Sprachvergessene Romanversessenheit
Stellen Sie sich vor, die Konzertsäle des Landes würden plötzlich nur noch Symphonien ins Programm nehmen, die großen Labels ausschließlich Einspielungen von Symphonien produzieren und die Musikverlage nur noch Partituren von Symphonien drucken; alle übrigen Genres der klassischen Musik, einschließlich gattungssprengender Experimentalformen, wären plötzlich zu sekundären, inferioren Nischenphänomenen degradiert und zu einem randständigen Schattendasein auf Nebenbühnen und in Hinterhöfen verurteilt.
So absurd eine derartige Vorstellung angesichts der faktischen Vielfalt aufgeführter musikalischer Formen anmutet, so natürlich erscheint sie zunehmend in der rapide und radikal verarmenden Literaturlandschaft: Schon 2015 konstatierte Gisa Funck im Deutschlandfunk den Siegeszug des Romans – einen Siegeszug, der bis heute unaufhaltsam voranschreitet und Territorium um Territorium erfasst. Nicht nur gilt für einen Großteil der Leserschaft inzwischen die Formel »Belletristisches Buch gleich Roman«, sondern auch für Verlagshäuser und Literaturveranstalter ist diese Gleichung offenbar zum unhinterfragten Axiom ihres Handelns geworden: Was nicht Roman heißt, hat kaum eine Chance auf Veröffentlichung in einem größeren Verlag – und falls trotzdem publiziert, bleibt der Nichtroman in der Regel unbeachtet, sowohl von Literaturhäusern als auch vom einschlägigen Feuilleton.
Denn auch die Kritik sieht sich seit geraumer Zeit nicht allein jeglicher Verantwortung enthoben, die Leserschaft darüber aufzuklären, was jenseits der Massenware Roman an Formenreichtum vorzufinden wäre; sie reflektiert nicht einmal diejenige Kapitulation, die sie längst vor dem monopolistischen Primat des Romans angetreten hat – sich in vorauseilendem Gehorsam einer antizipierten Marktlogik fügend, zu deren willfähriger Vollstreckerin sie allerdings selbst immer mehr verkommt: Sobald nämlich die Kritiker meinen, niemand lese Kritiken, die keine Romane zum Gegenstand haben, die Leserschaft aber nur noch Romane kauft, weil die Kritiken nichts anderes zum Gegenstand haben, dann finden wir uns mitten im Abwärtsschwung der klassischen spätkapitalistischen Egalisierungsspirale wieder.
Dass eine eigentliche Stilkritik in deutschsprachigen Feuilletons nicht mehr stattfindet, ist ein Skandalon, welches mit der Fixierung auf den Roman unmittelbar einhergeht. Denn bevorzugt werden gemeinhin Romane eines bestimmten Zuschnitts, wie ihn der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler jüngst in seinem Essay »Populärer Realismus« nicht unpolemisch, aber trefflich dargestellt hat. Diese Romane kommen in einer stilistisch belanglosen Diktion daher und zielen auf die reibungslose Rezeption einer Handlung und eines Themas, die für gewöhnlich durch biographische oder historische Authentizität und den Gestus der Betroffenheit affirmiert sind. Demgemäß bespricht also auch das Feuilleton diese Romane vorwiegend nach sachlich-inhaltlichen Kriterien – ganz als würden im Literaturteil die Leitartikel der vorangehenden Zeitungsseiten rezensiert und nicht Sprachkunstwerke sui generis.
Zwar fällt in Romanrezensionen nahezu obligatorisch das Attribut »sprachgewaltig«; sich jedoch damit aufzuhalten, diese angebliche Sprachgewalt dem Leser auch nur in drei Wörtern näher auseinanderzusetzen, fehlt den Rezensenten offenbar regelmäßig die Muße. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nämlich um ein rein alibimäßiges Relikt der Stilkritik, und so reiht sich die wenig sprachgewaltige Floskel von der Sprachgewalt umstandslos ein ins inhaltsbezogene literaturkritische Buzzwordbingo – neben die »Verhandlung relevanter Themen«, die »Tiefenbohrungen in Wirklichkeitsräumen«, oder, nicht zu vergessen, die »Auslotung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse«.
Im Ergebnis etabliert sich allenthalben eine obszöne Liaison von Romanversessenheit und Stilvergessenheit. »Aber es gibt doch so viele großartige Romane! Wie kann man da das Romangenre angreifen?«, so höre ich es von allen Seiten rufen. Nun geht es hier weder darum, bestimmten Arten des Romans zu diskreditieren, noch die Gattung als solche in Verruf zu bringen. Kunstformen als solche gegeneinander ausspielen zu wollen, das kann eigentlich nur einem naiven Konsumenten einfallen, der die eigenen Rezeptionsgewohnheiten und -vorlieben ohne weiteres zur Norm erhebt.
Doch das Romanmonopol bewirkt genau dies: Dass nämlich alle anderen Literaturgattungen bestenfalls noch als Vorstufen zum Roman wahrgenommen werden. Keine Lyrikerin und kein Kurzprosaist, die nicht schon zigmal gefragt worden wären: »Haben Sie denn auch schon ein richtiges Buch geschrieben?«
Nicht um eine Abwertung des Romangenres geht es hier also, sondern um einen Aufruf zur Rettung und Ehrenrettung der staunenswerten Vielfalt von Formen und Stilen, die innerhalb mehrerer Jahrtausende Literaturgeschichte entstanden sind und die nun von der sprachvergessenen Romanversessenheit bedroht erscheinen. Wäre es nicht aufregend, in den Regalen der Buchhandlungen neben all den Romanen auch nur halb so viele Bände vorzufinden mit Langgedichten oder Kurzgeschichten, Dramoletten oder Novellen, Aphorismen oder Palindromen, Satiren oder Parodien?
Oder auch mit polemischen Glossen; glücklicherweise sind diese noch nicht ausgestorben.
Alexander Estis
Dieser Text erschien zuerst in einer kürzeren Fassung im Deutschlandfunk am 22.06.2023. Herzlichen Dank an Deutschlandfunk.