Sie sind dunkel, sie sind obsessiv, sie sind schmerzlich und ja, auch grausam. Die in diesem Band versammelten Gedichte sind keine leichte Kost. Erstmals erschienen 2016, 2018 ins Amerikanische übersetzt und erst 2025 auf Deutsch – von der Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf und dem interkulturellen Philosophen Sool Park. Insgesamt kommt der Band auf 49 Gedichte, von denen jedes für einen Tag steht, an dem die Seele laut buddhistischer Lehre nach dem Tod umherwandert, bevor sie reinkarniert. So viel schonmal zur Entstehung der Form.
Prinzipiell muss ich nicht oder nur selten der Versuchung erliegen, literarischen Werken, die mich interessieren oder ansprechen, „biografistisch“ zu Leibe zu rücken. In diesem Fall konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auf biografisch-historische Aspekte Priorität zu setzen – denn je mehr ich mich in die Hintergründe dieses Bandes einlas, desto mehr schien mir Hyesoons Schreiben in dieser Hinsicht angreifbar, in seiner Reichweite erhellend, und darum umso verstörender, ja mesmerisierend und aufstörend zugleich zu sein.
Im Laufe ihrer Lebenszeit ist die Lyrikerin, Essayistin und Kritikerin Kim Hyesoon Zeugin vielfach schwieriger gesellschaftlicher Verhältnisse geworden, von denen sie in der von ihr gehaltenen „Rede zur Poesie“ 2023 erzählt. 1955, kurz nach dem Ende des Koreakrieges geboren, dürfte sie in ihrer Kindheit noch einiges an Zerstörung mitbekommen haben, die der nordkoreanische Angriff und der Koreakrieg bis zum ausgehandelten Waffenstillstand 1953 verursacht hatten. Die in den 60ern vom an der Spitze stehenden General Park Chung-hee errichtete Militärdiktatur ermöglichte zwar – verdrehte Welt – 1963 freie Wahlen, doch setzte der knapp gewinnende Park in der sogenannten 3. Republik demokratische Rechte außer Kraft und installierte das Kriegsrecht, um den aufsprießenden Protesten gegen ihn Herr zu werden. Hyesoon beschreibt die in diesem oppressiven Rahmen ausgeübte politische Einflussnahme und Zensur durch die Behörden in ihrer Rede. Sie arbeitete in den 70ern als Verlagslektorin und musste angenommene Manuskripte den Zensor*innen zur Prüfung vorlegen. Sie nahm teilweise bis zur völligen Unkenntlichkeit zensierte, geschwärzte Texte wieder mit und musste den Urheber*innen die Geschehnisse erklären, ohne diese selbst zu verstehen. Es herrschten Ausgangssperren und Bürger*innen wurden durch die Obrigkeit gegängelt.
Park Chung-hee regierte bis zu seinem gewaltsamen Tod 1979. Anschließend kommt es durch den neuen Premier (Choi Kyu-ha) zur blutigen Niederschlagung des Gwangju Aufstandes mit schätzungsweise bis zu 2000 Toten, woran anschließend, mit der Aussicht auf die Südkorea zugesprochenen Olympischen Sommerspiele 1988 scheinbar mehr Ruhe einkehrt. In den zu den Spielen hinführenden Jahren wird das Kriegsrecht aufgehoben, die Zensur gelockert, Reformen werden eingeläutet, Reisefreiheit eingeführt. Während die Demokratie in den 80ern also Fortschritte macht, kommt es dennoch bis in die Gegenwart nicht zur Aufarbeitung diverser Kriegsgeschehen und -gräueln, für die die japanische Besatzungs- und Kolonialmacht des von 1910 bis 1945 annektierten Südkoreas verantwortlich zeichnet. Die damalige Zwangsassimilierung der Koreaner*innen, ein Verbot ihrer Sprache, die Jahrzehnte dauernde Unterdrückung der koreanischen Kultur – alles größtenteils unaufgearbeitet. Fälle zehntausendfacher Unterdrückung und Versklavung, wie jener der sogenannten „Trostfrauen“ – japanischen Soldaten zum psychohygienischen Sex in Zwangsbordellen zur Verfügung gestellte Zwangsprostituierte – sorgten jahrzehntelang für nationale und internationale Spannungen und zwischenbehördliche Auseinandersetzungen und sind aktuell immer noch nicht final behandelt. Und dann ist da das südkoreanische Patriarchat.
