Nachwort zu Kenneth Koch „Schicksal. Ausgewählte Gedichte“ (2022)

„Die Gedichte von Kenneth Koch sind monströs“, konstatierte Nicolas Born, Kochs kongenialer deutscher Erstübersetzer, und meinte damit vor allem den überbordenden, in mancherlei Fall auch vorgefertigte Formen einfach wegspülenden Einfallsreichtum, der Kochs Lyrik unter anderem charakterisiert. Ich greife diese Wendung hier gerne auf, denn Born ist für mich auch Ersthelfer in Sachen Koch; Borns Werk ließ mich um 2009 herum einen Seitenblick auf seine Arbeit als Übersetzer werfen: Der kleine broschierte, rein deutschsprachige Auswahlband „Vielen Dank. Gedichte und Spiele“ (Rowohlt, 1976) enthielt Texte der 1960er Jahre und damit einige Einblicke ins – durchaus fulminante – Frühwerk. Den Impuls, mich selbst als Übersetzer zu versuchen, hatte ich dann unmittelbar anschließend im Kontext eines interessanten Übersetzungsprojekts für einen inzwischen insolventen Verlag, aus dem nie eine Publikation hervorging, das Manuskriptstadium aber weit vorangeschritten war. Von Anfang an sah ich eine größere Kompilation vor, eine breiter gestreute Auswahl aus allen Schaffensphasen, ausdrücklich auch der späten, näher an meiner eigenen Gegenwart liegenden. Etwa zehn Jahre später griff ich den Faden meiner in der Schublade überwinternden Übertragungen wieder auf – und zwar nicht nur, weil ich mittlerweile generell Geschmack am Übersetzen gefunden hatte und es ein Seitenstrang meiner eigenen literarischen Arbeit geworden war, sondern auch, weil ich diesen meinen „unfertigen“ Koch kaum vergessen konnte.

Denn hier wird eine in der Tat verspielte, berauschte und berauschende, komplexe und äußerst beredte Gedichtsprache sichtbar, die mir vollkommen unbekannt war; ein ganz anderer Sound als alles, was ich bis dahin kannte (kam ich mit DDR-Hintergrund doch tendenziell von Rilke/Trakl, Huchel/Bobrowski, V. Braun/S. Kirsch, also weniger internationaler Lyrik, und wenn, dann kaum überseeisch, sondern europäisch/osteuropäisch) – für mich etwas ganz Neues, durchaus Befreiendes. Hier betrat das Gedicht etwas ins Volumen, den Raum Gehendes, Ausgreifendes, Erzählendes; in meinen Augen sollte das Gedicht bis dahin immer etwas eher Verknotetes, ja Verkapseltes sein, etwas fremd in der Welt Stehendes und sowohl Wildes wie höchst Konzentriertes, das den Dingen gehörig auf den Grund zu gehen habe. Aber bei Koch, schien mir, wurden ganz andere Energien freigesetzt, hier wurde geredet und gemurmelt, palavert und gelacht; Kochs kolloquialer Stil war etwas, das mich sofort in seinen Bann zog, weil ich es mich selbst im Gedicht nie getraut hatte, bzw. innerlich als ungeeignet abqualifizierte, obwohl mich Jargon als Literatur durchaus interessiert, ich Etepetete lächerlich finde und real ununterscheidbar von andern rede. Ich erinnerte mich während der ersten Übersetzungswelle ständig an die Worte, mit denen mir die Bremer Verlagsbuchhändlerin Bettina Wassmann um 1990 herum ein Manuskript von mir mit den Worten „Lies Amerikaner!“ zurückgab.

