Wie auch? Es gibt nicht nur wenige Übersetzungen, die
angetan sind, solche Höhenflüge auszulösen, es gibt auch wenige
Übersetzungskritiker, die solche Höhenflüge überhaupt bemerken
bzw. zugunsten der Übersetzung zu verbuchen bereit wären. „Doch
gleich“, so heißt es weiter, „verspricht sein Verlag uns den
’wahren Proust’. Als könnte es den im Deutschen geben.“
Das
ist in der Tat eine nicht nur anmaßende, sondern auch absurde
Ankündigung. Aber gibt es im Französischen einen „wahren Proust“?
Oder nicht nur Lesarten desselben, je nach Leser und Epoche
variierend, Übersetzungen? Hat jeder seinen „wahren“ Proust?
Mitnichten: „Die beiden früheren Versuche lagen fürwahr nicht
näher an der Wahrheit, denn es kann keine geben in einer fremden
Sprache. Deshalb ist jedes Wettkampfdenken unangebracht. Ob
’transvertébration’ nun ’Skelettverflüssigung’ heißt oder
doch ’Rückgratvertauschung’ oder gar ’Entrückung’ – das
interessiert sowenig wie die Namen der jeweiligen Übersetzer.“
Soviel Mißachtung und Kanonbeflissenheit ist, auch wenn man Proust –
den wahren
Proust – über alles lieben muß, ein Schlag ins Gesicht. Das ist
Übersetzungskritik als Kritik am Übersetzen
tout court. Es
gibt also keine „Wahrheit“ im Deutschen, es gibt auch keinen
„wahren Proust“, doch offenbar gibt es eine „wahre Probe“,
die, vom Rezensenten gestellt, in letzter Instanz über Wert und
Unwert der Übersetzung entscheidet. „Die wahre Probe […] muß
bei den Sätzen gemacht werden, die Proust wie kein zweiter zu
drechseln verstand.“ Im Falle dieser Neuübersetzung waltet kein
Erbarmen: „Proust hat in seinem Ton gerade bei ’Combray’ immer
etwas Träumerisches, doch auch unendlich Subtiles, an dem die
Übersetzer verzweifeln müssen, wenn sie es denn bemerken.“
Rekapitulierend bedeutet das wohl: Alle Anstrengung ist
sinnlos, da alles Gute ohnehin auf Seiten des Originals zu suchen
ist. Ist ein Text gut, so ist er es, in der Zielsprache, trotz der
Übersetzung. Er übersteht
sie, im Idealfall unbeschadet.
Los und Lohn des Übersetzers ist es, namenlos zu bleiben, und in
dieser Namenlosigkeit auch noch immun gegen Lob oder Verteufelung zu
bleiben. Für sein etwaiges „Wettkampfdenken“ wird er gerügt. Er
kann prinzipiell nichts richtig machen, nur manches mehr oder weniger
falsch. Er hat niemals die „Wahrheit“ auf seiner Seite, doch kann
er Wahres, beziehungsweise Für-wahr-Genommenes, verfälschen. Sein
Name ist irrelevant wie sein Werk, sein Bemühen a priori fruchtlos.
Mit Finessen, Raffinessen möge er sich tunlichst nicht abgeben, denn
es geht ja gar nicht um ihn: „Es geht um viel mehr: um den Flug der
Fetzen, aus denen eine Welt ersteht.“
Der
Kritiker als Korrektur und Korrektiv, der Kritiker als Schulmeister,
Besserwisser, Scharfrichter, Nachdichter des Nachdichters: Das hat
alles seine Berechtigung, doch so viel Süffisanz müßte nicht sein.
