„verdienstvoll“, „sauber“, „kongenial“, „gelungen“

Zur Armut der Übersetzungskritik – von Theresia Prammer

„Si tu savais ce que je jette, tu admirerais ce que je garde.“Paul Valéry, Cahiers, 1914

Einige wenige tun es, viele glauben, sie könnten es besser, fast alle glauben, sie dürften es kritisieren: Das literarische Übersetzen ist nicht nur ein Stiefkind der Literatur, es ist auch ein Stiefkind der Literaturkritik. Es ist viel Tinte vergossen worden über den angeblichen Unwert, die angebliche Unzulänglichkeit, Nutzlosigkeit, konstitutionelle Vergeblichkeit von Übersetzungsanstrengungen, oft gerade von Seiten der Übersetzenden: relativ unerschlossen scheint jedoch das Gebiet der Übersetzungskritik. Ihr bleibt bis dato trotz eines Übermaßes an Legitimation die eigentliche „Würde“ versagt, also jene Aufwertung als diskursive Praxis, die auch ein anderes Licht auf den Übersetzerberuf werfen könnte.

Die herkömmliche, feuilletontaugliche Übersetzungskritik operiert im Regelfall auf der mikrostrukturellen Ebene, sucht die Übersetzung nach punktuellen, erfüllten oder verlorengegangenen Entsprechungen ab, exzerpierend, kommentierend, stichprobenartig vergleichend und abwägend. Sie erschöpft sich in einer Unzahl von Engführungsexerzitien von Original und Übersetzung, sie spekuliert über die Erreichung oder Verfehlung von Postulaten inhaltlicher, formaler (usw.) Äquivalenz, sie ahndet „Abweichungen“, greift sich die handlichsten Negativbeispiele heraus. Die weitgehend abgeschlossene und kaum mehr hinterfragte Aufwertung des Sekundärtextes im Zuge poststrukturalistischer Diskurse hat dieser Lesepraxis erstaunlich wenig Abbruch getan. Der Gestus der Übersetzungskritik bleibt ein militanter, dispensiert von jeglicher Pflicht zur Objektivierung. Der Übersetzungskritiker muß sich in der Regel nicht rechtfertigen; er nimmt in die Mangel, er verpflichtet: auf Kriterien, die von Mal zu Mal wechseln oder andere Richtungen einschlagen können.

Die Gründe für diese Mißstände sind vielfältig. Zunächst fehlt für die Betrachtung der literarischen (poetischen) Übersetzung, so scheint es, ganz einfach das geeignete Vokabular. Daher der florierende, inflationäre Gebrauch von Worthülsen und Standardfloskeln einerseits und blühenden Metaphern andererseits. Übersetzung ist immer WIE etwas anderes, bald gilt sie als anspruchsloses Handwerk, bald als philologisch-kritisches Nebenprodukt, bald als steckenpferdähnliche Zuverdienstmöglichkeit, bald wird sie unter „Sekundärliteratur“ subsumiert, bald stillschweigend für die Zielkultur assimiliert. Ein Assimilieren, das zumeist ein adäquates Thematisieren verhindert. Moniert wird da die zu große Entfernung „vom Wortsinn“, dort die zu große Nähe am Original auf Kosten der Idiomatik, da die Umstellung der Syntax, dort die Entstellung der Bilder: Immer wieder verwickeln sich ÜbersetzungskritikerInnen in solche Widersprüche. Man muß wohl mit ihnen leben, denn eine Übersetzung, die es allen recht macht, ist keine rechte Übersetzung.


In der Tat scheint es nahezu unmöglich, einer Übersetzung gegenüber neutral zu sein. Daher rührt wohl auch die starke Polarisierung, von der das Reden über Übersetzung vor allem anderen gekennzeichnet ist: die Methodenbildung, „Verwissenschaftlichung“ und Dogmatisierung des Übersetzens auf der einen, die leichtfertige feuilletonistische Verunglimpfung seiner Resultate auf der anderen Seite. Übt sich die „akademische“ Übersetzungsbetrachtung gerne in abwägender Toleranz, dominiert im Bereich des Feuilletons, mit signifikanten Ausnahmen, die Leittugend „Demut“ das Feld. Bescheiden und fügsam soll die Übersetzung sein, aber doch ein „eigenständiges“ literarisches Werk hervorbringen, sie soll nichts Wichtiges auslassen und sich nicht zu viel herausnehmen, sie soll sich – verhalten – an das Original halten. Von einem viel wichtigeren Umstand jedoch, nämlich von der Haltung des Übersetzers, wird meistens geschwiegen: „Übersetzen ist eine hybride Sache, zu der man gerade als Autor immer wieder ein positives Verhältnis finden muß. Der Zustand des Dazwischen – zwischen Einfühlung und Distanz, zwischen Autorschaft und Nachschrift – will gelernt sein. Hier geht es um mehr als nur um ein Metier, hier geht es um eine Haltung, um eine Befindlichkeit“.(1)
Eine Befindlichkeit, die oft überfließt in eine Empfindlichkeit; ÜbersetzerInnen sind überempfindlich, leicht beleidigt, unleidlich, fühlen sich manchmal auch zu Unrecht angegriffen. Kein Wunder: „ein übersetzt buch ein verletzt buch“, liest man im Grimm. Der Übersetzer als Verletzer? Wie viele Berufsstände gibt es, die mit einer ähnlichen Hypothek belegt und belastet sind? Zudem macht die Angst vor Sanktionen so manchen Übersetzer kleinlaut, führt zu einer Tilgung des Ungewöhnlichen, zur unhinterfragten Bevorzugung des Klang-Schönen vor dem Sonderbar Klingenden, zur Ersetzung (etwaiger) Ungereimtheiten durch Explizierung und Geschwätzigkeit, zu einer progressiven Glättung des Übersetzungstextes, zu seiner Angleichung an einen vor-kodifizierten Standard, mitunter zu seiner Ent-literarisierung. Selbstzensur und Rückzug ins Unverbindliche, innere Emigration sind die Folge. Was, anders als beim Original-Autor, offensichtlich niemanden stört. Denn paratextuelle Präsenz gehört gemeinhin nicht zur Qualifikation des literarischen Übersetzers.