Dein toter Geliebter will dich treffen. Er will dich treffen im Café. Er will dich treffen auf Toilette. Er will dich treffen in der Klinik. Er will dich treffen im Ausland. Wenn das nicht geht, will er dich treffen im Bett. Nur ganz kurz. Du kannst mir nicht aus dem Weg gehen. Lehn dich aus dem Fenster, nur ganz kurz. Will nur dein Gesicht sehen.
[…]
Dein toter Geliebter will mit dir Tee trinken. Er will mit dir essen. Er will mit dir zusammen sein Gesicht waschen. Er will mit dir spielen. Er will mit dir einen Ausflug machen, nur so als Spiel, im Traum. Er wird immer böswilliger. Du überlegst, wie du dich endlich von ihm trennen kannst. Dann nimmt er seine Hände von deinen Augen und fragt dich, wie ist dein Name. Er fragt dich, kennen wir uns von irgendwoher.
(Name. Tag Zweiundvierzig. S. 71)
Laut Amnesty International liegt der südkoreanische Gleichstellungsindex im Vergleich zu den anderen Industrieländern am unteren Ende.
Ein Artikel in der Monde Diplomatique (von Frédéric Ojardias) von 2020 schildert die Spaltung entlang pro- und antifeministischer Linien im Land. Der Zorn vieler Frauen war angefacht worden von sogenannten molkas, in öffentlichen Toiletten oder Saunas versteckten Kameras, die Videos aufzeichneten und teilweise live ins Netz streamten, von häufig auftretenden Stalkings und Feminiziden, alles polizeilich und juristisch wenig verfolgt, sodass es 2019 zu Protesten kommt, die zur Verschärfung des Gesetzes gegen sexuelle Straftaten führen. Und: Das Abtreibungsverbot wird zur Verfassungswidrigkeit erklärt. Dennoch: Bis heute gilt das Wort Feminismus immer noch in Teilen der südkoreanischen Gesellschaft als Tabu, sich selbst so Bezeichnende laufen Gefahr, von der Familie, dem Arbeitsumfeld oder im Netz gebasht oder geschasst zu werden.
Innerhalb der extrem patriarchalen und konservativen Wertvorstellungen des Neukonfuzianismus sollen Frauen sich stets unterordnen: zuerst dem Vater, dann dem Mann, dann dem ältesten Sohn. Die zivilrechtliche Reform des traditionellen Hojuje-Systems, in dem der Mann als Familienoberhaupt galt, fand 2005 statt, erreicht hatte sie das Ministerium für Geschlechtergleichstellung, das nun unter dem aktuellen Staatsoberhaupt Yoon Suk-yeol (seit 2022 Präsident und Leugner von Geschlechterdiskriminierung in Südkorea) abgeschafft werden soll. Im Arbeitsleben diskriminiert und unterbezahlt, ausgeschlossen von den huesik– Zusammenkünften unter Männern, die Arbeitsstrukturen, -positionen und -gehälter beim Saufgelage und oft im Bordell festlegen –, als Schwangere entlassen, an der gläsernen Decke abprallend, wie vor dem Gesetz: Die Gleichstellung krankt arg, trotzdem junge Frauen, immer besser gebildet (auch als Männer) und offen und weltzugewandt operierend – auf Wandel der Verhältnisse hoffen lassen.
Nichts hiervon ist lineares und folgerichtiges Entwicklungsvorzeichen, das mit zwingender Logik zu diesen und keinen anderen Gedichten führen muss.
Hyesoon wirkt in ihrer schieren lyrischen Präsenz. Ihre Gedichte etablieren eine Absolutheit, wie eine Entladung, eine Ohrfeige. Auf dem Poesiefestival in Berlin sagte sie 2023 aus, in einer Rede, die zuweilen anmutet wie eine Zeugenaussage nach ihr zugestoßenem Verbrechen, dass sie ihre unmittelbaren Erfahrungen getötet habe. Dass sie ihrer eigenen Sprache beraubt wurde und ihre Wörter demzufolge reduziert seien. Dass ihre Zunge starb. Dass diese Vorgänge erst dazu führten, dass ihre Stimme sich erheben konnte: Eine Stimme, die Geisterstimmen ent-spricht, „eine Stimme, die nach dem Ich ruft, die nicht das Ich ist, nach dem Du, das nicht das Du ist.“ Eine Stimme, die nichts mit Kommunikation zu tun hat. In Gedichten, die äußere Gewalt ab- aber keinen Mitteilungszusammenhang bilden.
