Über die Grenzen des Dilettantismus-Verdikts – Nachtrag zur Estisdebatte
Alexander Estis hat mit einem Artikel über den Dilettantismus in der Kunst, der zunächst in der FAZ, dann auf lyrikkritik erschien, zumindest im Netz für einige Dispute gesorgt. Sein polemisch gesetzter Anfang ließ die durch Polarisierungstendenzen getrimmte Öffentlichkeit in Erregung verfallen, wodurch der dialektische Fortgang seines Artikels, der unter anderem auch gegen Ende zu gerade dem Anfang entgegengesetzten Schlüssen führte, manchem und mancher entging. Nichtsdestotrotz hat die Attacke gegen den grassierenden Dilettantismus in der selbstpublizierenden neuen Öffentlichkeit bei ihm mehr Gewicht als der, wie ich persönlich finde, wichtigere Einwand gegen die professionellen Türhüter und Separierer des Literaturbetriebs.
Wie man es aber auch dreht und wendet, zuletzt zählt einzig und allein das Werk, will man meinen – und so bleibt die eigentliche Frage ungeklärt: was bedeutet eigentlich Dilettantismus und Professionalismus für das Gütesiegel in Bezug auf das Werk?
Es ist offensichtlich, dass hier Fragen nach Konventionalität eine große Rolle spielen. Der Dilettant benutzt abgedroschene Bilder, hat keine Ahnung, verwendet bekannte Kniffe als wären sie neu, sagt naiv seine Meinung heraus und scheitert überhaupt an der Form, ist Kitsch, so will es für gewöhnlich das Verdikt des versierten Kunstkenners. Schon hier aber geraten wir bei genauerem Hinsehen in eine gewisse Aporie: um zum Beispiel zu erkennen, was neu ist, müssen wir es bereits als Neues identifizieren (was eine gewisse Kenntnis, ein Verständnis voraussetzt, um dies Neue auch als gutes Neues qualifizieren zu können, sprich: es darf nicht vollkommen neu sein). Um zu behaupten, etwas sei Kitsch, sprich: eine Hängematte der Gefühle, in der man es sich etwas zu gemütlich mache und im Gewöhnlichen einschwinge, müssen wir Ansprüche formulieren, die meist landläufig gut einholbar sind und in denen es sich manche AvantgardistInnen ihrerseits reichlich gemütlich machen. Um zu sagen, etwas sei naiv, muss man zwar einerseits mit einer abgenudelten Durchtriebenheit gesegnet sein (die ja auch nicht das Telos von Kunst sein kann), man wird aber vor allem nie wissen, ob nicht von einem next höheren Level diese Durchtriebenheit selbst wieder als grenzenlos naives Durchschauen durchschaut wird. Es gibt schlechterdings keinen Maßstab, um einen Punkt festzusetzen, von dem aus solche Wertungsmaßstäbe für alle gelten können.
Natürlich folgt aus der Unmöglichkeit eines absoluten Standpunkts nicht die Relativierung aller Standpunkte. Es setzt aber schon hinter die Narration von einer eindeutigen Hierachie der Abfolge und des Progresses ein gewaltiges Fragezeichen. Niemand kann sagen, ob ein bestimmter künstlerischer Rückgriff nicht ein Fortschritt sein könnte, zumindest aus dem Blickwinkel einer bestimmten historisch-spezifischen Konglomeration. So geben sich selbst die Vertreter des Progresses sinnfällig damit zufrieden, von einstweilen erreichten Niveaus zu sprechen. Wenn man sich umhört bei den Gralshütern der hohen Kultur (selbst wenn die dann ab und an raffiniert die niedrige Kunst preisen), läuft es fast immer darauf hinaus, dass man sich irgend einen Stand der Kunst, einen Standart hart erarbeitet hat, hinter den man auf keinen Fall zurückfallen dürfe. Nichts wird so abgestraft wie das Zurückfallen in vermeintlich bekannte Verfahren.