Die heilige Kuh der Übersetzungskritik, die Korrektiv sein will, ist die Zweisprachigkeit. Die zweisprachige, synoptische Präsentation von Poesie-Übersetzungen gibt auch noch dem unbedarftesten aller Dilettanten das untrügliche „Beweismaterial“ in die Hand: Da scheint alles augenfällig, alles nachprüfbar zu sein, der Text der Übersetzung kann direkt „kontrolliert“ und dem Vergleich mit dem Original unterzogen werden. Jeder tut es: Die Versuchung ist einfach zu groß. Wer der Fremdsprache unkundig ist, zieht das Original heran, um sein Vokabelwissen zu überprüfen oder seinen Wortschatz aufzumöbeln. Wer die Fremdsprache nur ein wenig kennt, wird die Chance nützen, um dieses Wenige posaunend an den Mann zu bringen. Die Übersetzer aus dem Englischen sind am meisten zu bedauern. Hier steigt die Zahl der Zwangsbeglückungen mit Besser-Lösungen und Patentrezepten geradezu inflationär.
Doch eine poetische Übersetzung ist eben kein unterstützendes Sprachlehrwerk; sie dient nicht dem Spracherwerb, sondern, neben der nicht zu vernachlässigenden Funktion der Vermittlung, auch der Sprachbewegung, der Sprachveränderung. Und sie ist – wenn sie es ist – ein für sich stehender und für sich bestehender Text. Indes, das regierende Übersetzungsverständnis ist immer noch eines, das in der Übersetzung bestenfalls ein paraphrasierendes Pendant, ein temporäres Substitut, einen mickrigen Ableger sieht, und das sich zwar mokiert über sogenannte „Schnitzer“, doch nichts auszusetzen findet an rein explikativen Texten, die wie ein schmückendes Beiwerk um die Original-Gedichte herum drapiert sind: papieren und seelenlos. So führen die Übersetzer, dem jahrhundertealten Topos nach, das Dasein von Dienern zweier Herrn, deren Existenz nur dann bemerkt wird, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllen: wenn „gepatzt“ wird. Sie lassen sprechen und sie haben dabei, als Moderatoren, moderat zu sein; sie vermitteln, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt, sondern in der Regel einfach nur dazwischen. Und sie gelten, wenn sie nicht Paul Celan oder Ingeborg Bachmann heißen, grundsätzlich als „umstritten“.


Der sprachliche Umgang mit Übersetzungen und ihren Verfassern ist sehr bezeichnend und wenig facettenreich. So wird die Übersetzung, die vor lauter „Flüssigkeit“ auf das Original vergißt, gerne als elegant bezeichnet. Während das Original-Werk „geschaffen“ wird, wird die Übersetzung (übrigens auch die kritische Ausgabe) im besten Falle gemacht, meistens aber besorgt oder erledigt. Es war aber auch schon von Übersetzung als Beeinträchtigung oder Beschädigung (2) des Originals die Rede: als lästiges Übel letztlich, dem, in Zeiten des Internet, durchaus Abhilfe geschaffen werden kann.

Und auch die Adjektive, die zum Beschreiben von Übersetzungsleistungen herangezogen werden sprechen für sich. Wird eine Übersetzung z.B. mit dem Attribut solide versehen, so soll damit meistens die Redlichkeit der Absichten des Übersetzenden lobend herausgestrichen werden: Denn die solide Übersetzung ist die ihren Zweck erfüllende Übersetzung, es ist die gelungene Auftragsübersetzung. Die solide Übersetzung steht nicht auf wackeligen Beinen, sie ist sattelfest und handwerklich gut gearbeitet, sie schwankt nicht, sie bringt keine Sicherheiten ins Wanken. Wer sie zuwege bringt, dem wird zumeist ein ausreichendes Maß an philologischem Hintergrundwissen zuerkannt. Die solide Übersetzung vollführt keine Wunder oder Kunststücke, sie ist nicht mit den Weihen der „Autoren“-Übersetzung gesegnet, sie gilt als achtbar und nachmachbar. Gerne werden Übersetzungen aus DDR-Zeiten als solide bezeichnet: Da hat sich einer rigoros Mühe gegeben, da wird man nicht betrogen, da bekommt man es schwarz auf weiß, da weiß man, was man hat.

Wer die Übertragung lobend erwähnen will, ohne sich im Detail mit ihr befassen zu müssen, der wählt das Attribut verdienstvoll: wie ein langjähriger Beamter oder tapferer Krieger ist dann die Übersetzung: sie hat sich bewährt und kann sich getrost zur Ruhe setzen. Gerne wird von der Übersetzung auch als sauber gesprochen: wie ein Schulaufsatz, eine Reinschrift, eine Schönschrift gar, behutsam und gewissenhaft. Wenn der „geniale“ Schriftsteller auf den „genialen“ Übersetzer trifft kommt es, kraft eines Prozesses, den man nur als alchimistisch bezeichnen kann, zu kongenialen Übersetzungen. Als gut und gelungen wird zumeist die Übersetzung tituliert, die allem Anschein nach ein „Original“ ist. Das ist, im wahrsten Sinne des Wortes, blinde Bewunderung, ist ansteckend und entwaffnend zugleich, aber es ist nicht Übersetzungskritik.

