Über Alexej Parschtschikows Gedicht „Kater“ und die Tradition des Dinggedichts
Alexej Parschtschikows Dichtung steht in der Tradition des in Deutschland sogenannten Dinggedichts (object poem), darauf weisen nicht nur bereits die vielen programmatisch das Thema umreißenden Titel hin, sondern auch sein lyrisches Verfahren, das sich als gleichzeitiges Dechiffrieren und Rechriffrieren der Kulturschichten, die über dem Ding, dem Gegenstand lagern, lesen lässt – immer im Bestreben, zum Gegenstand selbst vorzudringen, der sich allerdings hartnäckig entzieht.
„Dinggedicht“ – diese Bezeichnung entstand Anfang des 20. Jahrhunderts, als auf vielen Ebenen (Philosophie, Dichtung, Kunst etc) eine Art Gegenbewegung zu symbolistischen Tendenzen der symbolistischen Überhöhung von Wirklichkeit, Gegenständen, Tieren und Farben proklamiert worden war, um eine Rückkehr zu diesen Dingen selbst zu initiieren, eine Entschlackung von der Abstraktion des Symbols zu betreiben. Was die Gedichte angeht, so sollten sie sich den Objekten und Kreaturen in einer Weise widmen, die die Singularität und das Wesen des Dings oder zumindest seiner Erscheinung zum Ausdruck bringen sollten. Diesem Ansatz sind Verfahren wie das lyrische, die ein Thema akkumulativ, kontemplativ und assoziativ umkreisen, per se nahe. So ist es kein Wunder, dass sich in der Lyrik eine regelrechte Tradition herausbildete, die bis heute wirkt. Zuletzt erst hat Jan Wagner wieder diese stete Rückkehr in Bild und Beschreibung zum Objekt in den Mittelpunkt vieler seine Gedichte gestellt, allerdings schon so, dass es zu jedem Ding oder jeder seiner Erscheinungsform quasi ein Vexierbild gibt, ein literarisches Double in der Metapher, die seine Ambivalenz, seine Paarbeziehung aufdeckt. Alexej Parschtschikows Dichtung unterscheidet sich von diesen Umkreisungen eines Objekts, indem es ihm zwar als Motivation auch um die Rückkehr geht, doch mündet sie stets ebenso paradoxerweise wie logisch zwingend in eine Abstoßbewegung, in eine Multiplizierung von Bedeutung. Wo Jan Wagner die Idee des Dinggedichts (Einfühlung in das zu beschreibende Objekt, Vergleich als Annäherung durch Ähnlichkeit) bereits verschiebt hin auf den Vergleich selbst, der nun wichtiger erscheint als das Ding (also eine Art Metametaphorismus, wie man den „Metarealismus“ auch nannte (so wiederum nennt man die lyrische Bewegung Anfang der 90-er Jahre in der Post-Sowjetzeit, der Parschtschikow zugezählt wird). Diese Entkoppelung vom unmittelbaren Ding hin auf den Vergleich kann bei Wagner dann auch Retroelemente begünstigen, der Gegenstand verklärt in seiner Wiederkehr, Erkennungsmerkmale werden nur so eingesetzt, dass der Gegenstand Miniatur wird, der Vergleich hingegen aus ihm aufsteigt.
Dies Zusammenspiel der Metaphern, die eine doppelte Welt, eine kleine und eine große generieren, dreht Parschtschikow noch weiter in eine Entfesselung: in jedem Bild steckt ein weiteres Bild, aber alle waren irgendwie schon im ersten enthalten, auf das er folglich immer wieder zurückkommt, aber nur um sich noch weiter abzustoßen.
So sehr seine Methodik auch gegen unendlich geht, die Nabelschnur zur Ur- oder Ausgangsszene bleibt stets erhalten und genau damit schreibt er die Tradition des Dinggedichts fort, indem er die volle virtuelle Potentialität, das latente Material des Dings entfaltet. Wenn Parschtschikow den leathermen einmal als idealen Gegenstand bezeichnete, weil in ihm alle Bewegungen der Welt enthalten seien, zeichnet das recht gut sein eigenes Verfahren. Das ist mehr als ein einfaches Assoziieren: die jeweilige „Urszene“ – meist geht es bei ihm nicht so sehr um ein Ding, sondern vielmehr eine ganze Situation, in die dies Ding eingebettet ist („Minusschiff“; „Kater“ etc) oder eine Erkenntnis des Materials, einen Heurekamoment („Erdöl“, „Luftschiff“ etc) – bietet bereits schier unerschöpfliche Ausfaltungsmöglichkeiten; eben weil Formen immer schon verweisen und letztlich auf Variationen von Bekanntem (wie eben auch Wörter aus Buchstaben bestehen) zurückgehen. Diese Ausfaltungen sind aber keineswegs beliebig oder subjektiv, sondern spiegeln Kulturmomente und Schichten der Tradition und der Sprache wieder.