Kenneth Koch stammte aus Cincinnati, Ohio, und starb im Juli 2002 77-jährig in New York an Leukämie. Er hinterließ ein reiches, weitläufiges Werk, das neben Lyrik und Prosa auch Dramatik, Essayistik und Literatur für Kinder umfasst. In den 1950er und 1960er Jahren gehörte er zur ersten Generation der so genannten „New York School“ um Frank O’Hara, John Ashbery und Larry Rivers, eine vor allem von Freundschaften geprägte, eher lose Künstlergruppe an der Schnittstelle zwischen Kunst, Musik und Literatur, die Antiprovinzialismus und eine am französischen Surrealismus geschulte Spontaneität hochhielt. Koch begann sehr früh, Gedichte zu schreiben, etwas, das er ein Leben lang und offenbar ganz unbeeindruckt von allen möglichen Lebenskrisen tat; gleichzeitig lehrte er später, nachdem er ganz am Anfang Meteorologe werden wollte, jahrzehntelang Englische Literatur an der Columbia University, stand also höchst seriös in Lohn und Brot. Seine Kurse waren berühmt für ihren unkonventionellen, anarchischen Humor und unerhört beliebt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entlassung aus dem Militärdienst studiert er zunächst in Harvard und trifft – nachdem ihn sein Onkel Leo Loth schon mit Percy Bysshe Shelley und John Keats bekannt gemacht hatte – den Dichter Delmore Schwartz, der ihn fördert und ihm die Lektüre von Autoren wie Wallace Stevens und des Engländers William Butler Yeats empfiehlt. Außerdem lernt er in Harvard mit 22 Jahren John Ashbery kennen, wenig später geht er nach New York und trifft an der Columbia University mit Frank O’Hara auf die Lichtgestalt der Gruppe. Wollte man die drei grob in Beziehung zueinander setzen, käme man womöglich darauf, dass Koch der Dichter mit der klarsten Ausrichtung auf parodistische Spielereien, ja Albernheiten ist, während Ashbery jener mit der eindrücklichsten sprachmagischen Wucht und O’Hara der mit der vielleicht größten Unmittelbarkeit bliebe. Aber man darf nie den Ernst übersehen, der Kochs Gedichte grundsätzlich durchzieht. Schon seine Anfänge zeigen den Versuch, den europäischen Surrealismus für sich fruchtbar zu machen, Gedichte wie „Sonne raus“ oder „Zum Mitklopfen“ (1952) meistern knapp und unaufgeregt die Erweiterung von Wortschatz und Bedeutung, sowie die Entzerrung beider. Die „doppelte oder dreifache Beschaffenheit der Wörter“ – für Koch sind sie alle gleich wertig und er hört sie, wie er sagt, alle zugleich, wobei Semantisches in den Hintergrund rückt, weil Verstehen bei Lyrik zunächst auch – und vielleicht immer wieder nur – Hören ist.

Nach seinem Abschluss an der Columbia lebt Koch als frischgebackener Fulbright-Stipendiat einige Zeit in Frankreich. Er hatte mit Guillaume Apollinaire schon vorher einen der Väter des europäischen Surrealismus für sich entdeckt und verliebt sich jetzt vollends in die französische Sprache als Vexier- und Wimmelbild riesiger Möglichkeiten eines bei aller Fremdheit quasi barrierefreien Sprechens. Koch sagt dazu in einer späten Notiz zu seinen frühen Gedichten:

„Zudem hatte ich ein Jahr in Frankreich verbracht, nicht nur versunken in die französische Dichtung, sondern auch in die französische Sprache, die ich gleichzeitig verstand und missverstand. Alsbald sollten Wörter für mich mehrere Bedeutungen haben. Blanc (weiß) war auch blank und im Femininum Blanche, der Name einer Frau. Das Vergnügen, das ich durch den Sinn neuer Bedeutungen aus dieser glücklichen Verwirrung zog, wollte ich im Englischen nachbilden.“ („Eine Bemerkung zu ‚Sun Out‘“, 2002)

Davon, wie er völlig aufgewühlt und begeistert aus Europa an Amerikas Ostküste zurückkehrte, handelt sein genial-verplaudertes Gedicht „Schicksal“ aus dem Band „The Burning Mystery of Anna in 1951“ (1979). „Schicksal“ fungiert hier als Buchtitel, weil er so grundsätzlich und das Gedicht – nach „Der Zirkus“ und „Über die Schönheit“ (aus „The Art of Love“, 1975), die ihm in Sachen Plauderstil in nichts nachstehen – so richtungweisend ist. Das hier sprudelnde Ich will seine Europa-Begeisterung mit seinen Dichterfreunden Frank O’Hara und John Ashbery, der Malerin Jane Freilicher sowie (möglicherweise, das Ich ist unzuverlässig unterrichtet) dem Maler Larry Rivers teilen. Allerdings interessiert sich niemand so recht für seine Eindrücke aus der Alten Welt, stattdessen gibt es kurze Porträtansätze der Beteiligten, die wie selbstverständlich ins Szenario einer Wartesituation eingebaut und unter anderem wie nach einem Audiomitschnitt gezeichnet sind. „Schicksal“ ist auf rasant fallende, kurze Zeilen verdichtete, gemurmelte Erinnerung, eine Art innen-erinnerter Dialog bzw. Fetzen davon, und enthält die denkwürdige Zeile: „Ich kann nichts damit anfangen / Als drüber zu schreiben“. Und das ist etwas, das mich direkt anspricht, da mich die Frage beschäftigt, was ein Leben taugt, wenn es nur Leben ist und nicht auch Schreiben.

