Was da draußen herumliegt – Peter Geist

Anmerkungen zum Sprach(e)-Welt-Streit in der bella triste

Das Bedürfnis nach poetologischer Selbstvergewisserung scheint unter den jüngeren Lyrikerinnen und Lyrikern immens zu sein: Die BELLAtriste-Diskussion geht nun schon in die fünfte Runde, was sicher nicht geplant war. Allein in Berlin fanden im April 2008 zwei Veranstaltungen zu Poetiken in der jüngeren deutschsprachigen Lyrik statt, davon ein Wochenendseminar, bei dem sich die Autoren untereinander verständigten. Gerade erschienen ist der von Ron Winkler herausgegebene Band »Hermetisch offen«, der ausschließlich poetologische Texte aus der jüngeren und jüngsten Dichtergeneration enthält.

Warum ist das so? Der Auftritt der jüngeren Lyrikszene lässt sie quicklebendig erscheinen, umtriebig, vernetzt, in schöner Stimmenvielfalt und mit einem respektablen sprachästhetischen Grundstandard ausgestattet. Obwohl unter ihren Vertretern mannigfaltige Korrespondenzen auszumachen

sind und auch in BELLA triste das gegenseitige Geltenlassen den Disput grundiert, treten nun doch deutlicher die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen poetischen Insistierens, der Traditionsnahmen, der Entdeckungsinteressen zutage. Wollte man unscharfe Begriffe für die einzelnen Richtungen aufwenden, ließen sich etwa Neo-Pathetiker, Sprachpuristen und -alchimisten, post-postmoderne Simulationsexperten, Bilderbauer, Sozialsurrealisten und Deskriptive unterscheiden. Dieses gleichzeitige Nebeneinander unterschiedlicher Konzepte, von den Übergängen und Vermischungen gar nicht zu reden, macht das genauere Abstecken des eigenen Feldes unumgänglich, daher zuvörderst die gegenwärtige Lust auf Poetik.

Ich möchte im Folgenden weniger auf die Ausdifferenzierungen des Feldes »jüngere deutschsprachige Gegenwartslyrik« eingehen, was sinnvoll erst erscheint in bemessenem Abstand zur jüngsten Diskussion, als vielmehr eine Oppositionsfigur herausgreifen, allerdings eine wichtige: Im Laufe der poetologischen Diskussion kristallisierte sich als Hauptschwerpunkt die Auseinandersetzung um Sprachimmanenz und/oder Weltbezug im Gedicht heraus. Die Grundlegung erfolgte durch den Essay Ulf Stolterfohts »Noch einmal: Über Avantgarde und experimentelle Lyrik« in BELLA triste Nr. 17.

Mit Begeisterung las ich Stolterfohts 2007 erschienenes Poem »holzrauch über heslach«, dem zu Recht der diesjährige Peter-Huchel-Preis zuerkannt wurde. Das autobiographisch grundierte Langgedicht besticht durch die Fülle aufscheinender Aromen und Atmosphären, erinnerten Ideologieerrata und unbändigen Sprachwitz. Mit seinem Essay jedoch ging es mir anders. Wenn der Verfasser seinen Text selbst als »verschwurbelt« bezeichnet, ist ihm nur beizupflichten. Genaue Beobachtungen und lyrikgeschichtliche Herleitungen stehen neben unklaren Begrifflichkeiten und abenteuerlichen Abstraktionen. Schon deshalb werde ich mich darauf beschränken, einigen Kernthesen Stolterfohts nachzugehen.

In vielen seiner eingänglichen lyrikhistorischen Untermauerungen ist ihm ja zweifelsohne zuzustimmen. Deutliche Fragezeichen beginne ich zu setzen, wenn Ulf Stolterfoht im dritten Abschnitt zwei Definitionsversuche unternimmt: »Wenn im Folgenden von ›experimenteller Lyrik‹ die Rede ist, dann sind damit Texte gemeint, deren Aussage (falls vorhanden) nicht schon vor Beginn des Schreibprozesses feststeht, die also nicht ein vorgegebenes Bedeutungsziel ansteuern oder dieses womöglich entsprechend illustrieren. Freiheit ist immer auch Absichtsfreiheit.«