Gerade in letzterer Erkenntnis der unendlichen Variabilität der Zeichen kündigt sich Parschtschikows Bezug zur „language poetry“ an, zu deren Insistieren auf das Gemachte des Gedichts und der Konstruktion von Bedeutung durch die Leser. Dennoch scheint die Bildtrunkenheit Parschtschikows zunächst etwas „kategorial“ anderes als die hochreflexive Welt der language poetry. Allein, hier zeigt sich am Umgang mit dem Bildmaterial, dass es abgesehen vom ganzen Topos des Verweischarakters von Zeichen noch eine andere Nähe zur language school gibt, die sich nicht unmittelbar erschließt: die der ambivalenten Offenheit. Hierfür muss man etwas ausholen.
Immer wieder sucht Parschtschikow, hier wieder ganz in der Dinggedichttradition, einen Nullpunkt, einen Punkt, von dem aus man die Erscheinung in aller Unbescholtenheit und Unberührtheit beschreiben kann. Natürlich gibt es den nicht: sofort wird der Dichter von der Sprache auf Narrative und Metaphern zurückgeworfen. Die Anthropomorphisierung beginnt mit dem ersten Wort, in dieser Hinsicht war auch Rilke darauf angewiesen, z.B. bei seinem berühmtesten Gedicht „Der Panther“, sehr spekulativ Schnittmengen zwischen der Welt des Panthers und des Menschen anzunehmen, auf die die Metaphern dann rekurrieren können. Diese Bildwelten aber, erst Recht jegliche Narrative, zeichnen sich dadurch aus, dass sie in eine Richtung drängen, eine Auslegung. Selbst die vielgestaltigste Offenheit bündelt sich in der Autorgestalt, im Helden, in der Moral, im Protest, in der Narration mit identifikatorischen Momenten etc. Nicht nur die language poetry hat versucht, sich dagegen zu sperren, indem sie eine eindeutige Auslegung und eine strigente Narration verweigerte und versuchte, Offenheitsmarker so in den Text einzubauen, dass diese nicht wieder subsumiert werden können. Parschtschikow geht allerdings, wie ich meine, einen anderen Weg, er lässt durchaus eindeutige Auslegungen zu, aber multipliziert sie. Seine Dichtung sperrt sich nicht gegen eine Auslegung, sondern gegen eine (oder auch zwei, drei). Ich will dies am Gedicht „Kater“ zeigen, das doch für Parschtschikows Verhältnisse noch recht eindeutig zu verstehen sein sollte, oder?
Kater
Durch die Fabrik zur Herstellung von Antibiotika streunen Kater.
Einer dort – pockennarbig, wie ein ersoffener, muschelüberwachsener Baumstumpf.
Ein anderer – dünngliedrig mit heraushängender Zunge – eine Art Feuerhaken.
Ein dritter – gigantischer als eine Windstille im Persischen Golf.
So laufen sie über die Halden des Pharmakonzerns
und schlecken Tabletten
zwischen Pest und Cholera,
Grippe und Pocken,
winden sich zwischen den Toden.
Sie umbiegen weich die Dinge, Könige der Nachgiebigkeit,
einzig im Krepieren stoßen sie auf ihr Skelett.
Da krümmt sich ein Schwarzfell, wühlt in der Erde,
und ihm scheint, dass er in ihr eingegraben ist.
Und der Weiße dort, von Drogen entkräftet,
ist nurmehr ein Herz im sich sträubenden
Gefieder, im Federgrasschmuck.
Die Kater ahnen, dass sie das Paradies erblicken.
Sie werden seine Träger,
als ob sie eine Plane aufgespannt hätten
und sich anschickten, den Apfelbaum
durchzuschütteln.
Haben das Paradies eingefangen.
Und sie werden gemessen schreiten,
wie Mechaniker neben einem Flugzeugflügel,
umfangen von der Kraft des Verschwindens.
Und sie werden das Paradies aus ihren Pfoten gleiten lassen.
Und Diktatoren werden heraustreten, ihnen entgegenkommen
und die Kater mit ihren Stiefeln zertreten.
Nero im Kampf mit einem Kater.
