Yuriy Tarnawsky, der in Polen geboren wurde, ist ein ukrainisch–amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Essayist, Übersetzer und Linguist. Sein Buch „Warme arktische Nächte“ ist eine weitgehend autobiografische Darstellung der ersten zehn Jahre (1934–1944) von Tarnawskys Leben. Im Jahr 1944 floh seine Familie vor russischen Truppen nach Deutschland, 1952 wanderten die Tarnawskys in die USA aus, wo Yuriy sein Bakkalaureat als Elektroingenieur abschloss und anschließend bei IBM als Ingenieur und Kybernetiker arbeitete, an künstlicher Intelligenz forschte.
Sein Leben lang schrieb, übersetzte und veröffentlichte er Gedichtbände, experimentelle Prosa, überwiegend auf English. Er positioniert sich immer als ukrainischer und amerikanischer Autor. 1953 gründete er die avantgardistische New Yorker Gruppe ukrainischer Diaspora-Autoren, die ihrer Zeit voraus war. Sein Stil ist allerdings nicht einer bestimmten Strömung zuzuordnen, er hat seine eigene lebendige Sprache, die sich sich immer wieder neu erfindet. Tarnawskys Werke wurden in ein gutes Dutzend Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Spanisch, Tschechisch. Er hatte eine Professur für ukrainische Sprache und Kultur an der Columbia University inne.
„Warme arktische Nächte“ ist ein Buch, das auf mich wie ein Film wirkt, ich bin in diesem Fall kein Leser, sondern mitfiebernder Zeuge eines Geschehens, bin gebannt.
Ein Zimmer tritt hervor aus dem mit einer Kerosinlampe schwach beleuchteten Raum, wie ein Schiff aus dem Nebel. Der Licht – golden, irisierend. Tarnawsky malt die Realität mit knappen, aber genauen Strichen aus, sodass ich sie in aller Ausführlichkeit sehe, ich bin in ihr anwesend.
Genauso langsam, aber entschieden treten die Menschen und Tiere hervor: Die Mutter, der Vater; Schwester Nora, Adek und Bodek; der Zwergelefant und die Giraffen; die Requisiten (die weiße Parkbank, die Fotos, das cremefarbenes Auto, das gerade servierte Essen).
Wichtig: Auch nicht Ausgesprochenes nähert sich dem Betrachter. Was nicht benannt werden kann oder darf, wird mir anhand seiner haarscharfen Umrisse gezeigt, so wie ein Scherenschnitt von den Auslassungen lebt. Tarnawsky nimmt all die Schätze aus seiner Gedächtnisschatulle behutsam heraus und breitet sie vor uns aus.
Doch da lauern auch Monster. Dreißig Jahre lang trägt Tarnawsky die Last schrecklicher Ereignisse mit sich herum. Dreißig Jahre lang versucht er vergeblich diesen Roman zu schreiben. Bis er auf die Idee kommt, sich selbst Fragen zu stellen. So wird der Roman zum Interview mit seiner eigenen Kindheit, eine Befragung des damaligen Jungen zu allem, was im Zeitraum von ungefähr zehn Jahren geschah, vor und während des zweiten Weltkrieges. Eine Autobiografie ist es nicht, aber die Autofiktion stimmt größtenteils, dem Schriftsteller zufolge, mit der Realität überein.
Also die Fragen. Es sind eher Sätze, die sich an der Schwelle zwischen Fragen und Behauptungen befinden, und wie kann es auch anders sein – in dem Roman verschmelzen Erinnerung und Erschaffung der Vergangenheit durch Benennung. Tarnawsky schreibt ja nicht „Tanzten Vater und Mutter?“, nein, er schreibt „Vater und Mutter tanzten?“ – als ob er sich nicht ganz sicher wäre, aber sich fast um jeden Preis mit dieser Frage selbst überzeugen will: ja, sie tanzten! Sie tanzten, sie „zogen komplexe unbegreifliche Muster auf dem Untergrund des Fußbodens nach“.
Der Erzähler ist ein zartbesaiteter Junge, der – am liebsten unter dem Bett der Eltern eingeklemmt, sein eigenes ist ja zu hoch – seine Geschichten erfindet. Gnome wecken die Zeit in Gläser ein und bekämpfen einen Drachen, ein erträumter Bruder, dem der Junge Essen und Kleidung auf dem Wasserweg schickt (in den Bach legt, der Bach soll es zum Fluss bringen, der Fluss zum Ozean, da wartet der Bruder auf es), geht „in die Pilze“.