Nimmt man einmal die pure instrumentelle Gebrauchslyrik (etwa Agit-Prop-Verse, pornographische Dichtung, Geburtstagsgedichte, Panegyrik, Öko-Kitsch etc.) aus, wird sich schwerlich ein Lyriker oder eine Lyrikerin finden lassen, der oder die bestätigte, irgendein »Bedeutungsziel « ansteuern zu wollen. Am ehesten träfe die vorschriftliche Planfeststellung noch auf die »Konkrete Poesie« zu, wie Stolterfoht sehr zutreffend einräumt, denn all die »Konstellationen« und Permutationen folgen gemeinhin festgelegten Algorithmen. Aber sonst? Keimzelle eines Gedichts ist in den allermeisten Fällen ein Wort, eine Sequenz, eine Metapher, vielleicht die letzte, vielleicht die erste Verszeile. Im Schreibprozess verändert die wachsende Textumgebung allein schon durch die Rückstrahlung weiterer Sinn-, Klang- und Rhythmuselemente »ursprüngliche« Bedeutungszuweisungen. Selbst wenn der Dichter vorgehabt hätte, ein »vorgegebenes Bedeutungsziel an(zu)steuern«, das Ergebnis seiner Schreibbemühung wird in der Regel am Ziel vorbeigeführt worden sein, da die mannigfachen Wirkkräfte von Versrede gar nicht vorab berechnet werden können. Der angeschlossene Behauptungssatz von der Absichtsfreiheit, später noch einmal variiert, erweist sich allein schon durch die semantische Rahmung durch hochkontaminierte Ideologiephrasen als demagogisch. Befremdlich, so etwas von einem hochgeschätzten Autor zu lesen, der ansonsten herrschaftssprachliche Versatzstücke gekonnt zu dekonstruieren weiß. Im übrigen: »holzrauch über heslach« besteht

aus exakt 9 mal 36 Sechszeilern, ganz zufällig natürlich, absichtslos.

Nachdem Ulf Stolterfoht im Folgenden einige Selbstverständlichkeiten berührt wie die, dass ein Gedicht anders gelesen wird als ein Kochrezept, bastelt er weiter an seinem Phantompopanz, genannt »konventionelles Gedicht«, dem nun unterstellt wird, es wolle »auf ein spezifisches, singuläres Sinnziel hinaus! Dieses formuliert sich im plattesten Fall in einer Schlusspointe, in elaborierteren Versionen scheint es auf als eine Art Epiphanie oder Evidenz, die nur so, in der Form dieses einen Gedichtes, gezeigt und nachvollzogen werden kann.« Der damit verbundene »Transfer einer Erscheinung aus der Außenwelt« mache diese »konventionellen« Gedichte »auf eine seltsame Art sprachlos. Indem sie nämlich auf die Unmittelbarkeit ihres zentralen Bildes, eben der Epiphanie, vertrauen, und sei sie sprachlich noch so kunstvoll geformt, haben sie die Lyrik längst in Richtung Bildende Kunst verlassen.« Hier nun begegnet ein unvermuteter Behauptungsdogmatismus, der einigen klassischen Avantgarderichtungen nicht fremd ist, in der durch nichts belegten These,

»konventionelle« Lyrik sei eher der Bildenden Kunst gattungsmäßig zuzuschlagen.