Beim Dilettanten scheint ja noch alles relativ klar: er (oder sie) kennt sich einfach nicht aus, benutzt die Verfahren unbewusst oder schief, holpert so dahin und erzählt uns nichts Neues, weil er es einfach nicht besser weiß. Selbst wenn wir die Legitimation seiner Selbstgefälligkeit im Überholten als „verschiedene Geschwindigkeit“ (die, btw., bei den so „Rückständigen“ per se schon eine Differenz gebiert zur Vergangenheit und deswegen schon nicht mehr als rein rückständig bezeichnet werden kann) anerkennen, bleibt doch ein Momentum des Aufschließens, der sich der Dilettant irgendwann nicht wird verschließen können. Kurzum: er folgt irgendwann oder geht unter im Provinziellen. So will es das Gesetz, ob ausgesprochen oder unausgesprochen. Doch wie rissig man mit diesem Kanonbetonmischer sein Fundament baut, wird schnell sichtbar, wenn wir uns nur ein bißchen in die Ambivalenz bewegen. Die Selbstversicherung über den Kanon und das, was nicht Kanon werden darf, bzw milder gesagt, was keine gute Literatur ist, folgt selbst oft schon wieder einer Konvention oder einem common sense, einer unausgesprochen Ästhetik, der sich die meisten AutorInnen a priori annähern, um überhaupt dabei sein zu dürfen. In Deutschland bestimmen den inneren Zirkel der Werturteile vor allem Akademiker und AkademikerInnen. Warum ist klar: sie sind die brillantesten Begriffs-Jonglierer und gewandtesten Theoretiker. An ihnen kommt kaum jemand vorbei, wenn er/sie denn wirklich etwas gelten darf. Es ist aber auch ziemlich klar, was damit unter den Tisch fällt: nämlich all die Erfahrungen jener, die kaum eine Sprache für sie haben, die sich nicht den „Stand der Literatur“ haben hart erarbeiten können – aber auch jener, die nicht notwendigerweise durch Dilettantismus, sondern auch durch ihre Weigerung, sich den Vorgaben akademischer MittelschichtskritikerInnen zu unterwerfen, gegen die Regeln des guten Geschmacks verstoßen.
Hier kommen wir irgendwann an den Punkt, wo es einfach grundlegend divergierende Vorstellungen darüber gibt, was Kitsch ist, was abgegriffen, was „versiert“ und was eine gelungene Form.
Über die Beschreibung von funktionalen Zusammenhängen hinaus, enthält nämlich jedes Auslegen und Lesen auch immer eine Wertung, die, noch bevor sie rationalisiert und in ein rechtfertigendes System eingehängt wird, affektiv arbeitet und sich wohl eher Reflexen verdankt. Das ist Kitsch! – ist zunächst ein Reflex gegen vermeintlich Abgelegtes oder Ungehöriges – erst dann folgt die komplexe Reflex-ion, die nichts weiter tut, als das eigene Denksystem darzulegen und mit viel Erklärung zu nobilitieren.
Aber man kann das Schiefe doch genau nachweisen, wird man mir nun entgegenhalten! Aber das hieße wieder nur, sich gar nicht erst einzulassen, seinen Abwehrreflexen folgen, die für die eigene Biographie, das eigene Milieu und den „erarbeiteten“ Stand der Kunst (der Standart) ja auch tatsächlich maßgeblich sind. Wir wehren intuitiv ab, was bereits durchgespielt wurde, was wir woanders doch besser sahen, oder? Das heißt aber eben auch, das das, was schief wirkt, nur schief für die wirkt, die bereits ganz bestimmte Kriterien haben dafür, was schief-schief und was hingegen gerade gut schief, also gerade-schief ist. Eine Ann Cotten darf schief schreiben, denn sie ist mit der Ingeniösität abstraker Verrenkung begabt, sie umweht der Kult der Schrägheit gerade, da darf es auch mal gehörig rumpeln. Gleiches gilt für den (übrigens ebenso wie Cotton geschätzten) großen Ironiker Stolterfoht.