Attila im Kampf mit einem Kater.
Iwan der Vierte im Kampf mit einem Kater.
Lawrenti im Kampf mit einem Kater.
Korea im Kampf mit einem Kater.
Kotow im Kampf mit einem Kater.
Kater im Kampf mit einem Kater.
Doch nichts ist das Karate der Kater im Vergleich zu den Statuen
der Diktatoren.
Das Gedicht beginnt klassisch für Parschtschikow mit einer gut identifizierbaren Szene: Kater, die unglücklicherweise Tabletten auf einer (mutmaßlich sowjetischen) Fabrikhalde gegessen haben, geben ein jämmerlich-ulkiges und zugleich erhaben-heroisches Bild ab. Dieses Szenario wird in Metaphern entfaltet, aber eskaliert schon ziemlich bald, es braucht nur drei Vergleiche, um bereits im Monumentalen und Weltumspannenden zu sein: „gigantischer als eine Windstille im persischen Golf“. Doch kehrt das lyrische Ich, auch typisch, wieder zurück zum Bild und holt immer wieder neu aus. So weit kennen wir sein Verfahren aus vielen anderen Gedichten. Was auf den ersten Blick wie eine Ansammlung vieler Metaphern erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein konsequentes Ausfalten der verborgenen Bezüge zu „allen Formen der Welt“, ohne aber die Herkunft aufzugeben und im willkürlich völlig Entfesselten zu landen.
Genau in letzterem, in dem Festhalten an einer Erfahrung, die durch viele Vergleiche irgendwie doch beschrieben wird, lauert natürlich eine regressive Gefahr, nämlich die des Zurückfallens in ein voravantgardistisches Konzept der Abbildung. So sehr die Angst vor einer völligen Entkoppelung von Signifikat und Signifikant, von Erfahrungswelt und Gedichtkonstrukt verständlich sein mag, sie kann allein durch den Willen, sich beisammen zu halten, nicht überzeugen gegenüber der Tendenz der Sprache zur Verselbstständigung: letztlich ist ja gerade eine lebensweltliche situative Verankerung arbiträr und kontingent, nicht aber die Sprachsystematik mit ihren gewachsenen und systematisch zu erarbeitenden Bedeutungen.
Doch will Parschtschikow wirklich die Frage nach dem Bild, nach seinem Gehalt aufwerfen, um etwa eine Eindeutigkeit zu restaurieren, um der lieben Erfahrungswelt willen, die vermeintlich doch so ist, wie sie ist? Nein, er kehrt auf eine Weise zurück, die nicht nur Ambivalenz aushält, sondern die, und da geht er dann ganz in der Konsequenz aus dem Geist der language school auf, Gleichzeitigkeiten loslässt, auf Vielgefaltetheit hin öffnet, offen liegen lässt („auf(f)liegen“ könnte man fast sagen). Genau dies sehen wir in diesem Gedicht, das sich zunächst zuspitzt: die Kater halten gar das Paradies in den Händen, das sie aber entgleiten lassen. Was soll das sein? Eine Parodie auf Wesen, die sich übernehmen, die sich überheben und so der Lächerlichkeit preisgeben (à la höhö schau diese größenwahnsinnigen Kater, die dem Menschen nacheifern!“)? Oder doch eher ein kritisches Bild dieser Gestalten, die vom Menschen deformiert wurden (was hat man mit den armen Geschöpfen gemacht!)? Und spiegelt sich in diesen Katern nicht die Hybris des Menschen selbst, der menschlichen Gesellschaft, in der offensichtlich etwas schief läuft (wenn deren Stellvertreter Diktatoren sind, die sich überdies in einen grotesken Kampf mit den Katern begeben um diese zu zerquetschen)? Aber mehr noch: wer ist jetzt eigentlich Kater und wer ist Mensch? Verwischt das nicht? Sind die Diktatoren Ausgeburten der bedröhnten Fantasie der Kater – und diese wiederum damit vollends anthropomorph? Ja, wir können die Kater nicht erkennen, wir machen sie im Gedicht zu Menschen – aber warum kämpfen diese Menschen dann mit diesen Ausgeburten ihrer Fantasie – eben mit sich selbst: Kater kämpft mit Kater (der schon irgendwie Mensch ist etc). In diesem Moment wird das Gedicht natürlich auch ein Gedicht über die Dichter (mitsamt ihren egozentrischen und größenwahnsinnigen Gebaren und zerstrittenen Gesellschaften).
