Gastbeitrag von S. Stiefelhoff

Der Dichter Hendrik Jackson setzt sich in diesem etwas über 5 Minuten dauernden Video „Mutiert“ auf für ihn untypische, nämlich dezidiert nicht-sprachliche Weise, nur in Bild und Ton, mit seiner Situation als Schriftsteller und Übersetzer während der Krise auseinander (dass es um die Krise geht, erkennt man bereits am Titel: Coronaviren sind ja alt, „mutierten“ aber zu den gefährlicheren Covid-19; zudem erscheint dies Video im Rahmen einer Ausschreibung des Deutschen Literaturfonds, in dem Aufgabe war, die Situation des Künstlers in der Krise zu dokumentieren). Dies Schweigen kann man bereits als Statement verstehen, wobei offen bleibt, ob es das Schweigen in der Krise ist (in dem Titel steckt ja auch das Wort „mute“, stummschalten), das zum Ausdruck gebracht werden soll, eine gewisse „Sprachlosigkeit“ oder ob der Film hier eine Zeit der Besinnung intendiert. Er besteht im Wesentlichen aus 5 Einstellungen, die je eine Minute dauern, mit einem etwas irritierenden Intro und einem „aus der Rolle“ fallenden Abspann. Dem Dichter hat es also “die Sprache verschlagen“. Das von Störungen durchzogene Bild zu Beginn symbolisiert die Krise, Gewissheiten schwinden: Ist diese Störung Absicht, also ein manipuliertes Bild oder ein Übertragungsfehler? Darin kann man, wenn man mag, sogar eine Anspielung auf die in jüngster Zeit wieder hoch„virulenten“ Verschwörungstheorien sehen (hier auch wieder der Verweis auf den Titel, indem „Mut“ steckt, eins der Schlagwörter der Coronakritiker, das sicherlich ironisch aufgegriffen wird).

Wir werden sehen, dass der ganze Film in Wien spielt, dem Aufenthaltsort des Dichters während der Coronakrise. Mit der ersten Einstellung wird auch sogleich ein starkes Symbol des Wienerischen Schriftstellerlebens aufgerufen: das Café Prückel. Dazu wird ein Gedicht von Friederike Mayröcker, quasi dem genius loci der Caféhauskultur, mehr geflüstert als rezitiert. Ihr Gedicht, das wiederum von der Farbe ihres Haars und ihrer Kleidung einen Bogen zur „Farbe der Anarchie“ schlägt, kann man hier auch als feine Anspielung auf die Verwerfungen der Zeit sehen: Der Dichter als Repräsentant des individualistischen, selbstbestimmten Denkens müsste auf der Seite derjenigen stehen, die gegen die Zumutungen des Staates in Zeiten einer Pandemie, gegen die Beschneidung der Rechte stehen. Wir sehen aber weder Menschen noch den Dichter. Sitzt er selbst im Café? Oder wer liest? Die politischen Orientierungen sind ins Wanken geraten. Ist das Café überhaupt leer? Wegen der Pandemie geschlossen? Doch wir hören Geräusche. Wir werden allerdings im ganzen Film keinen Menschen sehen. Spiegelt sich darin die Zurückgezogenheit des Dichters oder die Reduzierung des gesellschaftlichen Lebens durch Corona? Der Einzige, der kurz aufhuscht, ist der Kellner, man könnte ihn als Vertreter des „sozialen Gefüges“ sehen, der Dienstleistung. Erscheint er im Bild, muss der Fokus neu scharf gestellt werden, wie ja auch die ganze hyperventilierende Gesellschaft gezwungen wurde, herunterzufahren, sich neu einzustellen. 

Noch etwas ist auffällig, in allen Einstellungen wurde kein Stativ verwendet. Das mag auf die Unschärferänder der Poesie hindeuten oder auch auf das Handgemachte, den Widerstand des Menschlichen gegen die Tendenz der Gesellschaft zur Identifizierbarkeit, Fixierung und Stabilität. 

In der zweiten Einstellung zieht sich der Dichter, vielleicht durch die Quarantäne bedingt in eine Leere oder auch Selbstbesinnung geworfen, auf ein Jenseits der Gesellschaft zurück: Zeit und Zeitlosigkeit werden in diesem vertrauten Motiv des Flusses aufgerufen („Alles fließt“). Doch hören wir einzelne Schritte, Knirschen und Steine fallen, als würde der Autor auch hier wieder in die Statik der Einstellung ein Veto des Individuums implementieren: Unumgänglichkeit subjektiver Perspektive noch im großen Ganzen des Vergänglichen.