Die nichtsprachlichen Bilder, Epiphanien, Entzückungen, leichten Räusche, die ein Gedicht im besten Fall beim Lesen auslösen kann, sind zuvörderst dem konnotativen Aufladungsgeschehen sprachlicher Zeichen geschuldet, das zu bewerkstelligen Kern der Dichtkunst ist. In der Lyrik geschieht dies, im Unterschied zu einem Großteil der Prosa, auf beiden Ebenen, der des Bezeichnenden und der des Bezeichneten. Die Poetologiegeschichte und die Sprachphilosophie seit Beginn des 20. Jahrhunderts, von Mauthner, Hofmannsthal über Wittgenstein zu Lacan und Derrida haben die Dehnungsgeschichte zwischen Signifikant und Signifikat unhintergehbar als Voraussetzung jeder ernsthaften Diskussion über Sprache, Welt und Dichtung als Prämisse gesetzt. Auch mein Vergnügen in Stolterfohtscher Lyrik beruht auf ihr und dem geschickten Changierspiel zwischen den Ebenen. Ein willkürlich herausgegriffener Ausschnitt aus seinem großartigen Poem: »am rand der heslacher wand bildet ein zeichensystem einen wald / – dort holen wir uns rat. der meister aller schlächtigen taktik, ein / sanfter rebell, entbietet seinen darm. Darunter zwei packen theorie, mit / fischmilz angereichert.« Ich werde als Leser ständig auf Trab gehalten, die deftigen Realitätsverweise ständig mit Operationen auf der Signifikantenebene zu konfrontieren, was durchgängig Genuss bereitet. Nur beruht dieser genau auf der weit gedehnten Relation zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. Das Vertauschungsgeschehen etwa von objektiver Naturrealität (»wald«) und Bewusstseinsabstraktion (»zeichensystem«) in der Ursache-Folge-Relation rezipiere ich als ironiesatten Trick. Was in der Stolterfohtschen Dichtungspraxis exzellenter Einfall, wird allerdings in der Stolterfohtschen Theorie, witzbefreit und der poetischen Leichtigkeit beraubt, zum Dokument eines obskuren sprachphilosophischen Ansatzes: So hebt ein Denkschritt mit der zweifellos zutreffenden Aussage an: »was im Gedicht an Welt zum Vorschein kommt, bleibt immer als sprachlich konstruiert erkennbar.« Der zweite Schritt erscheint bereits problematisch, da er zum Beispiel bildhaftes Denken ausklammert: »Denn wie wäre Welt, auch außerhalb des Gedichts, anders denkbar als sprachlich konstruiert und konstituiert«. Der dritte Schritt mündet in einer Behauptung, an der sich die Geister grundsätzlich scheiden dürften: »das, was allenthalben als ein Manko der experimentellen, auf sich und die Sprache bezugnehmenden Lyrik betrachtet wird, wäre in Wahrheit ihr großer Vorzug: die Dinge so zu nehmen und zu behandeln, wie sie gegeben sind: sprachlich.« Es geht also nicht allein um die Denkbarkeit, sondern um das Gegebensein der »Dinge«, welches sprachlich verfasst sei. Der Satz läuft mithin darauf hinaus, dass außersprachliche Realität für den Lyriker vernachlässigbar ist, oder habe ich etwas überlesen? Als ob diese Realitätsabschneidung bzw. -verkürzung noch nicht genug wäre, verpflichtet er das subjektive Sprachhandeln ausschließlich auf Prozesse des »Verstehens« und »Erkennens «. Diese Alleinstellung gnoseologischer Funktion des Gedichts stellt sich damit sehr wohl in die Reihe der bekannten Alleinvertretungsansprüche altavantgardistischen Zuschnitts. Unter diesen zuschnürenden Prämissen erscheint denn auch der Avantgardetraum, »Kunst und Lebenswirklichkeit zur Deckung zu bringen«, verwirklichbar, »dadurch, dass ich die Realität als sprachlich geformt und genormt erkenne« (Stolterfoht). Diejenigen, die die Nichtsprachlichkeit weiter Wirklichkeitsbereiche, zum Beispiel auch der Natur, voraussetzen, haben dabei ebenso schlechte Karten, sich diesen Traum zu erfüllen, wie die, die Realität auch über das Gehör, den Tastsinn, olfaktorisch, über den Gaumen, über das Auge etc. wahrnehmen und als Dichter wissen, dass diese Erfahrungen nie adäquat zur Sprache gebracht werden können. Sie versuchen es trotzdem immer wieder und bescheren mir ab und an glückhafte Begegnungen mit den Produkten ihres vergeblichen Bemühens.

