Aphorismen und Fragmente zur Poesie
Nur was zuerst spricht, kann es einfach sagen.
Poesie: Eine Sprache, die nicht aufhören kann, nach ihrem Autor zu suchen.
Ungeduld ist nur ein anderes Wort für das Leben nach der Geburt und vor dem Tod.
Orpheus: Wenn man ihren Namen nennt, muss man die Lebenden von den Toten nicht unterscheiden.
Man kann ein Gedicht nicht besser verstehen als sich selbst; man kann sich selbst nicht besser verstehen als ein Gedicht.
Wer sich zu einer Poesie bekennt, kann keine oder keine andere Religion haben?
Ein unschuldiger Glaube wüsste nichts von sich.
In der Poesie sind die versetzten Berge die übersetzten.
Deine Strafe bestünde auch darin, dass dir ihr Grund verborgen ist.
Ein wahres Wort darf sich, doch ein gutes Wort darf sich nicht selbst in Anspruch nehmen.
Eine Soziologie kann kein Gedicht ersetzen, dieses allenfalls in etwas verwandeln, das auch einige Eigenschaften eines Gedichts hat.
Je unvertrauter Begriffe, um so wahrscheinlicher oder umso unwahrscheinlicher ist, dass ihre Gegenstände Phantasmen sind?
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Nur wenn aus Verachtung deren Darstellung wird, kann sie angemessene Kritik sein. Das Analoge gilt für Bewunderung.
Nur in der Poesie kann eine Aussage mehr oder weniger wahr sein.
Eine Aussage, die als solche dargestellt wird, stellt ihre Wahrheit und ihre Falschheit anheim.
Poesie und Politik: Etwas behaupten, damit man es für wahr halten kann, und etwas für wahr halten, damit man es behaupten kann.
Poesie und Empirie: Auch wie du etwas behauptest, lässt dich erfahren, ob die Behauptung wahr oder falsch ist.
Hegel: Ein Satz, das niemals wahr gewesen ist, noch jemals wahr sein wird, ist keiner.
Das Beste wäre nur das, dem wir uns nie aufhören anzunähern.
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Superlative sind grammatikalische Metaphysik.
Das Schöne ist kein grammatischer, aber ein semantischer Superlativ.
Wären Konstruktion und Dekonstruktion gleichwertig, könnte dann ein Vers schöner sein als ein anderer?
Konjunktiv: Die grammatische Form des Potentials.
Ein Pronomen, das sich mehr als einmal auf dich bezieht, bezieht sich auch auf andere.
Gesellschaft: Meine Eigenschaften werden erst in euren Namen laut.
Heilige Texte müssen, Gedichte können Wahrheit beanspruchen.
(Variante) Wissenschaftliche Texte müssen, Gedichte können Wahrheit beanspruchen.
Was in einer Prosa wahr ist, kann in einem Gedicht falsch ja, eine Lüge sein. Und auch umgekehrt.
Poesie: Kann die Form einer Aussage diese verifizieren oder aber falsifizieren?
Kann ein Gegenstand so überzeugend darstellt werden, dass eine Aussage über ihn keine Lüge sein kann?
Poesie: Exemplifizieren soll Verifizieren werden.
Nur Dinge, die sich auch auf das beziehen, was sich auf sie bezieht, wären transparent.
Gäbe es nichts, das Schmerzen leidet, gäbe es dann niemanden, der lügt?
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Jedes dir selbst verborgene Motiv bedingt falsche Aussagen.
Wenn du nicht am Ziel bist, können eine Aussage und ihre Negation wahr sein.
Literatur: Ich bin nicht der Autor, aber ich enthalte ihn. Der Autor ist nicht ich, aber er enthält mich.
Adorno: Zur Affirmation verurteilt man sich schon dadurch, dass man eine Negation darstellt.
In einem Gedicht ist eine Regel ein mögliches Gesetz und ein Gesetz eine mögliche Regel.
Was Unsinn zu Sätzen werden lässt, ist auch das, was Schmerzen zu mir werden lässt?
In der Poesie wäre Unsinn bis zur Menschenunmöglichkeit erweiterter Sinn.
Ein menschenmögliches Gedicht muss auch dein Versagen enthalten.
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Man kann nicht alles haben: Weil Natur schön erscheint, ist sie nicht gut, weil Aussagen wahr sein können, sind sie weder gut noch schön.
Wenn Natur schön ist, dann ist sie nicht ohne dein Wohlwollen gut.
Was wir als Natur wahrnehmen, scheint uns deshalb schön, weil es auch unsere Fehler enthält.
Kann etwas, das sonst moralisch verwerflich ist, durch seine Darstellung moralisch werden?
Moral: Du sollst tun, was du sagst. Ästhetik: Du tust, was du sagst, indem du es so sagst, dass es geschieht.
Naturwissenschaftliche Theorien können das Ästhetische nur sein, nicht aber ausdrücken.
(Variante): Naturwissenschaftliche Theorien können Moral weder ausdrücken, noch moralisch sein.
Nur die Naturwissenschaften selbst überlassen das Schöne allein unserer Rezeption.
Wäre schon mein Körper moralisch, dann müsste ich es nicht mehr werden.
Gedicht: Was du vor dir verbirgst, erkennen andere durch dich.
Ein Lob, das du dir gefallen lässt, gilt nicht mehr dir.
Poesie: Die Heuchelei beginnt damit, dass man so tut, als wäre man nicht in Gedanken, sondern dort, wo das ist, was sie bezeichnen.
Moralismus: Mein Gedicht wäscht meine Hände so in Unschuld, dass die Leser nass werden.
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Auf je mehr Dinge ein Begriff metaphorisch zutrifft, umso wahrscheinlicher, dass es mindestens eine Welt gibt, in der der Begriff auch wörtlich zutrifft.
Der Himmel ist blau: Erst wenn man eine Aussage sowohl wörtlich als auch metaphorisch versteht, kann man erkennen, was auszusagen bedeutet.
Das Vertrauen auf die wörtliche Bedeutung: Der Hochmut nach dem unerkannten Fall.
Die sprachliche Form von Gesetzen ist eine Metapher für ihre unredliche Anwendung.
(Variante) Die sprachliche Form von Gesetzen ist eine Metapher für ihre Übertretung.
Weil aus Irrtümern Lügen und aus Lügen Fiktionen werden können, kann aus einer Fiktion eine Wirklichkeit werden?
Gedichte suchen das Unwahrscheinliche so, als wäre es ein Hinweis auf das Unsichtbare.
Roman: Weil nicht nur ich ich sage, gibt es etwas zu erzählen.
Jede Erzählung sagt auch: Am Ende ist es auch so, als wäre nichts geschehen.
Alle Erzählungen sagen auch: Es hätte anders kommen sollen.
Wenn die Sonne scheint, dann regnet es selten. – Wenn wir das nicht verstehen, dann kein einziges Gedicht.
Franz Josef Czernin