Beobachtungen zu Räumen in Seamus Heaneys Gedicht Rot, Weiß und Blau
„Words are doors“, sagte Seamus Heaney bei einer Lesung in der Royal Society of Literature.
Wörter sind Türen – und Türen öffnen Räume. Wie programmatisch diese Aussage für Heaneys Lyrik ist, lässt sich auch an seinem dreiteiligen Gedicht Rot, Weiß und Blau beobachten. Heaney spannt hier vielschichtige Orts-, Zeit-, Farb- und Klangräume auf, die große Strecken überwinden.
Die Orte führen vom Knie über Koppel und Tanzboden bis zum Kreißsaal, von dort gelangt man zu einer Zugbrücke, in einen Burggraben oder auf Zinnen, weiter geht es über dasTorhaus von Casdebellingham nach Südirland, in abgebrannte Städte und in Heaneys Wohnort Wicklow, schließlich in einen Rolls Royce, ein Venus-Fahrzeug.
Die Zeiträume reichen bis tief in die irische und römische Mythologie zurück, rufen die höfische Kultur des Mittelalters auf, die Renaissance, den irischen Bürgerkrieg von 1913 bis 1923 und schließlich das Jahr 1963, in dem der letzte Teil des Gedichts spielt. Das dominierende öffentliche Ereignis dieses Jahres war der Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, dessen Familie aus Irland stammt. Die Abschaffung derTodesstrafe im gleichen Jahr wirkt daneben fast unbedeutend.
An Klangräumen ruft Heaney Swing-Musik und Hufgetrappel, Hallenbadgeschrei, Schmerzenslaute, den Tonfall der irischen Oberschicht, Kriegslärm, große Feuer, knisternde Seide und das Schnurren eines Rolls Royce auf. Der Klang des gesprochenen Gedichts öffnet eine weitere Dimension. Schon beim ersten Lesen fallen die vielen Assonanzen und Alliterationen auf, die Heaney geradezu komponiert. Exemplarisch nenne ich hier nur einige wenige: the glow and gladsomeness; a cut-off top of sorts; some coaching inn in Wicklow; the Rolls flows softly to a halt. Um die gesamte Fülle der Klangräume zu erfassen, bedürfte es einer differenzierten phonetischen Analyse des Gedichts.
Schließlich die Farben Rot, Weiß und Blau mit ihren Bedeutungsräumen und Konnotationen. Im ersten Teil mit der Überschrift Rot erzählt Heaney, wie er bei einer Tanzveranstaltung seine spätere Frau Marie kennenlernt. Sie trägt einen scharlachroten Mantel, der auch in späteren Gedichten Heaneys noch eine Rolle spielt. Die Bedeutung des Rot ist hier ganz klassisch, es steht für Liebe, Leidenschaft und Leben.
Auf Rot folgt Weiß, die Symbolfarbe für Reinheit, Unschuld und Frieden. Daneben steht sie aber auch für die Feigheit, in diesem Fall für die Feigheit des lyrischen Ichs, also Seamus Heaney selber. Er lässt seine Frau bei der Geburt des ersten Kindes allein, was zur damaligen Zeit gar nicht anders möglich war, denn werdenden Vätern war der Zutritt zum Kreißsaal strikt verwehrt. Dennoch hadert der Ritter von der Weißen Feder mit seiner Abwesenheit und nennt sie Flucht. Schwingt da schlechtes Gewissen mit, weil vielleicht auch ein wenig Erleichterung dabei war, dem Schmerz nicht beiwohnen zu müssen?
Den Abschluss bildet das Blau, das im Mittelalter allein den Königen vorbehalten war und noch lange die Farbe des hohen Adels blieb. In Irland ist Blau die Farbe des Nationalheiligen St. Patrick und in der Geschichte des mystischen Helden Cú Chulainn gibt es eine Schlüsselszene, in der ein blauer Mantel eine bedeutende Rolle spielt. Wie alle Katholiken verbinden auch die irischen Katholiken Blau unmittelbar mit der Gottesmutter Maria und ihrem weiten Mantel.
In diesem letzten und längsten Teil von Heaneys Gedicht schimmert das Blau zu Beginn in der Noblesse des vornehmen Tonfalls durch, den Marie unaffektiert zu kopieren weiß (und den Heaney in seiner Ausdrucksweise aufgreift: Sie geruhte, Aufmerksamkeit zu schenken). Dann wird es von einem Schwenk zur irischen Revolution und abgebrannten Städten verdrängt, bis es in den letzten Zeilen umso deutlicher erscheint, wenn Marie ganz in Blau gekleidet und mit viel blauem Lidschatten wie eine Venus von Botticelli in den 1960ern in einen blauen Rolls Royce steigt – und die Leidenschaft und Liebe des Gedichtanfangs wieder aufruft.
Die Orts-, Zeit-, Klang- und Farbräume im Gedicht haben allesamt mehrere Schichten und sind vielfach miteinander verknüpft. Um mich Rot, Weiß und Blau in seiner Komplexität weiter zu nähern, würde ich – von den Zeiträumen ausgehend, – als Nächstes die intertextuellen Bezüge untersuchen. Das schaffe ich in der kurzen Zeit, die mir für die Bearbeitung dieser Aufgabe zur Verfügung steht, leider nicht. In meinen Notizen zum Schreibprozess finden sich erste Ansatzpunkte, die ich in der Diskussion weiter ausführen kann.
Dorotheé Leidig