Zufall, Kalkül der Redaktion? – im gleichen Heft ist ein Plädoyer für das Erhabene in der Lyrik von Uwe Tellkamp zu lesen, ein Essay, der gleichsam die Gegenposition zu Ulf Stolterfohts sprachimmanenten Ansatz umreißt und damit auch den anderen Pol jenes Magnetfeldes bestimmt, in dem sich viele folgende Beiträge zur Poetik ordnen. Seine Kernsätze: »Der moderne Dichter, wie ich ihn verstehe, ist wieder Dom-Baumeister; er ist damit, wie diejenigen, die sich aufmachten, Kap Hoorn zu umsegeln oder einen Seeweg nach Indien zu finden, zwangsläufig pathetisch – was er in Kauf nehmen kann, wenn es ihm gelingt, die grundlegenden menschlichen Empfindungen wieder zu gestalten. Er öffnet sich dem Leiden und der Freude wieder, der Hingabe; auch wird er im Grunde ein

Hoffender sein und damit auf der Seite des wilden, zuckenden, melodramatischen, kitschigen, kraftvollen Lebens stehen. Er hat genug von den Trockenschwimmübungen der Theoretiker und postmoderner Lauheit, die zwar unpathetisch und ironisch gebrochen ist, aber müde, und die niemanden wirklich bewegt.«

Steffen Popp widerspricht, hier Uwe Tellkamp folgend, in BELLA triste Nr. 18 bestimmt und freundlich den Anmutungen des geschätzten Kollegen Stolterfoht. Für Popp ist das »Gedicht ohnehin Ausdruck einer Praxis, die Spur eines Verhaltens«, das »Unternehmen Poesie liegt hier nahe

als eines der Weltaneignung, eine phänomenologische Entdeckerfahrt.«

Unter dem irreführenden Untertitel »Versuch, zwischen Ulf Stolterfoht und Steffen Popp zu vermitteln« verspricht der Nürnberger Lyriker Christian Schloyer in BELLA triste Nr. 19 eine Radikalisierung des Stolterfoht-Ansatzes. Dazu rührt er die ganz große Theorietrommel. Das liest sich dann so, als Tatsachenbehauptung in Konsequenz des in der Tat relevanten »linguistic turn«: »Wahrnehmung, Denken, Erkenntnis, Welt und Bewußtsein sind sprachlich determiniert«. Denken, Erkenntnis – zweifellos, Wahrnehmung, Bewußtsein – nur teilweise, Welt – dies zu behaupten ist Hybris. Von kategorialer Distinktionsfähigkeit zeugt ein solcher Satz nicht gerade. Was den Verfasser nicht daran hindert, »intellektuelle Redlichkeit« nach Tugendhat – natürlich »in einem anderen Zusammenhang« (sic!, was für Sprachspiele!) – einzufordern, die darin bestehen soll, seine Eingangsprämissen bedingungslos zu akzeptieren. Auch kündigt er an, Stolterfohts poetologische Position »etwas unbarmherziger « deuten zu wollen. Dazu zählt auch ein Lyrikbegriff, der alle »bedeutungsgeleiteten Texte« ausschließt. Wer einen Essay mit soviel Drohungen und Aussortierungen eröffnet, generiert einen Duktus der Rechthaberei, will nicht den Leser überzeugen, sondern will verordnen.

Dass sein Redesubjekt immer wieder in die 1. Person Plural hinüberwechselt, komplettiert diesen Eindruck.

Schloyer definiert Lyrik als »Versuch der Sprache, sich selbst zu verstehen. « Er dekretiert: »der Lyriker, der sein Arbeitsmaterial wirklich kennt, weiß, dass Sprache nicht als Träger einer außersprachlichen Bedeutung fungieren kann. Er weiß, dass alle Gegenstände, die in der Sprache benannt sind, sprachliche Gegenstände sind – und keine darüber hinaus materiellen, mystischen oder subjektiv-emotionalen Dinge einer Außen- oder Innenwelt.« Sprache verweise immer nur auf sprachliche

Entitäten, nichtsprachliche Signifikate seien inexistent. Folgerichtig wird von Schloyer das Vorhandensein einer bewusstseinsunabhängigen Realität geleugnet, vielmehr sei »Realität« »alles, was sprachlich verhandelbar ist«, und »unser Bewusstsein ist keine höhere Gehirnfunktion. (…) Es ist Teil der Sprache«. Nun halten philosophische Fragen nach dem Bewusstsein eine Reihe strittigst diskutierter Probleme, etwa des Qualia- oder des Intentionalitätsproblems offen, auch gibt es von Seiten der Spezialwissenschaften höchst unterschiedliche Herangehensweisen an Bewusstseinsphänomene, man denke etwa an die Neurobiologie, Psychologie, Kognitionswissenschaft. Dass der unterschiedlich gebrauchte Begriff »Bewusstsein« so verschiedene Phänomene wie Erinnerung,