Koch ist in den fünfziger Jahren viel unterwegs, unter anderem geht er für ein Jahr nach Berkeley und lernt dort nicht nur seine erste Frau Janice kennen, sondern auch Walt Whitmans „Leaves of Grass“, das moderne Langgedicht, das ihm das Gefühl gibt, über alles und jeden schreiben zu können. Außerdem unterzieht er sich in dieser Zeit einer psychoanalytischen Behandlung, er war Stotterer und litt zeitweise unter Angstzuständen, zudem fühlte er sich als Jude immer wieder ausgegrenzt in einer US-Gesellschaft, die unter der semmelweißen Oberfläche neue und alte Vorbehalte nie wirklich ablegt, sondern nur, mehr oder minder subtil, perpetuiert. Die frei flottierende Technik der Analyse harmoniert wiederum gut mit seiner eigenen Schreibtechnik, die Gehörtes und Erinnertes zunehmend in einen assoziativen Erzählstrom überführt, unterbrochen und strukturiert nur von langen (oder auch kurzen), ins Endlose führenden Zeilen. Die Kunst dabei ist, den natürlichen Atem nicht zu verlieren und eins ins andere fließen zu lassen, ohne die Künstlichkeit des gemachten Gedichts dabei zu sehr vor Augen zu führen.

In seinen Dreißigern heiratet Koch nicht nur, schreibt seine Magisterarbeit über die Figur des Mediziners im englischen Drama und plant seine Doktorarbeit, sondern zeigt sich mit seinem ersten Langgedicht „Ko: or, A Season on Earth“ (1959), dessen Fertigstellung er dieser zunächst vorzieht, handwerklich-formal – geschrieben in Stanzen, jambischen Fünfhebern – voll auf der Höhe. Koch kollaboriert überdies immer viel, schreibt Gedichte auch zusammen mit Ashbery, O’Hara oder James Schuyler, und lässt sich durch die Kunstwerke von Jane Freilicher oder Larry Rivers zu eigenen Texten anregen. Er wird zunächst Dozent an der Rutgers University und am Brooklyn College, hält sich aber auch immer wieder in Europa, besonders in Italien auf, um dann ab 1959 bis zu seinem Tod an der Columbia University Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft zu unterrichten. Nach dem schlicht mit „Poems“ betitelten Debüt (1953) erscheint 1962 der erste größere Gedichtband „Thank You and Other Poems“, woraus – zusammen mit „The Pleasures of Peace“ (1969) sowie einem Band mit Theaterstücken – Nicolas Born 1973 kompilierte. Hier zeigt sich bereits Kochs ganzes Temperament, seine enorme Bandbreite der Tonlagen, seine kühnen Bild- und Sprachfindungen, seine „Monstrosität“, von exaltiert-empfindsam bis ausladend-verspult ist alles dabei, raffinierte Listentechniken inklusive. So sehr sich Koch zum Beispiel vom ein Jahr jüngeren Allen Ginsberg auch unterschied – gemeinsam sei beiden, wie der Dichter und Koch-Schüler Ron Padgett anmerkt, neben der klaren Traditionslinie Whitman/Williams vor allem Spontaneität, ein hohes Intensitätslevel, Weitläufigkeit (Ausdehnung), das basale Verlangen nach Glück und so etwas wie der unbedingte Glaube an die Poesie als weltverändernder Macht. Ihr Buch „Making It Up“ gibt Zeugnis davon, wie sie 1979 vor Publikum gemeinsam erdachte hochkomische Spontangedichte zum Besten gaben.