Je vollkommener die Ausblendung der Übersetzung als Übersetzung, desto überschwenglicher mitunter das Lob des „Original“-Autors. Wo gibt es in Deutschland, in Österreich eine Frau, die so eine Prosa schreibt?“ ereifert sich Marcel Reich-Ranicky im literarischen Quartett – und vergißt, daß diese Prosa eine übersetzte Prosa ist, daß also eine Deutsche, eine Deutschsprachige sie geschrieben haben muß. „Es ist neu übersetzt worden, und so schön, und sauber“ heißt es in einem anderen Literarischen Quartett (15. 12. 00) über ein anderes Buch, auch dies ein wohlmeinender Kommentar, der in dieselbe Kerbe wie das, mindestens ebenso häufige, tadellos schlägt (3): den Übersetzenden als reinen Ausführenden wird insbesondere die Reinheit der Ausführung abverlangt.
Es sind die Kriterien, die generell der Hausfrau zuteil werden, die sich hier auf die Übersetzung übertragen haben. Sorgfältig und ordentlich wie der Haus-Halt sollten Übersetzungen sein, gewissenhaft, wie die Haus-Frau der Übersetzer, die Übersetzerin. Die Hausfrauen, ja überhaupt Frauen-Analogie läßt sich bis in die Modi der Wahrnehmung hinein verlängern: Übersetzungen werden nicht studiert, sondern taxiert, nicht kritisiert, sondern ausstaliert. Übersetzungen werden begutachtet (und manchmal für gut erachtet), sie werden, wenn sie Glück haben, als achtbar eingestuft (vielleicht ob ihrer philologischen Absicherung). Sie werden (allzu oft) verachtet, mitunter regelrecht abgeschlachtet. Sie sind für einen leichten Witz ebenso gut wie für eine flüchtige, aufmunternde oder abschätzige Bemerkung. Korrektheit und hübsche Aufmachung bringen Pluspunkte, Ausrutscher und Schlampigkeiten dürfen nicht passieren. Im doppelten Wortsinn – denn manche Kritiker gebärden sich wie Zollpersonal, das die ein oder andere Schmuggelware schon einmal „durchgehen“ läßt. Nicht Deklariertes wird zurückgeschickt.

Bald sind die Urteile überschwenglich und emphatisch, bald hämisch und vernichtend, bald salbungsvoll, bald gönnerhaft-nachsichtig: kaum einmal sind sie „angemessen“ – ein Maß, das doch an Übersetzungen so gerne angelegt wird. Gerne wird joviales Lob angeschlagen: recht gut, heißt es dann, ordentlich, beachtlich, im Großen und Ganzen gelungen oder bis auf einige Schnitzer passabel, korrekt. Es ist die Rede vom Übersetzungsfehler oder vom übersetzerischen Totalausfall und manchmal, im Guten, von einer Übersetzung, die sich bewährt, von einem bewährten Übersetzer. Der Maßstab, der hier waltet, scheint der Autor (Text) zu sein, an dem der Übersetzer sich bewährt. Woran aber bewährt sich der Autor? An der Dichtung? An der Sprache? An der Welt? Am großen Ganzen?


Zuweilen schaffen es, in der Regel unter negativen Auspizien, die Übersetzer sogar in die Titelunterschrift: „Raymond Carvers nachgelassene Storys, leider schlampig übersetzt“, rezensiert die FAZ an einem Dienstag im Oktober 2002. Fast drei Spalten widmet der Rezensent Fragen der Übersetzung, das wäre eine, im Falle einer positiven Besprechung, beinahe unvorstellbare Ausnahmeerscheinung. Der Tonfall des Verrisses ist salopp und apodiktisch in einem.
„Die Frage, wie ein Satz klänge, wenn er auf deutsch geschrieben worden wäre, scheint sich Frielinghaus nie gestellt zu haben. Sonst hätte er folgenden Satz nicht durchgewunken. ’Frank setzte das Auto zurück in eine kleine, felsige Ravine und sagte, der Platz sei gut genug.’ Es geht hier weniger um die ’Ravine’, die F. der Bequemlichkeit halber einfach im Original beläßt, soll der Leser doch rätseln, was das ist (eine Schlucht, ein Hohlweg). Es geht um den englischen Satzteil ’the place was good enough’, den der Übersetzer wie ein Stück Torte krümelfrei ins Deutsche hebt. […] Es ist jedoch nicht der ’Platz’, der hier gemeint ist, sondern eine bestimmte Stelle. Und sie ist auch nicht ’gut genug’, sondern geeignet […]“

Zwar geht es um den amerikanischen Dichter Raymond Carver, doch wichtig ist anscheinend, daß der Satz klingt, als sei er auf Deutsch geschrieben worden. Was hier rückhaltlos als Übersetzungsfehler gebrandmarkt wird ist – man denke an die Alternativen Schleiermachers – aus anderem Blickwinkel freilich eine Übersetzungsmethode, die man zwar kritisieren kann, doch die auch ernstgenommen werden muß. Daß der Übersetzer die „ravine“ „der Bequemlichkeit halber einfach im Original beläßt“ darf bezweifelt werden, er wird seine Gründe gehabt haben. Vermutlich, wie im ebenfalls beanstandeten Falle von „the place was good enough“, jene, so nah wie möglich an der Idiomatik und am Lexikon des Originals zu bleiben. Doch nicht genug: „Leute mit Englischkenntnissen, und das sind inzwischen ziemlich viele, hören ständig die Tonspur der amerikanischen Idiomatik mit“. Das wäre allerdings, denkt man es mit Rudolf Pannwitz’ Plädoyer für eine Übersetzung als Entfremdung, als Zum-Fremden-Hin-Übertragen zusammen, ein Glücksfall und eine Auszeichnung für den Gemaßregelten:

unsre übertragungen auch die besten gehen von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. […] man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann […] dieses aber nicht wenn man sie allzu leicht, sondern gerade wenn man sie schwer genug nimmt. (4)

