Wie gut sind diese Verse?

                              „Von einem Wort zum andern

                                Verflüchtigt sich, was ich sage.

                                Ich weiß, daß ich lebendig bin

                                Zwischen zwei Klammern.”

Verse wie diese nähm ich als Buchkritiker gern unter die Lupe, nur müßt ich vorher wissen, wer sie verfaßt hat. Falls sie bereits aus der Tang-Dynastie herwehen, also z. B. von Du Fu (712-770), dann gerieten diese Verse erstaunlich frühreif, geradezu modern, eindeutig von höchster Qualität, kongenial übersetzt von Günther Debon. Falls sie gar von Li Tai Bo stammen, besteht sowieso kein Zweifel, es sei denn, Hans Bethge hätte sie nachgedichtet. Sehr schön – und rührend! – klänge die Strophe auch dann, wenn sie vom koreanischen Dichter Ho Nansorhon (1563-1589) stammte. So oder so oder so, das Bild von den Klammern (die das lebendige Individuum offenbar schon damals bös zusammendrückten) antizipiert förmlich die Kälte des Industriezeitalters, das eigentlich erst tausend Jahre später loslegte.

   Falls hingegen das Gedicht mal wieder aus dem Tagebuch von Bianca stammt (Schülerin, 17, Bielefeld), oder von Astrid Gehlhoff-Claes (geb. 6.1.1928), handelt es sich eindeutig um den vorletzten Kitsch. Das kann mich aber nicht abhalten, zumindest Bianca zu weiteren Arbeiten zu ermutigen.

  Die ersten drei Zeilen könnten sogar aus Erbauungsbuchtiteln wie „Ehe die Spuren verwehen” stammen. Sie klingen in jedem Fall eher nach Lyrikerin als nach jenen Lyrikern, die noch nicht ihrerseits nach Lyrikerin riechen. Seit 1945 kann kaum noch jemand beschwören, ob „die blutende Wunde der Schöpfung” aus heutiger Hausfrauenlyrik stammt, oder nicht doch bereits von Gottfried Benn.

  Leider wächst mein Verdacht, daß besagte Poesie – überschrieben mit dem vielleicht weiterhelfenden Titel „Gewißheit” – aus diesem Jahrhundert stammt, womöglich gar von einer noch unter uns weilenden Lyrikerin — von welcher?

  Brecht-Enkelinnen kommen schon aufgrund ihrer kühneren Enjambements nicht in die engere Auswahl. Zwar klingt die Strophe verdächtig zeitlos, doch verjährt sie prompt, sobald sie von 1993 stammt. Nie würde Friederike Mayröcker solche Harmlosigkeiten über ihre Lippen lassen; Sarah Kirsch, Ulla Hahn, Karl Krolow und Peter Härtling zwar schon eher, doch letzten Endes hoffentlich genauso wenig — oder etwa doch?

  Wer wars?

  Wer rät mit? Monika Littau? Olly Komenda-Soentgerath (die Lyrik von Jaroslav Seifert ins Deutsche übertrug)? Der NDS (Neueste deutschsprachige Simplizität) wäre natürlich alles zuzutrauen. Sage mir, wer das Ding wann und in welchem Alter verfaßt hat, oder ich verschweige, wie unsterblich dieser Schwachsinn tönt.

   Oder handelt es sich etwa um eine Jugendsünde von Krüger, Albertsen-Corino, Wüllenweber, Horstmann oder Holbein, bis dato leider noch unveröffentlicht? rainer schedlinski, ginka steinwachs und kurt marti können es schon deshalb nicht sein, weil die ihre lyrik in kleinschrift abfassen. Überhaupt: Ein/e Zeitgenosse/in (Zutreffendes bitte streichen) kommt nicht äußerst in Frage. Denn spätestens seit dem frühen Rilke werden Zeilenanfänge nicht mehr großgeschrieben, außer bei der Rückfallyrik Grünbeins u. v. a.

   Viel verzeihlicher sieht die Sache aus, wenn das Gedicht „Gewißheit” nicht aus alten und neuen Bundesländern stammt, sondern aus Polen oder Peru, Kambodscha oder Nevada. Pablo Neruda, Jaroslav Seifert (der Lyrik von Olly Komenda-Soentgerath ins Tschechische übertrug) und Joseph Brodsky unterliegen nicht den unmenschlichen Einreisebedingungen in Richtung Parnaß, also dem Druck, daß immer alles superneu sein und sich gewaltsam von vergleichbarer Poesie unterscheiden muß. Im Einzugsgebiet des Nobelpreises darf jederzeit gute alte Dichtung entstehen, unbeirrbar standfest und als Dichtung sofort erkennbar, mehr oder weniger tagoreförmig gebaut, statt daß flapsig rumgejandelt und rumgerühmkorft wird. Kurz: Neruda wars!

  Jan oder Pablo?

  Doch halt – Kommando zurück! Paz war’s, Octavio Paz, keine Lyrikerin, also ein Vollmann, und übertragen hat’s Fritz Vogelsang. (Dinescu, Herta Müller und Richard Wagner hingegen hätten sich sowas wiederum weniger erlauben dürfen; das Wort Klammer wäre viel zu bagatellisierend gewesen im Angesicht dessen, was diese Dichter an troubles hinter sich haben.)

   Für wen das Gedicht jetzt nur noch halb so gut ist, weil nicht Du Fu als Dichter signierte, tut nicht nur Paz unrecht, sondern vor allem Ulla Hahn und all denen, die man momentweise mit Recht verdächtigt hat. Die Qualitäten eines Kunstwerks können doch wohl nicht von der zufälligen Größe des Verfassernamens abhängen, und davon, ob sein Wortlaut rechtzeitig hervorkam, nach dem Motto: „Je später, desto schlechter”.  Schlechte Gedichte sind halt nur dann ganz herrlich, wenn Goethe sie sich abmolk.

  Immerhin verfaßte Octavio Paz die Sache nicht 1993, sondern 1961.

   Nur, wenn‘s auf einmal doch Sarah Kirsch verbrach?

  Nein, die war es nicht; wir wollen uns nicht kirre machen lassen und standfest für Octavio Paz votieren. Der deutsche Gesang lautet im Original so hier:

                                                     „Yo se que estoy vivo

                                                      Entre dos parentesis”

Nirgendwo ein Verwechslungs-Quiz, das nicht genau in die hiermit angerissenen Probleme hineinführte — und so schnell nicht wieder raus!

Ulrich Holbein