Die dritte Einstellung spinnt den (Zeit-)Faden weiter: Wo Zeit zeitlos fließt, beginnt die Langeweile, der Dichter blendet zum Zeitvertreib über, den Wiener Prater mit seinen Karussells. Die Pferde (nochmal Verweis auf den Titel, in dem „Tier“ und rückwärts gelesen: „reit!“ steckt) symbolisieren die Frage nach der Zukunft: Wer wird gewinnen, wie wird alles ausgehen? Wetten können abgeschlossen werden. (Bekannt ist ja auch des Dichters ehemalige Neigung zum Gambling!). Im Hintergund ist hörbar ein höhnisches Gelächter der Geisterbahn, womöglich als feiner Verweis darauf, dass die Idylle der Leere und Statik womöglich trügt, dass, während der Dichter sich „verlustiert“, Kranke am Rand zum Tode vegetieren oder gar sterben. Sarkastisch muss da die Frage des Karusseleinheizers anmuten: „Fühlt ihr euch gut?“.

In der nächsten Einstellung geht es nochmal um die Zeit: eine Retrouhr wird gezeigt, dazu hören wir das Rattern des mechanischen Aufziehwerks. Das stellt noch einmal fast schon zu plakativ alte Zeit gegen neue und subjektives, unregelmäßiges Zeitempfinden gegen das unerbittliche Vorrücken des Zeigers. Doch aufgepasst, sie wird nicht rund, sondern aus einer Perspektive gezeigt, die sie oval erscheinen lassen müsste, wären ihre Zeitränder nicht „abgeschnitten“. Ei des Kolombus. Liest man den Ttel rückwärts, steckt da das kleine Wort: Ei-tum drin. Ovologie. Man erinnere sich daran, dass der Dichter einst ein Sonderheft der „Intendenzen“ über „Ei und Eis“ herausgab, das eine Wiener (!) Literaturgruppe zu der Gründung eines Instituts für Ovologie inspirierte. Oder seinen Bandtitel „Im Inneren der zerbrechenden Schale“. Es stecken also noch mehr Bedeutungen im Innern der zur kreisrunden 5 angeordneten Einstellungen des Films.

In der letzten Sequenz dann tritt die ambivalente Ironie (der Lyriker lässt bewusst offen, worauf sie zielt, ob sie sarkastisch oder eher fatalistisch gestimmt ist) offen zutage. Ein Reh im Pratergarten! Welch Idylle! Dazu noch einmal ein Kommentar von Friederike Mayröcker zum Prater, freilich ein ebenso ambivalentes: Neurasthenie heißt das Gedicht auch in seiner dem Titel beigesellten Klammer. Denn Nervenschwäche kann einen befallen, wenn wir an die zukünftige „Idylle“ unserer Erde denken: Diese Problematik hat die Corona-Krise nur noch einmal unterstrichen. Man kann sie auch als Vorgeschmack auf die kommende Apokalypse lesen. Die harschen Vögelrufe wirken da wie die schwarzen Verkünder von Unheil, dass am Ende im Läuten der Kirchenglocken zu hören sind, verstärkt dies Motiv noch einmal.

Doch nicht in Pessimismus endet diese raffinierte Auseinandersetzung mit der Muße und Muse in der Krise. Als Reminiszenz an Tarkowskis berühmte Pferde werden plötzlich, aber erst im Abspann, zum ersten Mal sogar dynamisch (Kamerazoom), lebende, wild tollende Wesen ins Bild gerückt, als hätten sich die Figuren des Praterparks verlebendigt: Ein Hoffnungsschimmer, ein Bild der Sehnsucht, ein Wunsch nach Spritualität? Der Ausblick darauf, dass sich Leben nicht unterkriegen lassen wird? Oder eher nostalgische Reminiszenz („Abspann“ = Ende) an das verloren Gegangene?

Der Autor Hendrik Jackson übrigens, dies soll dem Leser und der Leserin nicht vorenthalten bleiben, äußerte sich zu dieser Auslegung nur lakonisch: „Shit. Or like the Buddha says: A pound of Hanf“. Das eröffnet natürlich wieder ganz neue Lesarten, zumal gerade dieser Ausspruch des Buddhas jahrhundertelange Richtungskämpfe der Zenschulen entfachte. Dies auszuführen reicht hier dann allerdings der Platz nicht.

Sibelius Stiefelhoff