Und eher als in den Tenor der chauvinistischen Verunglimpfung einzustimmen, sollte man sich fragen, ob der Übersetzer ein solches Kompliment überhaupt verdient hat. Hier kommt das Streben nach Wahrung der Alterität mit jenem nach einer funktionierenden Idiomatik in Konflikt – für das es mindestens ebenso gute Gründe gibt.
Warum es zum Parken eines Autos keinen guten (günstigen) „Platz“, sondern nur eine „geeignete Stelle“ geben kann, bleibt jedoch, in dieser Apodiktik, schleierhaft. Eine Geschmacksfrage, sollte man meinen. Die denunzierende Schlußfolgerung des Rezensenten kann die Kluft, die sich hier auftut, sehr gut bezeichnen: „Das soll die lakonische Alltagssprache sein, für die Carver berühmt ist? Gibt es irgend jemanden zwischen Flensburg und Lindau, der so spricht?“
Doch Carvers Erzählungen spielen eben nicht zwischen Flensburg und Lindau und sprechen daher eine andere Sprache, deren Wendungen der Übersetzer (eine Strategie unter vielen) in Wortlaut und Syntax nachzuzeichnen suchte. Diese Strategie bezeichnet der Rezensent als „Anbiederung ans Original“. So wird „Demut“ vor dem Original auf der einen Seite eingeklagt, jedoch „Anbiederung an das Original“ auf der anderen Seite beanstandet: für viele Übersetzer bedeutet das entweder eine immobilisierende Sackgasse oder den Zwang zum zumeist farblosen Mittelweg, der versucht, es allen Recht zu machen, dabei aber weder die so oft eingeklagte, nebulos definierte „Eigenständigkeit“ erreicht, noch dem Originaltext recht gibt. Wahrscheinlich wird ihm dafür die Bezeichnung solide sicher sein.

Besser als Walter Benjamin, der die „Anbiederung an das Original“ unter anderem Namen als höchste aller Tugenden in die Übersetzungswissenschaft eingeführt hat, weiß dieser Rezensent, was die Aufgabe des Übersetzers ist: „Was uns zu dem ernüchternden Resümee bringt, daß deutsche Übersetzer sich zwar oft wie der Fisch im Wasser unter den Spezialitäten der amerikanischen Lebenswelt bewegen, aber nicht mehr wissen, was ihre Aufgabe ist. Ihre Aufgabe besteht darin, für einen fremdsprachigen literarischen Text eine angemessene deutschsprachige Version zu finden. Helmut Frielinghaus hat dieses Ziel verfehlt, und niemand im Lektorat des Berlin Verlags hat es bemerkt.“


Ein Beispiel, das in eine ganz andere Richtung weist, findet sich im Archiv des Wiener Standard: Es geht um die italienische Autorin Margaret Mazzantini, die dem Rezensenten in jeder Hinsicht ganz außergewöhnlich gefällt. Doch leider: „Geh nicht fort bleibt allerdings hinter dem italienischen Original zurück. Für die mediterrane Bildhaftigkeit und den unerschöpflichen Sprachfluß von Mazzantinis Prosa ist das Deutsche zu spröde.“ Gut ist, was gut klingt. Die Übersetzung kann diese Qualität nicht einholen, mag sie noch so gut sein. Unter solchen Prämissen kann das Übersetzen nur ex negativo zu Besprechungs-Ehren kommen: zur Debatte stehen nicht die Parameter ihres Gelingens, sondern die Modalitäten ihres Scheiterns. Der Mythos vom Klangschönen, Schön-Klingenden gehört übrigens zu den beharrlichsten Nationalstereotypen im Umgang mit italienischer (oder allgemein mediterraner) Übersetzungsliteratur, die man, kann man sie schon nicht auf Italienisch lesen, zumindest italienisch lesen will: eine Tourismus-Belletristik.


Eine weitere Übersetzung aus dem Italienischen macht, will man der Rezensentin Glauben schenken, eben den umgekehrten „Fehler“: „Vielleicht aus Ratlosigkeit bieten die Übersetzer gleich vier Fassungen des ersten Gedichts, ’Oltranza Oltraggio’ an. An zwei Stellen sind dieselben Texte doppelt abgedruckt, sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch – unverständlicherweise, da in Abweichung von der Originalausgabe der ’Beltà. Vielleicht wollte man den zyklischen Charakter der Sammlung betonen. Waterhouse, Fehringer, Capaldi und Paulmichl spielen sich damit aber als Mitautoren des Bandes auf, was nicht ohne Peinlichkeit ist.“ Was aber sonst? Übersetzer sind nicht mehr und nicht weniger als Mit-Autoren des betreffenden Bandes. (In diesem Fall: La beltà, von Andrea Zanzotto.) Und was hier, mit einem Gedicht, das nicht eine, sondern Hunderte von Übersetzungs- und Verschiebungsanordnungen zuläßt, passiert, paßt zwar nicht in das Bild der orthodoxen zweisprachigen Ausgabe, doch ist es, in der Vielfalt der Varianten als Auffächerung der gedichtimmanenten Mehrsprachigkeit, vielleicht sogar die adäquateste Übersetzungsmethode.


