Den Alltag mit Transzendentalem füttern. Lesungen und Lektüren

Zum Buch von Sibylla Vričić Hausmann kehre ich immer wieder zurück: Weil Worte wie „Machtüberschuss“, „Tag- und Nachtaugen“, „dickbestmögliches Fell“ mich vertraut berühren, weil ich die Bilder des „weichen Steins“, der „einäugigen Bäume“, des „zahnenden Tages“, der „kämpfenden Sphinx und Cyborgs“ wieder und wieder anschauen mag. Aber vor allem (ich glaube es zu wissen), weil mein Muttersein sich mit identischen Dingen auffüllt und sich ähnlich anfühlt, also es ist glaubwürdig und geht weit über die Befindlichkeitsgrenzen hinaus. „Wunde und Heilung zugleich“ – so ist es.

P.S. Und mal ehrlich: Seit Marlene Streeruwitz, seit Elfriede Jelinek hoffe ich, nein, poche ich darauf, dass es keinen Begriff „Frauenliteratur“ mehr geben darf. Es ist nicht mal Gleichberechtigungswille, es ist einfach so offensichtlich und liegt auf der Hand – es gibt Literatur und der Rest ist Makulatur. Andere Kriterien sind überflüssig.

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In meiner Trauer bin ich lieber alleine. Weil ich Floskeln hasse, weil ich von Anderen nicht erwarten will, dass sie mich bemitleiden, mein Leid teilen sollen – sollen sie nicht! – weil ich den wiederum anderen Anderen kein Gefühl anhängen mag, dass sie sich irgendwie „dazu äußern müssen“. Ich verkrieche mich bewusst und rechtzeitig in meine Trauerecken, will nicht daraus hervorgelockt werden, kommt Zeit – komme ich. Anders steht es ums Buch „Es beginnt“ von Anja Utler. Es ist mir eine willkommene Hand, sie wird nicht herausfordernd gereicht, sie hilft nur zu tragen, diskret – nicht mal mein Lastteil, sondern ein Teil von der Last, es ist der aufrichtige Trost, der verstandene Schmerz und somit das Leid, dem dadurch tatsächlich ein Stück genommen wurde. Anja Utler, danke dafür.

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Yevgeniy Breygers „Frieden ohne Krieg“ kann ich nicht lesen, ohne zu weinen. Aber so ist es zurzeit in unseren Häuten. Der Tod von Schura, die leidenschaftliche, verbitterte Rede zur Lage der Geflüchteten (syrische Ärzte, die hier „erstmal“ putzen und Ingenieure, die Klo-Kasse machen sollen), aber auch hiesige Künstler, die Brotjobs machen, die „hirnverbrannt, taub“ machen, och, wie gut ich es kenne … Die Talkshows mit ominösen „Intellektuellen“, Briefen von denen in Zeitungen usw. usf. Was Marjana Gaponenko oder Daniel Graf darüber schreiben – stimmt und stimmt und stimmt. Mehr noch: Es gibt mir neue Blickwinkel, eröffnet neue Schichten, die ich, weniger aufmerksam-belesener Leser, mehr betroffen-mitwissende Person, davor nicht zu erkennen vermochte. Was mir sehr wichtig ist: Dieses Buch ist in ihrer nackten Ehrlichkeit eine Soll-Lektüre der gerade stattfindenden Geschichte. Hier ist (m)eine Leseaufforderung an euch, so viel Wahrheit werdet ihr nicht oft erleben (wenn überhaupt), es tut oft weh, – ja, und? – für Ungeübte kaum auszuhalten, aber es tut gut – auf lange Sicht, versteht sich. Ich dachte früher und manchmal auch jetzt – dieser entblößende, laute Freimut käme vom jugendlichen Maximalismus, aber nein, ich weiß es mittlerweile besser: Es ist Beihilfe zum Nicht-Abstumpfen, Anleitung zum Menschbleiben.

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Eigentlich war ich im Mousonturm, um die „Chora“-Lesung von Michael Lentz zu besuchen. Ja, er hat auch daraus gelesen. Die Lesung war so fulminant, dass ich auch „Muttersterben“ und „Schattenfroh“ mitnehmen musste. Mit „Chora“ und „Schattenfroh“ müsst ihr euch noch gedulden, aber „Muttersterben“ habe ich in einem Ruck verschlungen. Und die nächste Lesung kurz darauf: „Unser Deutschlandmärchen“ von Dincer Gücyeter & „Nimm die Alpen weg“ von Ralph Tharayil.