Überhaupt Komik, Humor – das sind Eigenschaften nicht nur zahlloser Texte, sondern auch der Person Kenneth Koch, der es zu verdanken ist, dass eine Menge Leute, vor allem auch Kinder und Alte, nicht nur Studenten und angehende Autoren, so viel und so gern bei ihm gelernt haben. Gedichte wie „Frischluft“, „Gesammelte Gedichte“ (1962) oder auch das großartige Listengedicht „Über Ästhetik“ (aus „One Train“, 1994) strotzen nur so vor literarischen Anspielungen und Verweisen auf die Geistesgeschichte. Koch reißt darin immer wieder auch Witze über sich und die andern, die Welt samt all den schönen, guten und wichtigen Referenzen, dass man während der Lektüre immer wieder vom Stuhl fallen will. Zugleich ist etwa ein Gedicht wie „Rege für den Moment“ (1975) beredtes Beispiel für einen Autor, der es vermag, trotz erfolgter Psychoanalyse Dichter zu bleiben (erinnert sei an Rainer Maria Rilkes Diktum, dass sein Vermögen, Dichter zu sein, direkt versiegen würde, wenn er sich analysieren ließe). Hier kommt ironisch verschlüsselt der ganze Ernst zur Sprache, den einer bei allem Schalk im Nacken empfinden muss, den immer wieder Angstzustände befallen; und dann bleiben Ironie und aberwitzige Überspitzung sicherlich etwas, das vor allzu großer Intimität schützen hilft. Dies ist nun andererseits gerade nichts, was für Koch ein Problem wäre, und doch scheint mir, dass er seine geheimsten Seelenzustände zu codieren versucht, wenn er schreibt: „Einen pochenden Specht hab ich im Herzen und vermutlich drei Seelen / Eine für Liebe eine für Gedichte und eine fürs Ausagieren meines irren Ichs“ – ein gutes Beispiel für diese Art von herrlich-verschrobener Innenschau, die sich eher verschmitzt als weihevoll-ernst gibt.

Nach dem Tod seiner ersten Frau Janice 1981, der trotz vorangegangener Scheidung ein herber Verlust war, unternimmt er weitere Welt- und Lesereisen und lebt ab 1989 mit Karen Culler (*1948) zusammen, einer Pianistin und Erziehungsberaterin, die er fünf Jahre später heiratet. Nach „One Train“ (1994) und „Straits“ (1998) veröffentlicht er mit „New Addresses“ (2000) einen Band mit Gedichten, deren Charakter rein apostrophisch, also anredend ist. Der angesprochenen imaginären Objekte sind viele, sie reichen von Zustandsabstrakta wie Müdigkeit, Schlaf, Rausch über gedankliche wie die Vorsehung oder das Unbekannte bis zu denen glasklarer Kindheits- und Jugenderinnerungen wie Stottern, Weltkrieg II oder Klavierstunden. Koch hat in diesem Zusammenhang von Gedichten gesprochen, „in denen man mit jemandem spricht oder mit etwas, das nicht zurücksprechen kann“ – was nicht nur eine schöne Definition dieser Art von Umkehrung oder Eindampfung ursprünglich eher gravitätisch-hymnischer Tonlagen ist, sondern des Schreibens von Gedichten überhaupt.

Mit der Reaktivierung der alten rhetorischen Figur der Apostrophe zeigt sich Koch einmal mehr als Autor, der ein Leben lang Ausschau hielt nach neuen Schreibweisen und den Möglichkeiten von Updates älterer Literaturformen. Auch Kochs letzte Sammlung „A Possible World“, die 2002 postum erschien, bringt einige Gedichte mit dieser Konzeption („An den Buddhismus“), spielt im Titelgedicht aber auch mehr als zuvor mit Formen der Konkreten Poesie und enthält mit „Paradiso“ ein Gedicht, das wie Gabriel Faurés letzter Requiemsatz In Paradisum aus dem Leben hinaus ins rein Begriffene schweift: „Wie konntest du glauben, dass dich auch nur irgendjemand glücklich / Machen könnte, und dass Glück nicht der ständige, nur / Allzu bekannte Stolperstein wäre?“

Mit „Schicksal“ liegt jetzt eine kompakte und vom Deutschen Übersetzungsfonds Berlin geförderte Werkschau vor, die von den neosurrealistischen Anfängen über die expansiven Erzählgedichte der 1970er und 1980er Jahre bis zu denjenigen der Spätzeit um die Jahrtausendwende reicht, jene Liebesgedichte an abstrakt-begriffliche Adressaten und traurig-schönen Abgesänge eines am Ende todkranken Autors. Es sind Gedichte mit bis heute enormer, uns fast fremd gewordener Strahlkraft. Nach einem knappen halben Jahrhundert wurde es in meinen Augen Zeit für eine Auswahl aus allen Schaffensperioden, wie sie bisher im deutschsprachigen Raum gefehlt hat. Denn Kenneth Kochs Werk lag hierzulande in der Zukunft, was heißt, dass es nach Nicolas Born weiterhin weitgehend unübersetzt brachgelegen hatte und jetzt wie ein Schatz vom Meeresgrund geborgen und ins Licht der hiesigen Rezeption gezogen werden musste.

Marcus Roloff