Viertes und, in dieser Kategorie, letztes Beispiel: Die Neuübersetzung von „Combray“ aus Marcel Prousts „Recherche“. Hier liegt, wie kaum anders zu erwarten, das Gewicht auf der schwierigen, hypotaxenreichen Prosa – vom „Fetzenflug der Nebensätze“ spricht der Rezensent des Bandes und beeilt sich vorab zu (er)klären, daß es kein Übersetzungsunternehmen mit dem Original aufnehmen könne. „Der Höhenflug, den der Roman des zwanzigsten Jahrhunderts mit der ’Recherche’ antrat, ist unübertroffen geblieben. Das kann man von ihren diversen deutschen Übersetzungen nicht so eindeutig sagen.“ Wie auch? Es gibt nicht nur wenige Übersetzungen, die angetan sind, solche Höhenflüge auszulösen, es gibt auch wenige Übersetzungskritiker, die solche Höhenflüge überhaupt bemerken bzw. zugunsten der Übersetzung zu verbuchen bereit wären. „Doch gleich“, so heißt es weiter, „verspricht sein Verlag uns den ’wahren Proust’. Als könnte es den im Deutschen geben.“
Das ist in der Tat eine nicht nur anmaßende, sondern auch absurde Ankündigung. Aber gibt es im Französischen einen „wahren Proust“? Oder nicht nur Lesarten desselben, je nach Leser und Epoche variierend, Übersetzungen? Hat jeder seinen „wahren“ Proust? Mitnichten: „Die beiden früheren Versuche lagen fürwahr nicht näher an der Wahrheit, denn es kann keine geben in einer fremden Sprache. Deshalb ist jedes Wettkampfdenken unangebracht. Ob ’transvertébration’ nun ’Skelettverflüssigung’ heißt oder doch ’Rückgratvertauschung’ oder gar ’Entrückung’ – das interessiert sowenig wie die Namen der jeweiligen Übersetzer.“ Soviel Mißachtung und Kanonbeflissenheit ist, auch wenn man Proust – den wahren Proust – über alles lieben muß, ein Schlag ins Gesicht. Das ist Übersetzungskritik als Kritik am Übersetzen tout court. Es gibt also keine „Wahrheit“ im Deutschen, es gibt auch keinen „wahren Proust“, doch offenbar gibt es eine „wahre Probe“, die, vom Rezensenten gestellt, in letzter Instanz über Wert und Unwert der Übersetzung entscheidet. „Die wahre Probe […] muß bei den Sätzen gemacht werden, die Proust wie kein zweiter zu drechseln verstand.“ Im Falle dieser Neuübersetzung waltet kein Erbarmen: „Proust hat in seinem Ton gerade bei ’Combray’ immer etwas Träumerisches, doch auch unendlich Subtiles, an dem die Übersetzer verzweifeln müssen, wenn sie es denn bemerken.“

Rekapitulierend bedeutet das wohl: Alle Anstrengung ist sinnlos, da alles Gute ohnehin auf Seiten des Originals zu suchen ist. Ist ein Text gut, so ist er es, in der Zielsprache, trotz der Übersetzung. Er übersteht sie, im Idealfall unbeschadet. Los und Lohn des Übersetzers ist es, namenlos zu bleiben, und in dieser Namenlosigkeit auch noch immun gegen Lob oder Verteufelung zu bleiben. Für sein etwaiges „Wettkampfdenken“ wird er gerügt. Er kann prinzipiell nichts richtig machen, nur manches mehr oder weniger falsch. Er hat niemals die „Wahrheit“ auf seiner Seite, doch kann er Wahres, beziehungsweise Für-wahr-Genommenes, verfälschen. Sein Name ist irrelevant wie sein Werk, sein Bemühen a priori fruchtlos. Mit Finessen, Raffinessen möge er sich tunlichst nicht abgeben, denn es geht ja gar nicht um ihn: „Es geht um viel mehr: um den Flug der Fetzen, aus denen eine Welt ersteht.“


Der Kritiker als Korrektur und Korrektiv, der Kritiker als Schulmeister, Besserwisser, Scharfrichter, Nachdichter des Nachdichters: Das hat alles seine Berechtigung, doch so viel Süffisanz müßte nicht sein. Und auch die Kehrseite dieses gehässigen Sich-Ereiferns, sprich das durch keinerlei Sprachkenntnisse getrübte oder gesiebte, ungefilterte Wohlwollen – Toleranz durch Ignoranz – ist nicht minder penetrant.(5) Eine Kritik an der Übersetzungskritik hätte sich solcherart auch mit den Formen des Lobes zu befassen, das einzelnen Übersetzern entgegenschlägt, über deren Dichterweihen keinerlei Zweifel mehr waltet:
„Bestehen bleibt der Anreiz für den Übersetzer, sich am vollkommenen Gedicht zu messen (…) Ist er ein Dichter vom Range Paul Celans, dann leuchtet zuweilen in den nachgebildeten Versen der Glanz des Ursprünglichen auf“, schreibt Johannes Kleinstück 1968 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in bezug auf Celans Shakespeare Sonette. Der „Glanz des Ursprünglichen“ ist aber ebenso fraglich wie seine Auffindbarkeit in einem übersetzten Text. Was hier stattfindet, ist nicht mehr Textkritik, sondern prolongierte und zur Begriffslosigkeit tendierende Projektion des „Poetischen“ oder „Dichterischen“, wobei die Übersetzung sich offenbar besser als andere Textsorten zur Projektionsfläche eignet:

Paul Celans Aufgabe war schwierig. Ein Gedicht wie das ’Lied, den Gemütszustand des Dichters beschreibend’ in eine anderer Sprache zu überführen, ist wahrscheinlich nur möglich, wenn man über einen so ungemein großen Vorrat an sensibelster Intelligenz erkennenden Einfühlungsvermögens – kraft der außerordentlichen Fähigkeiten eigener Poesie – verfügt, wie das bei Celan der Fall ist. Der bloß tüchtige Übersetzer von Lyrik scheitert hier, denn er kann nichts Adäquates an dichterisch zutreffender Sprache aufbieten.(6)

Die Übersetzung dient sich der Dichtung an, die Dichtung dementiert, daß sie, unter gewissen Voraussetzungen, nichts anderes als eine Übersetzung ist: beide treffen sich auf halbem Wege, auf der Ebene der rückhaltlosen Sentimentalität und Verkitschung. Mit der Superlativreihe „sensibelster Intelligenz erkennenden Einfühlungsvermögens“ werden so unumstößliche wie unverifizierbare Kategorien geltend gemacht, vage „außerordentliche Fähigkeiten“ werden gegen die schnöde „Tüchtigkeit“ ausgespielt. Ein Lob, das umso unpassender scheinen muß, wenn man Celans akribisches Verhältnis zur fremdsprachigen Vorlage in Betracht zieht, seinen immer wieder erneuerten Anspruch des neu-aktualisierenden Nachvollzugs der – in seiner Diktion – „dichterischen Wörtlichkeit“.(7) Er hätte, so viel Spekulation darf sein, ein solches Kompliment nicht für sich in Anspruch genommen.