Und auch die Kehrseite dieses gehässigen Sich-Ereiferns, sprich das
durch keinerlei Sprachkenntnisse getrübte oder gesiebte,
ungefilterte Wohlwollen – Toleranz durch Ignoranz – ist nicht minder
penetrant.(5) Eine Kritik an der Übersetzungskritik hätte sich
solcherart auch mit den Formen des Lobes zu befassen, das einzelnen
Übersetzern entgegenschlägt, über deren Dichterweihen keinerlei
Zweifel mehr waltet:
„Bestehen bleibt der Anreiz für den
Übersetzer, sich am vollkommenen Gedicht zu messen (…) Ist er ein
Dichter vom Range Paul Celans, dann leuchtet zuweilen in den
nachgebildeten Versen der Glanz des Ursprünglichen auf“, schreibt
Johannes Kleinstück 1968 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in
bezug auf Celans Shakespeare Sonette. Der „Glanz des
Ursprünglichen“ ist aber ebenso fraglich wie seine Auffindbarkeit
in einem übersetzten Text. Was hier stattfindet, ist nicht mehr
Textkritik, sondern prolongierte und zur Begriffslosigkeit
tendierende Projektion des „Poetischen“ oder „Dichterischen“,
wobei die Übersetzung sich offenbar besser als andere Textsorten zur
Projektionsfläche eignet:
Paul Celans Aufgabe war schwierig. Ein Gedicht wie das ’Lied, den Gemütszustand des Dichters beschreibend’ in eine anderer Sprache zu überführen, ist wahrscheinlich nur möglich, wenn man über einen so ungemein großen Vorrat an sensibelster Intelligenz erkennenden Einfühlungsvermögens – kraft der außerordentlichen Fähigkeiten eigener Poesie – verfügt, wie das bei Celan der Fall ist. Der bloß tüchtige Übersetzer von Lyrik scheitert hier, denn er kann nichts Adäquates an dichterisch zutreffender Sprache aufbieten.(6)
Die Übersetzung dient sich
der Dichtung an, die Dichtung dementiert, daß sie, unter gewissen
Voraussetzungen, nichts anderes als eine Übersetzung ist: beide
treffen sich auf halbem Wege, auf der Ebene der rückhaltlosen
Sentimentalität und Verkitschung. Mit der Superlativreihe
„sensibelster Intelligenz erkennenden Einfühlungsvermögens“
werden so unumstößliche wie unverifizierbare Kategorien geltend
gemacht, vage „außerordentliche Fähigkeiten“ werden gegen die
schnöde „Tüchtigkeit“ ausgespielt. Ein Lob, das umso
unpassender scheinen muß, wenn man Celans akribisches Verhältnis
zur fremdsprachigen Vorlage in Betracht zieht, seinen immer wieder
erneuerten Anspruch des neu-aktualisierenden Nachvollzugs der – in
seiner Diktion – „dichterischen Wörtlichkeit“.(7) Er hätte, so
viel Spekulation darf sein, ein solches Kompliment nicht für sich in
Anspruch genommen.
Vielleicht ist manchmal auch der
Umkehrschluß zulässig: Stammt eine Übersetzung nicht von
Autorenhand, sollte sie nicht zu gut sein: die, vom Ansatz
„konventionelle“ Übersetzung, die das Original „aussticht“
verliert ihre Berechtigung, schießt über die Stränge hinaus, weil
sie das angestammte Verhältnis von Original und Übersetzung
umstößt, neu definiert. Soll der Übersetzer also, wenn er es mit
einem mittelmäßigen Original zu tun hat, mit seinem
schriftstellerischen Talent hinterm Berg halten? Oder ist dieses
schriftstellerische Talent bereits die Kapitulation des
übersetzerischen Talents, das, der Übereinkunft nach, in der
hingebenden Nachahmung, in der nie erlahmenden Selbstaufgabe
besteht?
