Am Herzen anliegend, am Heizkörper

Herzensanliegen waren vor noch nicht allzu langer Zeit ein Herzensanliegen der Lyrik, ehe sich diese, nach dem Zweiten Weltkrieg, immer mehr aus dem Dienst der Empfindsamkeit zurückzog, zumindest in den professionellen Milieus und intellektuellen Gemeinden. Gefühle, Pathos zumal, standen unter Generalverdacht, Adorno sprach gar von der „Gefühlspest“. Das war zum einen eine Folge der Inanspruchnahme pathetischer Gefühle durch den Nationalsozialismus und durch Propaganda, sodann Widerstand gegen die Sprachzurichtung durch Warenwelt und ihre Medien. 

Im Gefolge von zunächst hermetischer, dann der Wiener Gruppe und avantgardistischen Ansätzen waren Gefühle entweder nur verschlüsselt ertragbar oder dem Progress und Erkenntnisinteresse der Spracharbeit mindestens abträglich und deswegen nur gebrochen geduldet. Starke Affekte mussten in der Lyrik zusehends Umwege gehen. Während also eine sehr spezialisierte und spracherforschende Lyrik, um Benjamins berühmten Satz über den Protestantismus zu variieren, „in den Großen“ Kühnheit und Formfragen siedelte, so in den breiten Massen Entfremdung vom poetischen Tun – und Trübsinn. 

Und nun liegt dieses ursprünglich auf französisch 1997 publizierte Buch „Selbstportrait am Heizkörper“ von Christian Bobin, eines kaum über die Landesgrenzen hinaus bekannten, bereits 2022 verstorbenen französischen Autors, im Deutschen vor und spricht in kleinen, poetisch-reflexiven Notizen aus genau dieser Mitte des Herzens. 

Vielleicht kann er sich erlauben, was die Lyrik kaum noch tut, weil die Anlage des Buches denkbar einfach, aber existentiell ist: Der Verlust der Frau hat den Schriftsteller aus der Bahn und zugleich auf sich selbst zurückgeworfen. Gleich vorweg heißt es: „ich habe mich Schriftsteller werden lassen, um über die reine Zeit zu verfügen, ohne eine ernsthafte Beschäftigung“. Und so versucht er durch ein meditatives Schreiben wieder Halt zu gewinnen, während er sich im Tag und in Beobachtungen und Gedanken verliert. Eine durchaus unernste Beschäftigung? Eine unerwartet zuversichtliche und doch vom Schmerz gezeichnete. Halt findet er vor allem in der Beschreibung seiner täglichen kleinen Freuden (oder durch diese kleinen Freuden selbst): in einer Blume, einer Beobachtung, einem Zuspruch. Dabei ist eins der vorherrschenden Bilder, wie er selbst bekennt, das der Mutter, die ein Kind beschützt. Es grundiert noch die anderen, wie er erklärt. Die Poesie liegt dabei eher im Verhandelten, weniger in der sentenzhaft-reflexiven Form.

In den Notizen sind zugleich jene gängigen Topoi wie Blumen, Kinder, Frauen, Güte etc. zu finden, mit denen Gefühle landläufig oft zusammen auftreten und deretwegen sie wohl auch unter Verdacht stehen: Manche der aufgerufenen Bilder grenzen auch bei Bobin an Banalität, ja Kitsch, religiöser Anhauch durchweht den Text. Woran sich Bobin festhält, erscheint, literaturgeschichtlich gesehen, nicht gerade originell. Nur dass Originalität in solchen Zusammenhängen vermutlich gar kein Kriterium ist? 

Das macht zuweilen sogar die Stärke des Buches aus: Inmitten seiner hier und da allzu seligen Verklärung des Alltags und mit einem sich nicht um Antikonventionen-Konventionen scherenden Rückgriff auf vertraute Motive schreibt Bobin – aus einem Schmerz heraus (und allzu verständlich darin) – in der Heiterkeit der Verzweiflung sehr treffend. Manchmal so den Leser treffend, dass es einen geradezu empört, dass solche Sätze niemand zuvor aufgeschrieben hat (was für eine gewisse intellektuelle Feigheit anderer Autoren sprechen könnte). Bobin kommt durchaus überraschend immer wieder zu Bestandsaufnahmen der menschlichen Existenz von ungeheuerer Gewalt in ihrer Unauffälligkeit. Und plötzlich liegen Schrei und Beschreibung nahe beieinander… 

Seine „Wahrheiten“, die kaum jemand mehr zu benennen weiß, weil sie so nahe neben dem Banalen zu liegen kommen (und manchmal auch in ihm) – werden nicht als solche ausgesprochen. Wenn er mystische Topoi bedient, zum Beispiel vom Unsichtbaren, ohne das wir im Finstern tappen würden, so tut er es so aus dem Alltäglichsten heraus, unverbogen, in einem Aufatmen, dass es endlich gesagt sei (dabei ist es ein wiedersagen, schließlich gibt es eine ganze Tradition dieser Gedanken): „Wirkliche Schönheit hat stets etwas Nachlässiges“.

Für einen Moment sogar der Gedanke: das ist kein Schriftsteller, das ist ein Heiliger: er lebt in der Demut des Überwältigten und in der Schlichtheit des Ausdrucks, wartend auf Größeres („ich habe mein ganzes Leben lang gewartet“). An manchen Morgenstunden mag er Einsichtige dazu bringen, die Sünden ihrer ambitionierten Werke zu beichten!