Bei Horaz tauchte dies eine grundlegende Motiv seiner olympischen Gesänge auf: nicht die Wirklichkeit ist das erhebende, sie ist eigentlich nichts, solange der Dichter sie nicht erhebt. Das Olympische liegt letztlich nicht im Wettkampf, sondern im Gesang, der den Wettbewerb besingt. So auch hier: Kater kämpfen mit den Gestalten der Weltgeschichte, aber nur durch den Dichter. Kein Wunder, dass hier im Tier-Gedicht nicht nur die ganze menschliche Hybris verzerrt gespiegelt durchschlägt (der Mechaniker als Inbegriff des Prometheus neben dem Flugzeugflügel), sondern auch die der Dichter („sie halten das Paradies in den Händen“). Wenn der Dichter nie den Nullpunkt erreichen kann, sich immer schon alles einverleibt, dann ist er der Kater (das „Ding“) und der Kater ist er.
An dieser Stelle treffen alle diese Auslegungen gleichzeitig zu – doch die heraustretenden Diktatoren sind nicht nur eine weitere Fantasie, in der sich jämmerliches Katzenbild und jämmerliche Menschenwelt grotesk begegnen und eins werden und ununterscheidbar, was Ding und was Dichtung ist, es steckt auch eine geradezu marxistische Warnung darin: alle diese Fantasien und Zuspitzungen werden von der Realität selbst („Diktatoren“) eingeholt und auf den Kopf gestellt werden. Doch das bleibt letztlich noch im Bild, ja in der Heroisierung des Dichters: Als besänge ein moderner Horaz einen traurige heruntergekommene Welt, immer in Gefahr von dieser selbst zerdrückt zu werden.
Zu dieser etwas eigenartigen realpolitischen Warnung scheint zunächst auch das Ende zu gehören, wenn hier nochmal eindringlich und nun schon wirklich platt vor den „Statuen der Diktatoren“ gewarnt wird. Doch sieht man das Ende ein wenig genauer an, so holt hier das Gedicht die Sozialkritik in die Sprachtheorie zurück und warnt nun den Dichter selbst: es sind nicht die Diktatoren, gegen die alles andere, was bisher geschah, zu „nichts“ wird, sondern eben die Statuen. Das darf also zweierlei heißen: Zum einen leistet ein überzogen heroisierender Klassizismus (man denkt bei den Statuen natürlich an die furchtbare klassizistische Kunst der Diktaturen) einer Unpolitisiertheit Vorschub, die letztlich in eine Affirmation unterdrückender Verhältnisse mündet – ein Wink sicherlich auch an die russische Gesellschaft und sein Dichtungsverständnis, das Parschtschikow hier ausspricht. Zum anderen kann eine von der Realität sich entkoppelnde avantgardistische Sprachposition, die nur an der Ausfaltung von selbstreferentiellen Formen interessiert ist, letztlich beliebig für handwerkliche Umformungen in Staatspropganada ausgebeutet werden. Und dort warten dann die „Statuen der Diktatoren“ (als Folge einer fehlgeleiteten und dann angeeigneten Avantgarde, man denke an die Theorien von Boris Groys zur russischen Avantgarde). Ein weiterer Grund für die Rückbindung des dichterischen Sprechens an die Erfahrung und Wirklichkeit.
So erweist sich dies Ende plötzlich als überraschend politisch auf einer doppelten Ebene – bleibt sich aber treu, denn auch diese Lesart gehört zu den auszufaltenden, gewollten, zur Latenz der Anfangsszene. Wobei angesichts des Schlusses eine Nachjustierung jener etwas steilen These von „allen Auslegungen“ gemacht werden kann: Damit sind wohl weder willkürliche, noch idiotische, infame oder entstellende gemeint – ein empfindsamer und gerechter Leser wird vorausgesetzt mit den entsprechenden poetischen und, ja, zärtlichen Prioritäten. Was sich aber als eine Einschränkung erweisen dürfte, die vor den billigen Einschränkungen jener Lesarten schützt, die gerade die Verknüpfung neuer Zusammenhänge und Verfeinerungen zu unterbinden suchen.
Parschtschikow hat die Lektionen der language school sich angeeignet, er appliziert diese aber auf die Wirklichkeit und schaut wie die Diskokugel Welt – systematisch und beschreibbar – in allen Farben flimmert und, stets eskalierend, sich um sich dreht, sodass ihre Dinge und Worte zentrifugalen Kräften unterworfen sind, deren Furor der Dichter sowohl entfesselt als auch Einhalt gebietet.
Hendrik Jackson