Der Wind ist hier, der dünne Regenfäden zu feuchten Schleifen knotet und an deine Brustwarzen steckt
Kitzlige Gelbe Wolke ist hier, gelber Urin, der die Regenrinne herunterfließt, flatter, flatter
Ein Mädchen, das man aus deinem Körper zog, weint unterm Dach
Deine ältere Schwester, die tot ist, und jünger als du, zwickt dich mit dünnen Fingernägeln in den Bauch
Du Gespenst, das alle grünen Fingernägel zerbricht, du Frühling, du warst schon hier, einen Schritt vor mir
Spiel mit mir, spiel mit mir, wie ihr singt, ihr kleinen Finger, fadendünn und durcheinander
Ihr angespitzten Triebe, wie ihr sprießt durch Augen voller Tränen
Der Geruch der halb ausgezogenen Unterwäsche deiner Schwester fliegt durch die Luft
Der Geruch nach verwester Grabunterhose, wenn sie auf deinem Nasenloch landet
In deinem Körper wogt eine raue Rippenbrühe, die Knochen sind der Sarg, der dich trägt
Jemand lässt dich nieder in die tiefe Grube, Feldlerchen, Fata Morganchen, jemand lässt dich nieder
Schwarzfleischbaum schiebt den Rock deiner jungen Schwester hoch, lässt kurz von ihr ab, kippt einen Schnaps, schmatzt
Warum bist du noch nicht weg, ohrfeigt dich der Himmel jeden Morgen, seine blauen Venen
[…]
(Den Sarg niederlassen. Tag Fünfunddreißig. S. 86)
Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger beschreibt das in ihrem Versuch einer Dichtungs- und Gattungstheorie „Die Logik der Dichtung“ von 1957 so: Die Aussagen aus dem Objektpol sind in die Sphäre des Subjektpols hineingezogen. Die Aussagen ordnen sich zueinander „gelenkt von dem Sinn, den das lyrische Ich mit Ihnen ausdrücken will.“ Kim Hyesoon selbst will es so ausdrücken: In der Poesie ist die Beziehung zwischen Dichter*in und Objekt nicht 1:1, sondern eine Beziehung von vielen zu vielen. Und poetische Sprache „bezieht sich nicht auf die Eigenschaften des Objekts“, Bedeutungsauflösung geht der Begriffsbildung voraus. Die Objekte sprechen vielmehr in Echos, das Objekt gibt Stimmen auf mehreren Ebenen wieder, wie polyphone Musik. Die Stimmen widersetzen sich dem „paternalistischen Territorium der Normen“. Hyesoons Fazit: „Da meiner Poesie kein Platz in der literarischen Welt des Hier und jetzt zugewiesen wurde, baue ich meinen eigenen Ort, an dem die grammatikalische Person und die zeitlichen Ebenen verschwinden, und erhebe dort die Stimme eines Gespenstes.“ Diese Stimme begehrt gegen das Über-Ich auf, sie kennt keinen Meister, sie ist Echo, Takt, der Rhythmus selbst.
In dem am Ende des Bandes angehängten Interview lässt Kim Hyesoon uns wissen, dass es sogar einen unmittelbaren Anlass für „Autobiographie des Todes“ gab: Das Fährenunglück der Sewol, die 2014 auf dem gelben Meer zwischen Incheon und Jejudo kenterte und 304 Menschen aus dem Leben riss, darunter 254 Schüler*innen.
Das koreanische Subjekt darf interessanterweise – das ist in besagtem Interview auch Thema – jederzeit verschwinden, Aussagen im Koreanischen sind ohne Subjekt möglich – eine für uns irritierende Redeweise, die auf den Akt, das Todesereignis selbst fokussiert: „Hier ist eine Situation, in der ich gleichzeitig an vielen Orten gleichzeitig zu vielen »Dus« spreche, oder in der ich dort spreche, wo »ich« nicht bin“, so die Autorin. Mehrere lyrische Sprechende sprechen gleichzeitig über ihre (zeitgleichen, zeitungleichen) Todesereignisse, eine „komplexe Polyphonie“ aus Stimmen entsteht.
Poesie, so Hyesoon in ihrer Rede zur Poesie, ist das Gespenst der eigenen Stimme zu erschaffen. Spätestens hier komme ich nicht umhin, den Draesnerband „Grammatik der Gespenster“ von 2018 zu befragen, ob ein Anklingen daran Zufall ist. Ich finde in den Frankfurter Poetikvorlesungen Ulrike Draesners überraschende poetologische Parallelen: Bei Draesner wie bei Hyesoon scheint die entwickelte Poetologie zu einer Tod einlassenden, lebensent- und erhaltenden Philosophie aufzublühen. Gespenster sind der die jeweilige Arbeit überspannende Bogen, der gleichzeitig von einem Werk zum anderen geschlagen werden kann.