In erster Linie geht es aber profaner um die Rückkehr in die Welt, zu den einfachen Dingen. Es gibt wenig Autoren, denen das so gelingt wie Bobin. Man mag manchen Mangel seiner Literatur ins Feld führen, das Ergebnis in Form mancher Sätze widerlegt sie alle auf seine Weise. Es braucht wohl einen reduzierten Raum für solche Wirkung.

Die Kunst der Reduktion, der Auslassung ist durchaus heikel, ein Schriftsteller bewegt sich da auf dünnem Eis. Denn in gewisser Hinsicht mag es einfacher sein, die Bücher mit Verweisen zu beschweren, zu überfrachten mit Themen und Schichten. Da kann unter Umständen weniger schief gehen, immerhin hat man Material und viele Elemente, die selbst in einer einfachen Komposition komplex erscheinen würden. Hingegen wenig Komponenten so auszutarieren, dass sie richtig gewichtet sind und nicht kippen … Stapel vs. Mobile. 

Besonders diffizil ist innerhalb dieses schlichten Tonfalls die Platzierung von aufgeladenen Begriffen und Symbolen. Nicht das Sentiment selbst oder die Hingabe wecken hier Zweifel, sondern die darin oft mitschwingende Zufriedenheit, die sich dann schnell breit macht und jeden Riss kittet. Selbst Bescheidenheit ist allzu oft, gegenüber dem Möglichen und auch dem Komplexen, die weitaus größere Anmaßung als jeglicher hochfahrende Anspruch. Oder, mit den Worten Bobins über die Demut: „In dem Moment, wo man glaubt, sie zu besitzen, verschwindet sie.“

Dort wo sie gelingt, darf eine oder einer frohlocken: endlich ein Autor, der faul auf dem Bett liegt und nicht Werk um Werk mit großer Geste in die Welt setzt. Er macht kein Aufhebens und kein Aufstehens um seine Literatur. Und um das Dilemma vermeintlich poetischer Reinheit wissend, versucht er zugleich dieser einen subversiven Impuls zu geben: „was die Lilien betrifft – wenn ich sie nur ansehe, werde ich sogleich zum Anarchisten.“

Seine Widersprüchlichkeit erinnert von fern an René Char, doch ist er kein Kämpfer, sondern ein Ergebener. Einer, den die, die immerzu alles wissen, ermüden. 

„Ich verlasse die große feierliche Intelligenz und tausche sie augenblicklich für eine bewundernde, lichte Dummheit ein.“

Wie viele SchriftstellerInnen bemühen sich ihr Leben lang, bloß nicht dumm zu erscheinen – dummerweise, denn das hilft nicht. Andere wiederum bemühen sich, ihren Dummheiten irgendeine meist mehr als zweifelhafte Rechtfertigung zu geben oder sich zufrieden mit ihr zu arrangieren.

Bobin spricht deshalb auch von einer anderen, verdammenswerten Dummheit, nach ihm die Antipodin zur Liebe. Die Grenzen des Schlichten werden bei Bobin nicht zwangsläufig durch intellektuelle Hochleistung definiert, sondern durch eine Art Ethik, Anschauung. 

Und wird er seinem eigenen – freilich grandiosen – Anspruch, den er bei Pichette fand, gerecht („keinen einzigen Satz schreiben, den man nicht einem Sterbenden ins Ohr flüstern könnte“)?

Das wirft die ganz alten Fragen danach auf, für wen eigentlich wann welche Kriterien von guter Literatur geltend gemacht werden können. Wann eine Metapher wieder lebensfähig wird oder abgeschmackt wirkt.

Es liegen bereits zwei Publikationen im Deutschen von Bobin vor – und ich rate davon ab, sie zu bestellen. In ihnen ist wenig von dem, was in diesem Buch phasenweise gelingt. Über weite Strecken sind sie genau jener Gefühlsseligkeit verfallen, die den anfangs skizzierten Generalverdacht gegenüber der Emotion begründete. Trübt das den Eindruck dieses Buches? Keineswegs, im Gegenteil: es ist doch gerade faszinierend, zu sehen, wie derselbe Tonfall einmal gelingt und ein anderes Mal nicht. Und zwar vermutlich bei jeder LeserIn an einer anderen Stelle. Denn niemand könnte genau die Grenze markieren, die Kunst und Kitsch trennten…

Jemand, der es vermag, so erschütternde Sätze zu schreiben wie Bobin, weist der Literatur in jedem Fall einen Weg, den schwierigsten: den einfachen. Die Aufgabe wäre dabei, nicht der geistigen Verarmung in die Arme zu fallen, in diesen finsteren Zeiten eines Aufkommens des Mobs und auch der Reinszenierung religiöser Inanspruchnahme. 

Pourtant oder jetzt erst Recht, sagt mir mein innerer Char nach der Lektüre, draußen, fern aller Heizkörper, während ich die Schwalben am Himmel als Buchstaben ziehen sehe.

 

Hendrik Jackson

Hier geht es zum Buch und hier zu einer Kurzfassung der Kritik auf dem Onlineportal zæsur.