Nicht selten geht das Lob der
Dichter-Übersetzung mit der Verleugnung der Übersetzung als
Übersetzung einher. Betont wird die Selbstständigkeit gegenüber
der Vorlage, die Eigenständigkeit des Textes: „es scheint fast,
als wäre der Text auf Deutsch geschrieben“… Die Illusion ist
perfekt, die Unsichtbarkeit triumphiert: „Alle spielen sie mit in
diesem Illusionstheater: die Leser, weil sie das Werk des Dichters
’ungefiltert’ erleben möchten […] Die Kritiker, weil sie sich
damit um die Notwendigkeit herumschummeln, sich mit der Instanz des
Vermittlers auseinanderzusetzen; manchmal auch ein unkluger Autor,
wenn er den Gedanken nicht erträgt, daß sein Werk Veränderungen
erfährt“.(8)
Und doch: Beide Positionen, jene der gesuchten
Glätte und jene der gesuchten „Fremdheit“
(foreignism) sind
Extrempositionen, deren Anliegen sich nicht immer klar in die Praxis
überführen lassen. Nicht jede verfremdende Übersetzung ist
unlesbar, nicht jede flüssig lesbare Übersetzung ist ein von
kolonialistischem Impetus getragener Frevel an der Ausgangskultur.(9)
Und nicht jede wortreich ihre konzeptuelle Überlegenheit einklagende
Übersetzung ist auch eine gute Übersetzung, ebensowenig wie jeder
Mittelweg ein farbloser Kompromiß sein muß. Zwischen dem Modell der
schönen-untreuen Übersetzung im französischen Klassizismus
(„Belles infidèles“) als rückhaltlos einbürgernder,
domestizierender, glättender und an den aufnehmenden Horizont
angleichender Übersetzung (10) und einer resistenten
Übersetzungsstrategie, die der Form des Ausgangstexts auf Kosten der
Grammatik der Zielsprache Genüge tun will, gibt es eine Unzahl von
Mischformen, die angetan sind, jeder präskriptiven Festschreibung
Hohn zu sprechen.
„Ich weiß wohl, und sie
wissen’s weniger denn des Müllers Tier, was für Kunst, Fleiß,
Vernunft, Verstand zum guten Dolmetscher gehört; denn sie haben’s
nicht versucht.“ – schreibt Martin Luther in seinem Sendbrief
vom Dolmetschen:
Es ist gut, wenn der Übersetzungskritiker ein Übersetzer ist: zu
genau weiß er, wie leicht Fehler sich einschleichen können, wie
groß die Gefahr ist, Dinge zu überlesen: das alles wird er dem
Autor der Übersetzung zugute halten. Und er wird es, anders als die
meisten professionellen Kritiker, nicht beim Geißeln von
unzulänglichen Übersetzungslösungen bewenden lassen, sondern
versuchen, selbst nach besseren Lösungen zu forschen. Freilich
impliziert die Kritik durch Kollegen auch die Gefahr, vor lauter
nachschaffendem Furor die Tuchfühlung zum Text zu verlieren, also
die Gefahr der Kontamination. Doch das ist immer noch besser als
Kommentare, die unqualifiziert abqualifizieren, die – gegen besseres
Wissen – besserwisserisch agieren: von der Kanzel gesprochen, ohne
praktischen Erfahrungshintergrund, manchmal gar ohne philologische
Kriterien: gedankenlos, rücksichtslos, lieblos.
Daß
punktuell Fehler herauszupicken als unredlich, Symptome zu benennen
hingegen als anmaßend gilt, ist auch die Crux der
Übersetzungskritik: Man müßte alles aufzählen, auch alles Gute,
um nicht ungerecht, ungenau, sophistisch und kleinlich zu sein, aber
in dieser Aufzählung läge etwas ebenso Kleinliches. Es bleibt die
Frage nach den Alternativen. Von Friedmar Apel kommen die wohl
wertvollsten Vorschläge für eine Revision der herkömmlichen
Parameter der Übersetzungskritik:
Wenn es nun im Wesen der Übersetzung liegt, daß sie einem Leser, der das Original nicht versteht, dieses nicht vollständig ersetzen kann, sondern ihm nur eine je bestimmte Erfahrung eines Rezeptionsverhältnisses vermitteln kann, so wäre es konsequenterweise weniger die Aufgabe der Übersetzungskritik, Übersetzungen unter verschiedenen Kriterien mit gut oder schlecht zu bewerten, als vielmehr, dem Leser zu vermitteln, in welcher Form Verhältnisse von Original und Übersetzung in einer Übersetzung als Text erfahrbar werden können und welche spezifische Rezeptionseinstellung dem Leser mit Gründen nahegelegt werden kann.“(11)
Doch die Lektürepraxis der
Übersetzungskritik ist weit entfernt von diesen unmittelbar
einleuchtenden Postulaten. Die Darstellung der Übersetzung
als Text kommt zu
kurz oder verkommt zur bloßen Pflichtübung, sofern sie überhaupt
erfolgt, ja sofern die Übersetzung überhaupt als solche zur
Kenntnis genommen wird. Denn die Nicht-Erwähnung des
Übersetzernamens bleibt ein Kavaliersdelikt. Fast noch beliebter
allerdings ist die Erwähnung durch einen Gemeinplatz.(12)
Kurz:
Nicht daß es keine schlechten Übersetzungen gäbe, doch es gibt
auch eine schlechte Übersetzungskritik, die diesen Namen nicht
verdient hat und die noch der schlechtesten Übersetzung unwürdig
ist. Was hier nottut, ist die Einsicht in die Spannweite der
literarischen Übersetzung als Form der Textrezeption, kulturellen
Vermittlung, als mehr oder weniger „zeitgenössische“ Lesart
eines literarischen Werkes. Also nicht fundamentalistische
Belehrungen, sondern fundierte Kenntnisse der Zusammenhänge, nicht
schablonisiertes Besserwissen, sondern Vorschläge zur Güte.