Aber wehe, es meint einer ernst mit seinem Gerumpel, denn das ist tatsächlich ja etwas ganz anderes.
Und so stand und steht, von wenigen literaturhistorischen Ausnahmen abgesehen, nicht nur der Dilettantismus unter Verdacht, sondern oft alle Spielarten eines wahlweise mal als proletarisch, dann als naiv, zu direkt oder „überholt“ empfundenen Schreibens – und das ganz unabhängig davon, ob diese in die Falle der Gläubigkeit an die Abbildmöglichkeit von Realität tappen. Ähnliche Vorwürfe wurden übrigens auch immer der lange missachteten migrantischen und queeren (und zum Teil der weiblichen) Literatur gemacht, die ja selten explizit wegen ihrer Herkunft oder ihrer Anliegen, sondern subtiler wegen ihrer vermeintlichen Kunstferne oder ihrer Ästhetik kritisiert wurden. Inwiefern speziell in diesem Segment bereits ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, wäre zu schauen. (Das übersteigt hier mein Anliegen und meine Möglichkeiten)
Jedenfalls: Was dem Feuilleton und den Jurys dabei vermutlich vor allem unangenehm aufstößt (aufstieß?), ist ein gewisser heiliger Furor in Verbindung mit Verfahren, die doch bitte bekannt sind und folglich wohltemperiert approbiert werden sollten.
Da lebt anscheinend jemand – und das muss nicht zwangsläufig herkunftsbezogen, kann auch wahlverwandtschaftlich sein – nicht aus bildungsbürgerlich-ironischer Distanz und erlaubt sich, die sorgsam auspuffenden Polster der Hochkunst als eines in erster Linie ästhetischen Vergnügens einfach wegzulassen.
Die SchriftstellerInnen, an die ich dabei denke, arbeiten seit Jahren sehr professionell, unterlaufen aber hier und da auf merkwürdige und schwer nachweisbare Weise unausgesprochene Erwartungen. Wer diese Codes kennt, wird sogar recht genau sagen können, bei welchen Zeilen bestimmter AutorInnen er zusammenzuckt – aber die Begründungen die man dann zu liefern imstande ist, eignen sich nicht wirklich zur Rechtfertigung, dienten sie doch, wie bereits angedeutet, bei anderen AutorInnen womöglich als Gütesiegel der „Unangepasstheit“.
Ich hatte hier zunächst eine Liste mit Namen*, aber das führt unausweichlich zu Komplikationen, allein schon, weil die AutorInnen ziemlich sicher nicht in einer Reihe genannt werden wollten und ihrerseits AutorInnen nennen können, bei deren Zeilen sie „zusammenzucken“. Das zeigt auch, wie schwer diese Codes zu bestimmen sind.
So verschiebt sich der Torpfosten des Dilettantismus von Leser zu Leserin und neuerdings gar zur KI – und verschärft nur die Frage danach, wer den schwarzen Peter hat, wem die Estis-Karte zugeschoben wird – und vor allem: warum?
Würde hier ein „close reading“ wirklich Abhilfe schaffen oder – interessantes Experiment – gerade die unsichtbaren (gesellschaftlichen, psychologischen?) Bias-Gräben zeigen, die manchmal zwischen so leicht und locker daherkommenden, vermeintlich sicher literaturkritisch agierenden Werturteilen verlaufen?
Christian Metz, übernehmen sie!
Hendrik Jackson
* nachdem die Enttäuschung zum Ausdruck gebracht wurde, dass ich keine Namen nenne, nun doch wenigstens ein, zwei, an die ich dachte, aber bitte bar aller Repräsentativität, vor allem was Zugehörigkeiten angeht … Martina Hefter, Anke Stelling, Ulrich Zieger, Florian Voß, in einem weiteren Sinn auch Mikael Vogel, Christian Uetz etc etc jedem fallen bestimmt einige ein, aus den verschiedensten Gründen …