Laut Draesner lassen sich die „Bereiche unseres Wissens […] in vier Kategorien einteilen: Wir wissen, was wir wissen. Wir wissen, was wir nicht wissen. In einem dritten, großen Bereich wissen wir nicht einmal, dass wir nicht wissen.“ […] Und die letzte Kombination ist „jenes Wissen, das wir haben, aber nicht wissen. Ein Wissen an der Grenze zu seiner Verfügbarkeit.“ Draesner bezeichnet dieses Wissen auch als das „ungewusste Wissen“: „Gespensterstellen. Jene Stimmen, die Literatur hervorzulocken vermag.“
Hyesoons lyrisches Subjekt wiederum wird geghostet, ghostet aber auch selbst: Im Interview am Ende der „Autobiographie“ sagt sie: „Man könnte sagen, Südkorea ist ein Land mit sehr hoher Geisterdichte. Die Tode dieses Landes besetzen mich.“ Und sie fragt: „Sind Dichter nicht auch Wesen, die sich für alle sterbenden Wesen verantwortlich fühlen?“ „Trauer, Ablehnung und Dekonstruktion“ bilden für Hyesoon den „Standort des weiblichen Dichters“, der Gleichzeitigkeit und Zeitungebundenheit ermöglicht. Und in überraschender Zwiesprache scheint Draesner zu antworten: „Gedichte wollen, was sie sagen, gleichzeitig sagen. Als wäre es nur gleichzeitig wahr. […] Ist, was immer wir denken, nur gleichzeitig (mit etwas anderem) wahr?“ (UD) Eine so anklingende Poesie schnurrt die Distanzen zusammen, schlägt Brücken in Multiversen. Sie ist nicht dialektisch, sie enthält die Dialektik.
Du reist in der Nacht ab, du willst auf die Insel.
Mit einem kleinen Koffer steigst du auf die Fähre.
Eintönige Mitternacht, du kannst nicht schlafen.
Du gehst aufs Deck. Weit der Himmel und das Meer, ein schwarzer Spiegel. Wellt auf.
Du denkst an die schlafenden Fische im schwarzen Spiegel.
Du denkst an die alle Schatten verschlingende Fresserei des weiten Spiegels.
Du fragst dich, wie es wäre, wenn die Tage ab morgen andauern würden ohne Sonne.
Lägen wir dann 24 Stunden am Tag in diesem schwarzen Spiegel –
Wer würde die Feder ins Spiegelwasser tauchen, eine Geschichte über uns schreiben?
[…]
(Ich will auf die Insel. Tag Zwanzig; S. 46)
Susanne Darabas
Dies ist die Langfassung einer auf zaesur-poesiekritik.de erschienenen Kurzkritik. lyrikkritik.de dankt Susanne Darabas für ihren Aufsatz und dem Verein der Seite zæsur.
Anmerkung: Die aktuellen Entwicklungen in Südkorea, die im April 2025 zur Amtsenthebung Yoon Suk-yeols durch das nationale Verfassungsgericht führten, werden in diesem Aufsatz nicht berücksichtigt.
Quellen:
Kim Hyesoon. Autobiographie des Todes. Übersetzt von Uljana Wolf und Sool Park. S. Fischer Verlag, 2025.
Kim Hyesoon. „Tongueless Mother Tongue“. Berliner Rede zur Poesie 2023. Aus dem Koreanischen übersetzt von Simone Kornappel. Deutschlandfunk Kultur, 18.06.2023. https://www.deutschlandfunkkultur.de/tongueless-mother-tongue-berliner-rede-zur-poesie-dlf-kultur-7e8a9db9-100.html [zuletzt aufgerufen am 24.03.2025]
Frédéric Ojardias. Patriarchat Südkorea. Le Monde Diplomatique, 12.11.2020. https://monde-diplomatique.de/artikel/!5724706 [zuletzt aufgerufen am 24.03.2025]
Wikipedia. Südkorea. (2005 aufgenommen in die Liste der lesenswerten Artikel.)
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdkorea [zuletzt aufgerufen am 24.03.2025]
Felix Lill. Vom Objekt zur Konkurrentin. Frauendiskriminierung in Südkorea. Amnesty International. 06.01.2023. https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/korea-sued-frauenrechte-femizide-gleichberechtigung-abschaffung-gleichstellungsministerium [zuletzt aufgerufen am 24.03.2025]
Käte Hamburger. Die lyrische Subjekt-Objekt-Korrelation. In: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Reclam, 2011. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe.
Ulrike Draesner. Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen. Reclam, 2018.