Zweifellos ist dies, für den begrenzten Raum des Feuilletons, keine
geringe Aufgabe. Und doch ist es, und sei es auch nur im Rahmen einer
gedanklichen Vorarbeit, das Minimum, das der Rezensent einer
Übersetzung zu leisten hat.
Barbara Schaden
(„Welten im Taschenformat. Amerikanische Lyrik in deutschen
Übersetzungen“, NZZ, 13. Juli 2002) gelingt etwas Vergleichbares.
Zwar kann auch sie sich vom gängigen Vokabular nur schwer
verabschieden (aber wer kann das schon? und wie?): Sie schreibt von
„Patzern“, von „sprachlichen Mißgriffen“ und „entstellten
Passagen“, doch nicht ohne daß dieses Begriffsinstrumentarium
eingebettet wäre in ein größeres, genaueres Ganzes. Auch sie
unterliegt, wie fast alle ÜbersetzungskritikerInnen, die der
Originalsprache mächtig sind, dem Laster, alternative
Interlinearversionen anzubieten: „ohne literarische Ambitionen“.
Wozu aber dann? Sucht man nach der anderen, besseren Lösung (der
Übersetzungskritiker sollte es stets tun, zumindest für sich) so
muß es eine literarische sein, denn die Übersetzung, die nicht
„literarisch“ ist, ist keine literarische Übersetzung und kann
folglich auch keine gültige Alternative darstellen. Dient sie also
wirklich der Anschaulichkeit? Oder nicht doch der Profilierung? Oder
sind das Spitzfindigkeiten?
Gleichviel: Barbara Schaden
erfüllt die Kriterien Apels. Sie tastet den Text nicht bloß nach
Äquivalenzen ab, sondern weist auch kompensatorischen Verfahren
Gültigkeit zu, achtet auf das Geschehen zwischen den Texten, die
Zwischentexte, die Identität der Spannungen: „Solche
Uneinholbarkeiten wiegen allerdings nicht schwer im Kontext einer
Übertragung, welche die manchmal hermetisch kompakten Wortgebilde
nicht nur präzis auf ihren Sinn hin durchleuchtet, sondern auch nach
Möglichkeit den Rhythmus und die enorme Innenspannung der von
Gedankenstrichen (und nirgends trägt das Satzzeichen diesen Namen
mit mehr Recht als hier) zerklüfteten Gedichte beibehält“,
schreibt sie über die Cummings-Übertragung von Werner von
Koppenfels. Außerdem zeichnet sich diese (Übersetzungs-)Kritikerin
– siehe oben – durch überdurchschnittliche
Fremd-Sprachenkenntnisse aus: Im Gegensatz zu einem Gutteil ihrer
Kolleginnen und Kollegen, die schlichtweg nicht
wissen, wovon sie sprechen.
Nachtrag
Es
hat viele Versuche gegeben, die „gelungene“ Übersetzung zu
definieren, ja sogar die „wahre“ oder die „wirkliche“, die
„reine“ oder die „eigentliche“. Glätte, Lesbarkeit,
Stringenz werden schon lange nicht mehr als die ausschließlichen
Postulate für das Gelingen einer Übersetzung geltend gemacht:
Umgekehrt ist es, nach Walter Benjamins Aufgabe des Übersetzers,
nach der Kanonisierung der Pindar Übertragungen Friedrich
Hölderlins, nach der umfassenden Theoretisierung des resistenten
Übersetzens durch Lawrence Venuti und dem Siegeszug des
Dekonstruktivismus, auch schon längst keine Kunst mehr, die
Schönheit der ungeschliffenen, „unschönen“ Übersetzung zu
propagieren – widerborstig und befremdend, aber auch anrührend und
geheimnisvoll wie die Übertragung einer Shakespeare Stelle durch
einen Schüler im Mann ohne Eigenschaften:
Aber einmal, weißt du, hat
ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so
übersetzt:
’Feige sterben oftmal vor ihrem Tod;
Die
Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal.