Vielleicht ist manchmal auch der Umkehrschluß zulässig: Stammt eine Übersetzung nicht von Autorenhand, sollte sie nicht zu gut sein: die, vom Ansatz „konventionelle“ Übersetzung, die das Original „aussticht“ verliert ihre Berechtigung, schießt über die Stränge hinaus, weil sie das angestammte Verhältnis von Original und Übersetzung umstößt, neu definiert. Soll der Übersetzer also, wenn er es mit einem mittelmäßigen Original zu tun hat, mit seinem schriftstellerischen Talent hinterm Berg halten? Oder ist dieses schriftstellerische Talent bereits die Kapitulation des übersetzerischen Talents, das, der Übereinkunft nach, in der hingebenden Nachahmung, in der nie erlahmenden Selbstaufgabe besteht?


Nicht selten geht das Lob der Dichter-Übersetzung mit der Verleugnung der Übersetzung als Übersetzung einher. Betont wird die Selbstständigkeit gegenüber der Vorlage, die Eigenständigkeit des Textes: „es scheint fast, als wäre der Text auf Deutsch geschrieben“… Die Illusion ist perfekt, die Unsichtbarkeit triumphiert: „Alle spielen sie mit in diesem Illusionstheater: die Leser, weil sie das Werk des Dichters ’ungefiltert’ erleben möchten […] Die Kritiker, weil sie sich damit um die Notwendigkeit herumschummeln, sich mit der Instanz des Vermittlers auseinanderzusetzen; manchmal auch ein unkluger Autor, wenn er den Gedanken nicht erträgt, daß sein Werk Veränderungen erfährt“.(8)
Und doch: Beide Positionen, jene der gesuchten Glätte und jene der gesuchten „Fremdheit“ (foreignism) sind Extrempositionen, deren Anliegen sich nicht immer klar in die Praxis überführen lassen. Nicht jede verfremdende Übersetzung ist unlesbar, nicht jede flüssig lesbare Übersetzung ist ein von kolonialistischem Impetus getragener Frevel an der Ausgangskultur.(9) Und nicht jede wortreich ihre konzeptuelle Überlegenheit einklagende Übersetzung ist auch eine gute Übersetzung, ebensowenig wie jeder Mittelweg ein farbloser Kompromiß sein muß. Zwischen dem Modell der schönen-untreuen Übersetzung im französischen Klassizismus („Belles infidèles“) als rückhaltlos einbürgernder, domestizierender, glättender und an den aufnehmenden Horizont angleichender Übersetzung (10) und einer resistenten Übersetzungsstrategie, die der Form des Ausgangstexts auf Kosten der Grammatik der Zielsprache Genüge tun will, gibt es eine Unzahl von Mischformen, die angetan sind, jeder präskriptiven Festschreibung Hohn zu sprechen.


„Ich weiß wohl, und sie wissen’s weniger denn des Müllers Tier, was für Kunst, Fleiß, Vernunft, Verstand zum guten Dolmetscher gehört; denn sie haben’s nicht versucht.“ – schreibt Martin Luther in seinem Sendbrief vom Dolmetschen: Es ist gut, wenn der Übersetzungskritiker ein Übersetzer ist: zu genau weiß er, wie leicht Fehler sich einschleichen können, wie groß die Gefahr ist, Dinge zu überlesen: das alles wird er dem Autor der Übersetzung zugute halten. Und er wird es, anders als die meisten professionellen Kritiker, nicht beim Geißeln von unzulänglichen Übersetzungslösungen bewenden lassen, sondern versuchen, selbst nach besseren Lösungen zu forschen. Freilich impliziert die Kritik durch Kollegen auch die Gefahr, vor lauter nachschaffendem Furor die Tuchfühlung zum Text zu verlieren, also die Gefahr der Kontamination. Doch das ist immer noch besser als Kommentare, die unqualifiziert abqualifizieren, die – gegen besseres Wissen – besserwisserisch agieren: von der Kanzel gesprochen, ohne praktischen Erfahrungshintergrund, manchmal gar ohne philologische Kriterien: gedankenlos, rücksichtslos, lieblos.

Daß punktuell Fehler herauszupicken als unredlich, Symptome zu benennen hingegen als anmaßend gilt, ist auch die Crux der Übersetzungskritik: Man müßte alles aufzählen, auch alles Gute, um nicht ungerecht, ungenau, sophistisch und kleinlich zu sein, aber in dieser Aufzählung läge etwas ebenso Kleinliches. Es bleibt die Frage nach den Alternativen. Von Friedmar Apel kommen die wohl wertvollsten Vorschläge für eine Revision der herkömmlichen Parameter der Übersetzungskritik:

Wenn es nun im Wesen der Übersetzung liegt, daß sie einem Leser, der das Original nicht versteht, dieses nicht vollständig ersetzen kann, sondern ihm nur eine je bestimmte Erfahrung eines Rezeptionsverhältnisses vermitteln kann, so wäre es konsequenterweise weniger die Aufgabe der Übersetzungskritik, Übersetzungen unter verschiedenen Kriterien mit gut oder schlecht zu bewerten, als vielmehr, dem Leser zu vermitteln, in welcher Form Verhältnisse von Original und Übersetzung in einer Übersetzung als Text erfahrbar werden können und welche spezifische Rezeptionseinstellung dem Leser mit Gründen nahegelegt werden kann.“(11)

Doch die Lektürepraxis der Übersetzungskritik ist weit entfernt von diesen unmittelbar einleuchtenden Postulaten. Die Darstellung der Übersetzung als Text kommt zu kurz oder verkommt zur bloßen Pflichtübung, sofern sie überhaupt erfolgt, ja sofern die Übersetzung überhaupt als solche zur Kenntnis genommen wird. Denn die Nicht-Erwähnung des Übersetzernamens bleibt ein Kavaliersdelikt. Fast noch beliebter allerdings ist die Erwähnung durch einen Gemeinplatz.(12)

Kurz: Nicht daß es keine schlechten Übersetzungen gäbe, doch es gibt auch eine schlechte Übersetzungskritik, die diesen Namen nicht verdient hat und die noch der schlechtesten Übersetzung unwürdig ist. Was hier nottut, ist die Einsicht in die Spannweite der literarischen Übersetzung als Form der Textrezeption, kulturellen Vermittlung, als mehr oder weniger „zeitgenössische“ Lesart eines literarischen Werkes. Also nicht fundamentalistische Belehrungen, sondern fundierte Kenntnisse der Zusammenhänge, nicht schablonisiertes Besserwissen, sondern Vorschläge zur Güte. Zweifellos ist dies, für den begrenzten Raum des Feuilletons, keine geringe Aufgabe. Und doch ist es, und sei es auch nur im Rahmen einer gedanklichen Vorarbeit, das Minimum, das der Rezensent einer Übersetzung zu leisten hat.