Vorstellung, Denken, Wahrnehmung, Empfindung einschließt und Derivaten wie Sprachbewusstsein, Selbstbewusstsein etc. übergeordnet ist, darüber gibt es, soweit ich sehe, wenig Dissens in der wissenschaftlichen Diskussion. Das Sprachzentrum nimmt im Übrigen nur einen bescheidenen

Teil des Organs ein, das Bewusstsein hervorbringt. Aber nach Schloyer ist ja das Bewußtsein nur Teilmenge der Sprache und kann sich »als sprachliches Phänomen« »keine Welt außerhalb der Sprache aneignen« – hier beißt sich die Sprachkatze in den Schwanz. Immerhin konzediert er eine »Unmöglichkeit von Bedeutung und Sehnsucht nach Bedeutung«, die die »bewußtlosen« Emotionen sprachlich einfängt. Dass Weltaneignung mit allen Sinnen geschieht, dass sie auch praktisch, im Handeln, performativ, in der Naturbearbeitung usw. geschieht, alles das interessiert nicht, weil es nicht in das subjektiv-idealistische Konzept passt. Ich habe lange nicht mehr so einen aggressiv daherkommenden und zugleich dogmatischen Reduktionismus zur Kenntnis nehmen müssen, was Sprach- und Lyriktheorie betrifft. Hinzu kommt: Nicht nur, dass Schloyer seine Thesen nirgendwo schlüssig herleitet und eine aberwitzige Behauptung auf die andere stapelt, seine narzisstischen Auffaltungen offenbaren eine Verachtung von Lebenswirklichkeit, anthropologischer Verfasstheiten, von Ängsten, Wünschen und Hoffnungen, von sozialer Realität und Geschichte, die monströs ist. Noch einmal ein Zitat – man achte auf den angemaßten Plural – als Konzentrat Schloyerscher Erkenntnisphilosophie: »Dass es eine fortwährende Zunahme von Erkenntnis gibt, ist gewissermaßen eine ›autonome‹ oder gar ›autistische‹ Leistung der Sprache selbst. In welcher Weise eine mögliche Außenwelt auf unser sprachlich verfasstes Bewusstsein einwirkt, wissen wir nicht. Wir wissen

auch nicht, wie viel wir von einer solchen Welt (wenn überhaupt) schon erschlossen haben und ob da draußen überhaupt etwas herumliegt, was man erschließen könnte. Es mag meinetwegen sinnvoll sein, eine nichtsprachliche Außenwelt als Arbeitshypothese anzunehmen (…).«

Es kann nur darüber spekuliert werden, warum Auffassungen, die »eine nichtsprachliche Außenwelt als Arbeitshypothese annehmen«, neuerdings wieder salonfähig geworden sind. Die verschiedentlichen Bemühungen sind ja nicht zu übersehen, der zeitgenössischen Lyrik wieder einmal ein sprach-philosophisches Korsett verordnen zu wollen. Das Schloyer-Diktat ist nur eine besonders abseitige Variante. Dass Lyrik in den Zeiten des Turbokaptitalismus ihre Marktunförmigkeit in einer besonders trotzigen Verweigerung beglaubigen möchte, ist nachvollziehbar, führt aber umso mehr in eine verschärfte Bedeutungslosigkeit.

Der Korsettierungsversuch ist insofern besonders grotesk, als dass die Mehrzahl der jungen deutschsprachigen Lyrik erkennbar aufsetzt auf die Problematisierung der Verhältnisse zwischen Autor, Sprache und Realität. In den achtziger Jahren haben Gerhard Falkner, Thomas Kling, Peter Waterhouse, Elke Erb, Bert Papenfuß & Co. einen Paradigmenwechsel bewerkstelligt, der heute als Voraussetzung dichterischer Arbeit und poetologischer Reflexion gelten darf. Ihnen ist zu verdanken, dass der »linguistic turn« den ermüdeten Selbstreferentialitäten Bielefelder Provenienz entrissen werden konnte. Die Gedichtbände etwa von Marion Poschmann, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht, Ron Winkler zeigen eindrucksvoll, wie Weltaneignung und -verwandlung im Gedicht und Tanz der Signifikanten einander bereichern können.