Von all den
Wundern, die ich noch habe gehört,
Es scheint für mich sehr
seltsam, daß Menschen sollten fürchten,
Sehend, daß Tod, ein
notwendiges Ende,
Wird kommen, wann er will kommen.’
Und
er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn:
’Der
Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt!
Die Tapfern kosten
einmal nur den Tod,
Von allen Wundern, die ich je
gehört,
Scheint mir das größte…’
Und so weiter nach
der Ratsche der Schlegel-Übersetzung! […]
’Und es war doch
schön,’ – fragte sie – ’daß der Kleine in seiner Schule,
mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig
übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen
auseinandergefallener Steine?’[…]
Ulrich starrte mit
gerunzelter Stirn seine Schwester an. ’Ein Mensch, der ein altes
Gedicht nicht glättet, sondern in seiner Verwitterung halb
zerstörten Sinnes beläßt, ist der gleiche wie jener, der einer
alten Statue, der die Nase fehlt, niemals eine aus neuem Marmor
aufsetzen wird’ dachte er. […] Es schien ihm in diesem
Augenblick, daß er von seiner Schwester nichts zu kennen brauchte
als diese leidenschaftlichen Verse, um zu wissen, daß sie nie ’ganz
in etwas darin’, daß auch sie ein Mensch des ’leidenschaftlichen
Stückwerks’ sei so wie er.
Das ist nur einer von vielen gangbaren Wegen, und vielleicht nicht einmal der verwegenste, doch etwas zeigt dieses Beispiel allemal: Es gibt Übersetzungen, die sich dem glatten und monolithischen Ganzen verschreiben, es gibt solche, die das Benjamin’sche Gefäß bis auf das letzte Steinchen nachzubilden suchen, es gibt solche, die eingemeinden und solche die verfremden, und es gibt schließlich solche, die sind (und bleiben) „wie ein Haufen auseinandergefallener Steine“, Werke der Vorläufigkeit, „leidenschaftliches Stückwerk“. Die Übersetzungskritik wird sich dieser Vielfalt nicht entziehen können.
zuerst erschienen der dezember-kolik 2004
(1) Rakusa, Ilma, 1991. „Zwischen Einfühlung und Distanz. Zur Problematik des Übersetzens poetischer Prosa“. In: Tükel, Jale Melzer, 1991. Abenteuer des Übersetzens. Graz/Wien: Droschl, S. 59-67; S. 60.
(2) „Der internationale Verbund von Lyrik-Audio-Bibliotheken“, wirbt eine unter Lyrikern bekannte deutsche Internetseite, „bedeutet eine ästhetische Lösung uralter Übersetzungsprobleme. Das jeweils fremdsprachige Gedicht kann als unbeschädigtes, originales Kunstwerk in seiner Klang-, und Rhythmusstruktur erhalten bleiben und doch zugleich in der eigenen Sprache gelesen werden.“ So begrüßenswert die Initiative, so unglücklich die Wortwahl des Verantwortlichen der „lyrikline“. Gesehen (geschehen?) in: Christoph Buchwald; Ludwig Harig: Jahrbuch der Lyrik 2001. München 2001.
(3) „Lassen Sie uns nun ein anderes Beispiel nehmen, eine nicht nur tadellose, sondern auch gute Übersetzung“, kündigt Jorge Luis Borges er zu Anfang seiner Untersuchung „Wortmusik und Übersetzung“ an. Nicht nur tadellos, sondern gut. Weil gut besser als tadellos ist, weil Glätte und vordergründige Fehlerlosigkeit allein noch keine Kriterien sind. [Borges, Jorges Luis, 2002. Das Handwerk des Dichters. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. München: Hanser, S. 46.]
