Florian Neuner – Antworten auf Benjamin

DIE TECHNIK DES KRITIKERS IN DREIZEHN THESEN

13 Anmerkungen

I. Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.

Literaturkämpfe, die den Namen verdienen, finden in den Feuilletons nicht mehr statt, seit Literaturkritik mit Reich-Ranicki, Weidermann & Co. zur Fernsehunterhaltung verkommen ist, an deren Niveau sich auch die selbsternannten Qualitätsmedien zu orientieren scheinen. Der Kritiker als Stratege müßte heute jemand sein, der sich Gedanken darüber macht, wie eine Gegenöffentlichkeit gegen die hegemonialen Flachdiskurse über Literatur organisiert werden und ästhetisch relvante Literatur wieder zur Geltung gebracht werden kann.

II. Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.

Wenn ich nicht zeigen kann, warum ein Text exemplarisch gut oder schlecht ist, sollte ich mich als Kritiker nicht dazu äußern.

III. Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu tun.

Der Kritiker ist kein Literaturhistoriker. Letzterer läßt ohnehin Jahrzehnte verstreichen, ehe er sich dem ständig wachsenden diskursiven Scherbenhaufen widmet, der durch dievoreilige Kanonisierung vermeintlich wichtiger Gegenwartsautoren entsteht, und ein wenig aufräumt. Ersterer sollte nicht als Literaturhistoriker dilettieren und uns zu den diversen Geburts- und Todestagen mit eilig zusammenrecherchierten, schlechten Essays langweilen. Ich plädiere für ein Schreibverbot im Hölderlin-Jahr.

IV. Kritik muß in der Sprache der Artisten reden. Denn die Begriffe des cénacle sind Parolen. Und nur in den Parolen tönt das Kampfgeschrei.

Nein, muß sie nicht und sollte sie eigentlich auch nicht. Benjamin mit seinem Pathos, seinen forcierten Bildern und seiner auf Pointen gebürsteten Sprache gibt selbst kein gutes Beispiel. Wenn die »Sprache der Artisten« die Nachteile von diskursivem und poetischem Sprechen vereint, ist sie verzichtbar.

V. Immer muß Sachlichkeit dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache es wert ist, um welche der Kampf geht.

Ja, und die in den Debatten über Literaturkritik mantraartige wiederholte Beteuerung, letztlich doch nur den Intentionen des Autors gerecht werden zu wollen, ist entweder verlogen oder unredlich. Zudem sind diese »Intentionen« oft unplausibel, anachronistisch, falsch usw. Auf sie darf dann auch »unsachlich« reagiert werden.

VI. Kritik ist eine moralische Sache. Wenn Goethe Hölderlin und Kleist, Beethoven und Jean Paul verkannte, so trifft das nicht sein Kunstverständnis, sondern seine Moral.

Mit Moral kommen wir hier nicht weiter. Man mag Goethe nachweisen, daß er sich in bestimmten Situationen wie ein Arschloch verhalten hat und darüber ein moralisches Urteil fällen. Was seine ästhetischen Verdikte betrifft, so spricht aber alles dafür, daß er bestimmte Entwicklungen und Positionen Jüngerer banalerweise einfach nicht mehr verstanden hat.

VII. Für den Kritiker sind seine Kollegen die höhere Instanz. Nicht das Publikum. Erst recht nicht die Nachwelt.

Eine minimale Qualitätskontrolle durch gegenseitige Wahrnehmung wäre wünschenswert. Auf Nachruhm dürfen Kritiker nicht hoffen. Schielen sie darauf, dann produzieren sie eitlen, prätentiösen Unfug.

VIII. Die Nachwelt vergißt oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors.

Wohl wahr – als allzu großen Heroismus sollte man es den Kritikern aber nicht auslegen, wenn sie sich der Gefahr aussetzen, daß sich ein noch lebender Autor auch mal wehrt oder verteidigt. Denn Autoren, die – gerechtfertigt oder nicht – auf Kritiken replizieren, sind in einer unvorteilhaften Position und machen sich so gut wie immer lächerlich.

IX. Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.

Ja, es kann von Vorteil sein, ein Buch nicht oder nur ganz oberflächlich zu lesen, um es treffsicher polemisch abzufertigen.

X. Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.

Diese Aussage ist eine Benjamin’sche Pathos-Arabeske und Selbst-Stilisierung.

XI. Kunstbegeisterung ist dem Kritiker fremd. Das Kunstwerk ist in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister.

Begeisterung in einem naiven Sinne vielleicht ja. Wenn aber Kunstwerke nur austauschbare Vehikel in einem »Kampf der Geister« sind, in dem es um Ideologien, nationales Selbstverständnis, Diversity oder was auch immer geht, haben wir die kritische Auseinandersetzung mit Kunst hinter uns gelassen. Kritiker müssen von der begründbaren Annahme ausgehen, daß die Kunst nicht nur ein anderes/zugespitzteres/in kritischer Distanz oder gar Opposition zur Alltagskommunikation stehendes Sprechen ermöglicht, sondern daß dieses Sprechen auch relevant ist für unsere Auseinandersetzung mit der Welt.

XII. Die Kunst des Kritikers in nuce: Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu verraten. Schlagworte einer unzulänglichen Kritik verschachern den Gedanken an die Mode.

Das ist mir etwas zu pointiert gesagt, trifft aber im Prinzip zu.

XIII. Das Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den Kritiker vertreten fühlen.

Nein, weder muß das Publikum immer belehrt werden, noch ist es die einzig denkbare rhetorische Strategie, eine unerwartete Position zu vertreten, die vermeintlich nicht geteilt wird.

Florian Neuner, im Dezember 2019