Dass da draußen eine Menge herumliegt, was man erschließen könnte, meinen auch einige Autoren der älteren Generation in BELLA triste Nr. 17 (Henning Ahrens, Franz-Josef Czernin) und BELLA triste Nr. 19 (Gerhard Falkner, Enno Stahl). Über Ahrens und Czernin ist das Wesentliche bereits von Gerhard Falkner gesagt worden, deshalb nur eine stichworthafte Einrede zu Ahrens’ großsprecherischer »Befreiung von den Betonköpfen«: Dessen Einlassungen in die Geschichte und Literaturgeschichte sind derart oberflächlich bis hanebüchen, dass man nur kopfschüttelnd davorsitzt. Dass er Sprachplatitüden aus dem Bundeskanzleramt goutiert – »das Deutschland von heute übernimmt Verantwortung« etc. – geschenkt, aber die Behauptung, die »political correctness« hätte die deutsche Literatur noch in den achtziger Jahren »gefesselt und geknebelt«, ist ebenso zweifelhafter Couleur wie die, dass »in der Literatur alles in den neunziger Jahren (begann)«, »auferstanden (…) aus den Ruinen einer untergegangenen Weltordnung«. Nicht nur, dass die alten Ausblendungsmechanismen immer noch tadellos zu funktionieren scheinen – gab es in den achtziger Jahren nicht auch eine ernstzunehmende Literatur aus der DDR, für die »political correctness« ein Fremdwort war? – Urständ feiern, mit dem »alles beginnt« ist es in der Literaturgeschichte so eine Sache, in der beginnt selbst in Bruchzeiten nie einfach so »alles« neu. Man werfe doch beispielsweise nur einen Blick in diverse »Lyrik-Jahrbücher« der achtziger/neunziger Jahre, in denen wie heute miserable, halbwegs gelungene und herausragende Gedichte versammelt worden sind, ohne dass auch nur ansatzweise irgendein Gesinnungs-Diktat dominierte. Wie sang Ost-Import Nina Hagen schon eingangs der seltsamen Achtziger: »alles so schön bunt hier«. Selbstredend aber gab es, gibt es Verschiebungen der Aufmerksamkeit, wie die von der Laber-Lyrik der Siebziger zur konzentrierten, Sprachraffinesse und -reflexion goutierenden der achtziger Jahre, mit der feuilletongesteuerten

Zwischenkonjunktur entleerter Formalität à la Ulla Hahn. Die geschichtlichen Erdbeben 1989/90 haben wohl in den Distributions- und Konsumtionsverhältnissen Umschichtungen gezeitigt, weniger aber in Autorenpoetiken, jedenfalls nicht so, dass der schon immer platten These, ästhetische Zäsuren folgten den politischen, Belege geliefert werden könnte; ästhetischer Eigensinn folgt anderen Gesetzen als denen der Folgerichtigkeit. Ich werde ziemlich misstrauisch, wann immer und von

wem immer ein »goldenes Zeitalter« ausgerufen wird. Ahrens tut es, mit genau den ideologisch grundierten Argumenten, die zu bekämpfen er vorgibt, und hier wird seine Anbiederei an die nächste Generation unfreiwillig komisch. Hier wird auf jeden Fall zuviel Welt-Anschauung und zuwenig Sprachanbauung praktiziert.

Ob die junge deutschsprachige Lyrik literaturgeschichtlich zäsurfähig ist, lässt sich jedenfalls jetzt noch nicht sagen, ohne ins Orakeln zu verfallen. Zu einem ersten Nachdenken sind Gerhard Falkners polemische Einlassungen in BELLA triste Nr. 19 allemal methodisch hilfreich, nämlich inner-literarische Bewegungen von außerliterarischen Novitäten zu unterscheiden, etwa die qualitativ anderen Möglichkeiten der Selbstorganisation der community über das Internet. Ich halte, mit Blick auf die Lyrik etwa Ron Winklers, Monika Rincks, Daniel Falbs, Hendrik Jacksons, seine These von einem »nochmals neuen Sampling von Codes, die inzwischen selbst wiederum Codes von Codes von Codes geworden sind« (Falkner), für überdenkenswert. Er hält die Lyrik für die »einzig intelligente Unzurechnungsfähigkeit im totalen Marktgeschehen, freilich momentan um den Preis, dass die gesellschaftlich orientierte »Vision (…) einem Verknüpfungszwang noch kleinteiligerer Diskurse gewichen« sei.