(4) Rudolf Pannwitz, zitiert von Walter Benjamin. In: Benjamin, Walter, 1992. “Die Aufgabe des Übersetzers.” (Hier) in: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam, S 50-64, S. 63.
(5) Der Gemeinplatz, es sei wichtiger, die Zielsprache zu kennen als die Ausgangssprache ist in diesem Zusammenhang besonders müßig. Freilich braucht der Übersetzer in der Fremdsprache, was immer das heißen soll, „kein Dichter“ zu sein, doch sollten seine Kenntnisse der Ausgangssprache dicht sein, seine Verständniskapazitäten überdurchschnittlich, und sein idiomatisches Gespür verläßlich.
(6) Ulrich Ott; Friedrich Pfäfflin (Hg.): „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Ausstellung und Katalog Axel Gellhaus. Marbacher Kataloge 50, Marbach 1997, S. 488 (Karl Krolow im „Tagesspiegel“ [Berlin]).
(7) „Henri Michaux ist – was sie ja nicht überraschen kann – u.a. auch durchaus einverstanden, daß die deutsche Buchausgabe nicht zu einem Florilegium allerlei Übersetzer-Künste (und –Velleitäten) wird.“ [Ulrich Ott; Friedrich Pfäfflin (Hg.): „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Ausstellung und Katalog Axel Gellhaus. Marbacher Kataloge 50, Marbach 1997, S. 504 (Paul Celan an Kurt Leonhard).]
(8) Tietze, Rosemarie, 1991. „Plädoyer für den sicht- und hörbaren Übersetzer. Sieben Denkschritte auf dem Weg zu einer Poetik des Übersetzens“. In: Tükel, Jale Melzer, 1991. Abenteuer des Übersetzens. Graz/Wien: Droschl, S. 85-95; S. 88.
(9) Kritik an Lawrence Venuti kommt von Rosemary Arrojo, die ihre Bedenken „hinsichtlich einer Übersetzungspraxis, die explizit ’der Flüssigkeit widerstrebt’“ unverhohlen zum Ausdruck bringt: „Abgesehen davon, daß der Übersetzer in der Übersetzung zum Vorschein kommen kann oder nicht, je nachdem, ob er sich für ’Widerstand’ oder ’Flüssigkeit’ entscheidet, vergißt Venuti, daß sich auch im Fall einer Entscheidung die ’bewußte Intention’ des Übersetzers in der Übersetzung nicht als ein sicherer Ausgangspunkt, der von seinem Leser gefühlvoll einlösbar ist, festlegen läßt. So gesehen, scheint mir die Argumentation Venutis, abgesehen davon, daß sie einen grundsätzlichen Widerspruch in sich birgt, zu harmlos, da sie in die selbst gestellte Falle tappt, wonach der Autor bei der ’Zurückdrängung’ des Übersetzungsprozesses als erste Kontrollinstanz in bezug auf die Bedeutungen gilt.“ [Arrojo, Rosemary, 1997. „Die Endfassung der Übersetzung und die Sichtbarkeit des Übersetzers.“ (Übersetzt von Helga Ahrens.) In: Wolf, Michaela (Hrsg.), 1997. Übersetzungswissenschaft in Brasilien. Beiträge zum Status von „Original“ und Übersetzung. Übersetzungen von Helga Ahrens, Margret Ammann, Johanna Klemm, Hans J. Vermeer und Annette Wußler. Tübingen: Stauffenberg, S. 117-132; S.124.]
(10) Wofür es auch im deutschen Sprachraum krasse Beispiele gibt: „’jetzt aber im dritten Bande finde ich’, sagt Goethe über die Promessi sposi, „daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bei einer Beschreibung von Krieg, Hungernot und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind, und die und durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung unerträglich werden. Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungernot um einen guten Teil, und die Pest um zwei Drittel zusammenschmelzen, so daß nur so viel übrig bleibt, als nötig ist, um die handelnden Personen darin zu verflechten’“. Eckermann, Johann Peter, 1986. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Güthersloh: Bertelsmann, S. 240.
(11) Apel, Friedmar, 1983. Literarische Übersetzung. Stuttgart: Metzler, S. 35.
(12) „Die Übersetzung scheint im Großen und Ganzen gelungen“, „ist stimmig“, „läßt zu wünschen übrig“…