Barbara Schaden („Welten im Taschenformat. Amerikanische Lyrik in deutschen Übersetzungen“, NZZ, 13. Juli 2002) gelingt etwas Vergleichbares. Zwar kann auch sie sich vom gängigen Vokabular nur schwer verabschieden (aber wer kann das schon? und wie?): Sie schreibt von „Patzern“, von „sprachlichen Mißgriffen“ und „entstellten Passagen“, doch nicht ohne daß dieses Begriffsinstrumentarium eingebettet wäre in ein größeres, genaueres Ganzes. Auch sie unterliegt, wie fast alle ÜbersetzungskritikerInnen, die der Originalsprache mächtig sind, dem Laster, alternative Interlinearversionen anzubieten: „ohne literarische Ambitionen“. Wozu aber dann? Sucht man nach der anderen, besseren Lösung (der Übersetzungskritiker sollte es stets tun, zumindest für sich) so muß es eine literarische sein, denn die Übersetzung, die nicht „literarisch“ ist, ist keine literarische Übersetzung und kann folglich auch keine gültige Alternative darstellen. Dient sie also wirklich der Anschaulichkeit? Oder nicht doch der Profilierung? Oder sind das Spitzfindigkeiten?

Gleichviel: Barbara Schaden erfüllt die Kriterien Apels. Sie tastet den Text nicht bloß nach Äquivalenzen ab, sondern weist auch kompensatorischen Verfahren Gültigkeit zu, achtet auf das Geschehen zwischen den Texten, die Zwischentexte, die Identität der Spannungen: „Solche Uneinholbarkeiten wiegen allerdings nicht schwer im Kontext einer Übertragung, welche die manchmal hermetisch kompakten Wortgebilde nicht nur präzis auf ihren Sinn hin durchleuchtet, sondern auch nach Möglichkeit den Rhythmus und die enorme Innenspannung der von Gedankenstrichen (und nirgends trägt das Satzzeichen diesen Namen mit mehr Recht als hier) zerklüfteten Gedichte beibehält“, schreibt sie über die Cummings-Übertragung von Werner von Koppenfels. Außerdem zeichnet sich diese (Übersetzungs-)Kritikerin – siehe oben – durch überdurchschnittliche Fremd-Sprachenkenntnisse aus: Im Gegensatz zu einem Gutteil ihrer Kolleginnen und Kollegen, die schlichtweg nicht wissen, wovon sie sprechen.


Nachtrag

Es hat viele Versuche gegeben, die „gelungene“ Übersetzung zu definieren, ja sogar die „wahre“ oder die „wirkliche“, die „reine“ oder die „eigentliche“. Glätte, Lesbarkeit, Stringenz werden schon lange nicht mehr als die ausschließlichen Postulate für das Gelingen einer Übersetzung geltend gemacht: Umgekehrt ist es, nach Walter Benjamins Aufgabe des Übersetzers, nach der Kanonisierung der Pindar Übertragungen Friedrich Hölderlins, nach der umfassenden Theoretisierung des resistenten Übersetzens durch Lawrence Venuti und dem Siegeszug des Dekonstruktivismus, auch schon längst keine Kunst mehr, die Schönheit der ungeschliffenen, „unschönen“ Übersetzung zu propagieren – widerborstig und befremdend, aber auch anrührend und geheimnisvoll wie die Übertragung einer Shakespeare Stelle durch einen Schüler im Mann ohne Eigenschaften:

Aber einmal, weißt du, hat ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so übersetzt:
’Feige sterben oftmal vor ihrem Tod;
Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal.
Von all den Wundern, die ich noch habe gehört,
Es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten,
Sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende,
Wird kommen, wann er will kommen.’
Und er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn:
’Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt!
Die Tapfern kosten einmal nur den Tod,
Von allen Wundern, die ich je gehört,
Scheint mir das größte…’
Und so weiter nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung! […]
’Und es war doch schön,’ – fragte sie – ’daß der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen auseinandergefallener Steine?’[…]

Ulrich starrte mit gerunzelter Stirn seine Schwester an. ’Ein Mensch, der ein altes Gedicht nicht glättet, sondern in seiner Verwitterung halb zerstörten Sinnes beläßt, ist der gleiche wie jener, der einer alten Statue, der die Nase fehlt, niemals eine aus neuem Marmor aufsetzen wird’ dachte er. […] Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er von seiner Schwester nichts zu kennen brauchte als diese leidenschaftlichen Verse, um zu wissen, daß sie nie ’ganz in etwas darin’, daß auch sie ein Mensch des ’leidenschaftlichen Stückwerks’ sei so wie er.