Töne eines leisen Unbehagens an der Schickung in die Post-Postmoderne sind allenthalben zu vernehmen, so bei Uwe Tellkamp, Hendrik Jackson, Gerhard Falkner und in Enno Stahls Essay »Risikogesellschaften. Lyrik und ihre Bilder vom Sozialen«. »Was mir fehlt,«, heißt es dort, »– zumindest als Alternative –, ist eine Lyrik, die aus heftigem Leben oder Erleben heraus entsteht, muss

nicht hard mouthed poetry sein, aber unmittelbares Sprechen, Intensität «. In seinen Augen wird »der poetologische Diskurs zu selbstbezüglich geführt – die Frage nach dem Verhältnis zur Welt wird ausgeklammert, Autopoisis, Worte über Worte (…)«. Wenn man sich die verquatschten EMail-

Wechsel in BELLA triste Nr. 20 – Ausnahme Bertram Reinecke – zu Gemüte führt, kann man Enno Stahl zunächst nur zustimmen. Und doch störe ich mich an der Forderung nach »unmittelbarem Sprechen«, die ja bereits in seinen »Thesen zur sozial-realistischen Lyrik« (www.krash.de) nachzulesen war. Das »Repertoire der unmittelbaren Anschauung« wird kaum ausreichen, um hochgradige Vermitteltheiten unserer Wahrnehmung poetisch zu erfassen. Auch der Aufbau des Gegensatzpaares »verständliche Gebrauchslyrik« versus »überflüssige Verrätselung«, den er in seinen Thesen unternimmt, reproduziert nur gängige Vorurteile gegenüber neuer Lyrik und geht am Kern des Anliegens vorbei. Das Rätselhafte gehört essentiell zum Poetischen, wie eingängige Verständlichkeit

gemeinhin Langeweile produziert, in der Lyrik jedenfalls. Ästhetische Kriterien lassen sich nicht einfach dispensieren, das bekräftigt ja auch Stahl in seinem neueren, ansonsten substantiellen Beitrag in BELLA triste. Sie aber entschiedener rückzubinden an gesellschaftliche Widersprüche, an Lebensfragen, die von den immer uniformer und aggressiver gewordenen Herrschaftsdiskursen in den kapitalistischen Gesellschaften verschwiegen, umgelogen, umgewertet werden, dieses Bedürfnis entspricht offenbar Intentionen etlicher Lyriker und Lyrikerinnen der jüngeren Generation. Enno Stahl führt ja in seinem BELLA triste-Beitrag mit Björn Kuhligk, Tom Schulz, HEL, Gerald Fiebig, Stan Lafleur Namen von Lyrikern an, die Bilder des Sozialen generieren und Haltungen ausstellen,

ohne in Sprachplattitüden zurückzufallen.

Es bedarf keiner Phantasie zu mutmaßen, dass die Auseinandersetzungen zwischen Sprachpuristen und Welt-Läufigen, die sich übrigens auch in den Entzündlichkeiten um die Lyrik Anja Utlers widerspiegeln, in die nächste und übernächste Runde gehen werden. Kein Wunder, es ist ja ein Streitgeschehen, das auf eine ziemlich lange Tradition im 20. Jahrhundert verweisen kann. Da aber Lyriker und Lyrikerinnen wie Steffen Popp, Uwe Tellkamp, Hendrik Jackson, Marion Poschmann (BELLA triste Nr. 18), Ann Cotten, Ulf Stolterfoht, ich breche hier Namensnennungen ab, über

eine exzellente Reflexionsfähigkeit über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Arbeit in der Sprache verfügen, haben sie gute Argumente, um die hie und da auftauchenden Korsettisten wie die Theortiker Schloyer, Kiefer, Czernin und Stolterfoht in spannende Händel zu verwickeln.