Das Thema im Vordergrund ist gewiss das Fremdsein von Ankömmlingen, der Spagat der Eltern zwischen Selbsterhaltung, Anpassung und der eventuellen Möglichkeit, den Kindern „die Zukunft“ zu ermöglichen. Es gibt da auch einen auffällig gemeinsamen Hintergrund mit dem meinen (und viele Schichten dazwischen). Die Sprache ist auch so eine ambivalente Gabe, nicht nur bei „entwurzelten“ Kindern, sondern auch beim gutbürgerlichen Lentz: Sie spricht sich unterschiedlich, Eltern sprechen existenzbezogen und defensiv, Kinder bald verzweifelt in ihrer unaufhaltsamen Neugier, bald spielend angesichts sich nähernder Katastrophen. Deren Spiel ist nicht immer spaßig, es ist Tarnung und Schutzgraben. Und was sehen wir plötzlich da? Die drei Bücher können nicht unterschiedlicher sein, es geht nämlich um absolut verschiedene Hintergründe, um genau zu sein – um Migrationshintergründe, bei Dincer Gücyeter besonders vehement (zurecht!), sein Buch wird zum Madrigal an das Ent- und Einwurzeln, an das würdevolle Annehmen samt unbeirrtem Handeln. Und trotzdem: „Ich bin allen fremd, die von ihrer Heimat reden“.

Aber was ändert das an dem dicken, unflexiblen Strang einer Eltern-Kind-Beziehung, die wir (viele oder alle) vorweisen können? Was ändert das am Mutter-Sohn-Dilemma, am Kinder-Eltern-Ding? Da stehen wir alle bloß da und schauen fragend von unten nach oben.

Und die allgegenwärtig mitschwingende Schuld.

„Entschuldigung für die dummen Noten und die dummen Streiche.

Entschuldigung für die dumme Zunge, die dummen Haare, die dummen Lippen und die dumme Haut.“ Ralph Tharaiyl (RT)

„Ich bin dein Sohn, dein Henker.“ (DG)

„Als Mutter verschwand und Vater anrief, Mutter sei diese Nacht gestorben, ging ich ins Bett zurück, und zu Lektüre zurück und den Mäusen, den Enten, den geizigen Dagobert“.  „Was hätte ich Mutter sagen sollen? … “ (ML)

Und das Ringen zwischen Dazugehören und Abstandnehmen, sich dem Schmerz ergeben und auf-Distanz-gehen. Und „dieser gesalbte Schmerz“ und die „tägliche Portion Abschied“.

Vom Fleisch und Blut leben diese Bücher, „aus rohem Wort“ – das merke ich beim Lesen, indem ich immer wieder zutiefst berührt werde. Mal als Kind einer Mutter (in allen beschriebenen Müttern erkenne ich mal hier, mal dort einen Wink der Meinigen). Hier ist sie abgemagert und bettversunken; dort ist sie herrschsüchtige Olympia, hier wiederum eine, die auf Vater angewiesen ist, der nie pünktlich kommt; da sucht sie in mir den Vater, den Halt, den Ersatz ihrer selbst; dort wiederum sind die Schlangenzungen, mit denen sie mich peitscht.

Und noch die verzweifelten Versuche, mit profansten Alltagshandlungen die Trauer zu stopfen, das Gegenständlichste auf das Unsagbare zu stülpen, „mit der Tastatur in Eingeweide einzudringen“, immer wieder von Neuem beginnend, man arbeitet sich durch, bis der blasse Schimmer sich uns erbarmt. Auch in Gegenrichtungen funktioniert es wunderbar in allen drei Büchern: den Alltag mit Transzendentalem zu füttern, bis er ebenso schimmert. Wo sind wir bloß geblieben – ach ja, bei einer gemeinsamen Mutter, unserer Metamutter, die mal als eine Mutter meiner Kinder hervortritt, die sich den Fragen der Kinder stellt; mal als eine nach Bindung suchende, mal auf Bindungen plakativ verzichtende, mal als eine verbindende und festhaltende, entbindende, lösende, loslassende und nicht loslassenwollende, eine immer wieder vergleichende, wiegende, zweifelnde, nur in meiner Unsicherheit absolut sichere Mutter ist. Und was ist mit den Söhnen und Töchtern? Sie sollen nach vorne schauen und unbeirrt weitergehen.

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 Julia Grinberg