„Es war heiß im starken Sonnenlicht auf den Lichtungen, Insekten summten auf ihnen wie eine Harfe, die gezupft und in das Gras geworfen worden war und nicht aufhören würde zu erklingen…“
Er spielt am Fluss:
„Die Wellen waren klein und sie schienen geistesabwesend auf dem Sand zu brechen, wie Bewegungen, die Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit ihren Fingern machen, wenn sie nervös sind“.
Er fährt mit seiner Familie ans Meer.
„Eines Tages kamen zwei Männer mit einem großen Kleiderschrank aus den Dünen. Sie waren schäbig gekleidet und ungepflegt und sahen aus wie Hobos. Sie gingen ins Wasser, ließen den Kleiderschrank hinein und schwammen neben ihm, während sie ihn vom Ufer wegstupsten. …
Die Leute sprachen tagelang darüber, und in den Zeitungen gab es Berichte darüber, aber niemand wusste, wer die Männer waren, warum sie das getan hatten und was mit ihnen geschah. …
Aber ich wusste, dass … Die Männer wollten nur den Kleiderschrank mit aufs Meer nehmen. Warum war das so schwer zu verstehen?“
Ich bin so gerne in seiner aus Wirklichkeit und Fantasie gewebten synästhetischen Welt.
„…vielleicht verwechsle ich die Reflexionen des Lichts auf dem Boden mit dem Laut des Lachens…“
Die schimmernde, verheißungsvolle Welt bleibt im ersten Teil des Romans zurück. Sie existiert nicht mehr, weil sie sich, wie jede Kindheit, auflöst und weil der Krieg sie mehrmals unter ihren Walzen zerstört hat.
Der zweite Teil schildert die Zeit nach dem Kriegsausbruch. Der Krieg ist da, aber es gibt dennoch feste Routinen. Er schildert den Umzug zur Großmutter (die erste, noch nicht richtig wahrgenommene Flucht), Schule, Weihnachten, Bücher und Speisen – ja, die detaillierte Erwähnung von Speisen. Hilft alles nichts, die grausame Realität ist schon angerückt. Plötzlich ist überall der Tod.
Eindrucksvoll haben Träume, Tagträume und tatsächliche Ereignisse der Kriegszeit nebeneinander Platz. Beobachtete Hinrichtungen, ein Albtraum und die darauffolgende Krankheit münden in erhellende Berichte über religiöse Rituale, die der Junge so gerne mit Erwachsenen miterlebt und und in die er begeistert eintaucht. Fischfangen, Leichenschau, vermeintliche Normalität des Todes und des Tötens – und gleichzeitig das hilflose Sich-Sträuben gegen das Ableben der Mutter, das Unvermögen, den Tod der Mutter anzunehmen.
Als Erwachsene leide ich mit, als Kind verschiebe auch ich das Akzeptieren auf nachher. (Nicht zu vergessen: Effekt der absoluten Anwesenheit). Ab und zu tauchen fast zufällige Begleiter auf, wie der weltgewandte Fotograf Pan Atrament oder die einfühlsame Lehrerin Pani Afrodyta, die dem Jungen über die Zeit helfen. Was sie nicht wissen, sie spielen für den Jungen eine prägende Rolle. Die Mutter im Sterben, der Vater im Krieg. Im Nu schluckt alles das Wasser: sei es den weißen dünner Körper eines fremden Jungen, oder fünf vom Wurf übrig gebliebene Kätzchen.
Im dritten Kapitel findet er sich auf der Flucht in den Westen wieder.
„…nach einer Weile schlief ich ein, beruhigt vom Schaukeln des Zuges, dem Klirren der Kupplungen, das die Wagons begleitete, dem Quietschen der Federn und dem Rattern der Räder auf den Schienen.“
Der Erzähler versucht immer erfolgloser sich vom Grauen abzuschotten, er ist nun Waise, auf der Flucht im Zug auf engstem Raum mit vielen anderen.
Kein goldenes Licht mehr, bloß Gleise und Schienen, Gedränge und Lärm. Die letzten sechzehn kleinen Kapitel – mal aus einem Satz, mal aus einem oder ein paar Absätzen bestehend – zeigen wie in einer Zeitlupe, wie der Junge den Zug verpasst, wie er mit allem, was von seiner Familie geblieben ist, vor den Russen flüchtet. Ein verwaister Junge, ein Träumer steht nun auf den Gleisen, irgendwo in Ungarn, sieht den Zug, der am Horizont zu einem Punkt wird: „Und als ich wieder ruhig wurde, spürte ich, wie mir auf dem Kopf die Haare zu Berge standen“. In dem Zustand, erschüttert, mitfühlend, lässt mich der Autor am Ende des Buches zurück.
Großes Kino dieses Buch.
Julia Grinberg
Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Weise. ibidem. Edition Noema. Stuttgart 2021. 177 Seiten