Das ist nur einer von vielen gangbaren Wegen, und vielleicht nicht einmal der verwegenste, doch etwas zeigt dieses Beispiel allemal: Es gibt Übersetzungen, die sich dem glatten und monolithischen Ganzen verschreiben, es gibt solche, die das Benjamin’sche Gefäß bis auf das letzte Steinchen nachzubilden suchen, es gibt solche, die eingemeinden und solche die verfremden, und es gibt schließlich solche, die sind (und bleiben) „wie ein Haufen auseinandergefallener Steine“, Werke der Vorläufigkeit, „leidenschaftliches Stückwerk“. Die Übersetzungskritik wird sich dieser Vielfalt nicht entziehen können.

zuerst erschienen der dezember-kolik 2004

(1) Rakusa, Ilma, 1991. „Zwischen Einfühlung und Distanz. Zur Problematik des Übersetzens poetischer Prosa“. In: Tükel, Jale Melzer, 1991. Abenteuer des Übersetzens. Graz/Wien: Droschl, S. 59-67; S. 60.
(2) „Der internationale Verbund von Lyrik-Audio-Bibliotheken“, wirbt eine unter Lyrikern bekannte deutsche Internetseite, „bedeutet eine ästhetische Lösung uralter Übersetzungsprobleme. Das jeweils fremdsprachige Gedicht kann als unbeschädigtes, originales Kunstwerk in seiner Klang-, und Rhythmusstruktur erhalten bleiben und doch zugleich in der eigenen Sprache gelesen werden.“ So begrüßenswert die Initiative, so unglücklich die Wortwahl des Verantwortlichen der „lyrikline“. Gesehen (geschehen?) in: Christoph Buchwald; Ludwig Harig: Jahrbuch der Lyrik 2001. München 2001.
(3) „Lassen Sie uns nun ein anderes Beispiel nehmen, eine nicht nur tadellose, sondern auch gute Übersetzung“, kündigt Jorge Luis Borges er zu Anfang seiner Untersuchung „Wortmusik und Übersetzung“ an. Nicht nur tadellos, sondern gut. Weil gut besser als tadellos ist, weil Glätte und vordergründige Fehlerlosigkeit allein noch keine Kriterien sind. [Borges, Jorges Luis, 2002. Das Handwerk des Dichters. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. München: Hanser, S. 46.]
(4) Rudolf Pannwitz, zitiert von Walter Benjamin. In: Benjamin, Walter, 1992. “Die Aufgabe des Übersetzers.” (Hier) in: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam, S 50-64, S. 63.
(5) Der Gemeinplatz, es sei wichtiger, die Zielsprache zu kennen als die Ausgangssprache ist in diesem Zusammenhang besonders müßig. Freilich braucht der Übersetzer in der Fremdsprache, was immer das heißen soll, „kein Dichter“ zu sein, doch sollten seine Kenntnisse der Ausgangssprache dicht sein, seine Verständniskapazitäten überdurchschnittlich, und sein idiomatisches Gespür verläßlich.
(6) Ulrich Ott; Friedrich Pfäfflin (Hg.): „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Ausstellung und Katalog Axel Gellhaus. Marbacher Kataloge 50, Marbach 1997, S. 488 (Karl Krolow im „Tagesspiegel“ [Berlin]).
(7) „Henri Michaux ist – was sie ja nicht überraschen kann – u.a. auch durchaus einverstanden, daß die deutsche Buchausgabe nicht zu einem Florilegium allerlei Übersetzer-Künste (und –Velleitäten) wird.“ [Ulrich Ott; Friedrich Pfäfflin (Hg.): „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Ausstellung und Katalog Axel Gellhaus. Marbacher Kataloge 50, Marbach 1997, S. 504 (Paul Celan an Kurt Leonhard).]
(8) Tietze, Rosemarie, 1991. „Plädoyer für den sicht- und hörbaren Übersetzer. Sieben Denkschritte auf dem Weg zu einer Poetik des Übersetzens“. In: Tükel, Jale Melzer, 1991. Abenteuer des Übersetzens. Graz/Wien: Droschl, S. 85-95; S. 88.
(9) Kritik an Lawrence Venuti kommt von Rosemary Arrojo, die ihre Bedenken „hinsichtlich einer Übersetzungspraxis, die explizit ’der Flüssigkeit widerstrebt’“ unverhohlen zum Ausdruck bringt: „Abgesehen davon, daß der Übersetzer in der Übersetzung zum Vorschein kommen kann oder nicht, je nachdem, ob er sich für ’Widerstand’ oder ’Flüssigkeit’ entscheidet, vergißt Venuti, daß sich auch im Fall einer Entscheidung die ’bewußte Intention’ des Übersetzers in der Übersetzung nicht als ein sicherer Ausgangspunkt, der von seinem Leser gefühlvoll einlösbar ist, festlegen läßt. So gesehen, scheint mir die Argumentation Venutis, abgesehen davon, daß sie einen grundsätzlichen Widerspruch in sich birgt, zu harmlos, da sie in die selbst gestellte Falle tappt, wonach der Autor bei der ’Zurückdrängung’ des Übersetzungsprozesses als erste Kontrollinstanz in bezug auf die Bedeutungen gilt.“ [Arrojo, Rosemary, 1997. „Die Endfassung der Übersetzung und die Sichtbarkeit des Übersetzers.“ (Übersetzt von Helga Ahrens.) In: Wolf, Michaela (Hrsg.), 1997. Übersetzungswissenschaft in Brasilien. Beiträge zum Status von „Original“ und Übersetzung. Übersetzungen von Helga Ahrens, Margret Ammann, Johanna Klemm, Hans J. Vermeer und Annette Wußler. Tübingen: Stauffenberg, S. 117-132; S.124.]
(10) Wofür es auch im deutschen Sprachraum krasse Beispiele gibt: „’jetzt aber im dritten Bande finde ich’, sagt Goethe über die Promessi sposi, „daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bei einer Beschreibung von Krieg, Hungernot und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind, und die und durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung unerträglich werden. Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungernot um einen guten Teil, und die Pest um zwei Drittel zusammenschmelzen, so daß nur so viel übrig bleibt, als nötig ist, um die handelnden Personen darin zu verflechten’“. Eckermann, Johann Peter, 1986. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Güthersloh: Bertelsmann, S. 240.
(11) Apel, Friedmar, 1983. Literarische Übersetzung. Stuttgart: Metzler, S. 35.
(12) „Die Übersetzung scheint im Großen und Ganzen gelungen“, „ist stimmig“, „läßt zu wünschen übrig“…