Magnus William-Olsson

Magnus William-Olsson

Einleitender Vortrag: AKADEMIE FÜR LYRIKKRITIK

Lassen Sie mich mit einem Dank für Ihre Einladung beginnen. Allein die Tatsache, dass es eine Akademie für Lyrikkritik auf dieser Welt gibt, bestätigt mich in meinem lebenslangen Streben auf unerwartete Weise. Diese beiden Gebiete, die Lyrik und die Kritik, sind praktisch alles, womit ich mich während meiner gut vierzig Jahre als Schriftsteller beschäftigt habe. Mir selbst fällt es immer schwerer, diese Beschäftigungen voneinander zu unterscheiden; die Frage oder besser die Fragen nach der Poesie als solcher bildeten immer die Grundlage für mein Dichten, ebenso wie das für die Poesie spezifische „Erkennen“ immer meine Kritik geleitet hat.
Aus sozialer und Literatur-Soziologischer Sicht ist der Kritiker-Poet ein Bastard, den weder die Poeten noch die Kritiker in ihre Arme schließen. Erstere fürchten uns und letztere lassen uns links liegen; sie bevorzugen solche Poeten, die sich ohne Widerspruch interpretieren und lieben lassen. Mir war diese doppelte Identität jedoch äußerst dienlich. Die Grenze, verstanden nicht als Unterschied, sondern als Ort, hat immer mein Interesse geweckt, und auf der Grenze habe ich auch meine Wirksamkeit entfaltet.
Ich möchte in diesem Vortrag über drei Themen sprechen. Erstens werde ich darlegen, wie ich Kritik betrachte, verstehe und denke, und zwar im Licht der Poesie und des Dichtens, insbesondere in der Form, wie sie in der Kunst der Lyrikübersetzung zum Ausdruck kommt. Anschließend werde ich ein wenig über die zeitgenössische Lyrik, ihre Bedingungen und ihre Situation in Schweden sprechen. Und schließlich werde ich mich ganz der Praxis zuwenden und ausgehend von meiner Arbeit mit KRITIKLABBET/Örnen och Kråkan [Kritiklabor/Adler und Krähe] darüber sprechen, wie eine nachhaltige und begründete Rezensions-Aktivität von Lyrik-Neuerscheinungen in der neuen, postdigitalen Öffentlichkeit organisiert, finanziert und distribuiert werden kann.
Kurz gesagt: ein Vortrag, der sich vom Theoretischen bis zum ganz Handgreiflichen bewegt, von der Erkenntnistheorie im weitesten Sinne zur Ökonomie und zu Geschäftsmodellen.

1.Die Kritik als philosophische bzw. künstlerische Erkenntnistradition
Die Poesie und die Kritik liegen seit der Antike im Konflikt miteinander. Der Konflikt hat seinen Ursprung in der Geburt der Philosophie, die sich ja gerade im Kampf mit und gegen die Poesie vollzog, einem Kampf, der sich auf vielen Ebenen abspielt, der aber im Kern den Wahrheitsanspruch betrifft. Dieser Konflikt findet sich auch in der Kritik wieder, der Kritik verstanden als Kunst, als Denken und als Erkenntnistradition. Es handelt sich, wenn Sie so wollen, um einen Grenzkonflikt, der gewissermaßen als Konflikt zwischen der „Grenze als Unterschied“ und der „Grenze als Ort“ verstanden werden kann. Ich werde auf diesen Konflikt zurückkommen, der in der Lyrikkritik im Grunde immer akut ist und war.
Aber lassen Sie mich mit etwas Persönlichem beginnen. Als ich mich in meinen frühen Zwanzigern dazu entschloss, dass ich mein Literaturstudium an der Universität nicht weiter fortsetzen konnte, war der Grund dafür, dass das, wovon die Literaturhistoriker und die Philologen sprachen, mir überhaupt nicht als das gleiche erschien, womit sich die Poeten beschäftigten. Diese Entdeckung war verblüffend. Die Kritik, so wie sie an der Universität betrieben wurde, vermied es, von demjenigen zu sprechen, dem wir, jene Dichter, die ich las und bewunderte, und ich unser Leben gewidmet hatten. Es ging nicht um Unterschiede in Geschmack oder Werten, sondern um Ontologie, um den Gegenstand selber – die Poesie! Die Werke, die die Literaturhistoriker und Philologen analysierten, einordneten und zu verstehen versuchten, waren gar nicht die Werke der Dichter. Kein Dichter beschäftigt sich damit, Texte zu erfinden und zusammenzusetzen. Lyriker und ebenso ihre Leser verstehen und erproben ein Werk an seiner Wirkung, daran was es mit uns und der Welt macht. Das ist ganz selbstverständlich. In diesem Sinne ist ein poetisches Werk auch nicht abgrenzbar. Dagegen ist es vielleicht ein Grenzphänomen, so wie es der spanische Philosoph Eugenio Trías beschreibt, wenn er von der Grenze als einem Ort spricht, an dem kein Unterschied herrscht.
Vielleicht könnte man sagen, die Lyrikkritik im philosophischen Sinn sei im 6. Jahrhundert v. u. Z. entstanden, als Theagenes von Rhegion begann, Homer allegorisch zu interpretieren. Es spricht viel dafür, dass er das tat, um Homer gegen die Attacken der neuen Philosophen zu verteidigen. Jene hatten ja die Neigung – wie z.B. Theagenes‘ Zeitgenosse Heraklit – Homer dafür anzuklagen, dass er dem Offensichtlichen Gewalt antue. Nur Kinder und Verrückte können doch an jene mythischen Wesen glauben, die er darstellt, oder daran, dass die Götter wirklich mit den Menschen Umgang pflegen. Wer hat denn jemals so etwas gesehen!? Theagenes antwortet ihnen: Nein, Homer ist kein Verrückter. Er stellt das Offensichtliche als etwas Anderes (allos = griech. „der Andere“) dar. Die allegorische Lesart, die ich also als die erste literaturkritische Methode bezeichnen möchte, entstand folglich in der Absicht, die Dichtung gegenüber der Philosophie zu verteidigen. Aber die Absicht erwies sich als verfehlt und der Versuch als verheerend kontraproduktiv. Der Anspruch, den die Philosophen erhoben, galt nämlich nicht dem Offenbaren, sondern dem Wort. Und Theagenes‘ allegorische Methode bekräftigte im Umkehrschluss den Logozentrismus der Philosophen. Ja die Allegorie und das Figurative, der Vorgang, durch die Rede das Offenbare vom Verborgenen, das eine vom anderen zu unterscheiden, wurde faktisch zum allerwichtigsten Ausgangspunkt der Philosophie.
Der Konflikt zwischen der Philosophie und der Poesie ist noch immer offen und häufig akut, er ist nie gelöst worden. Für die Poesie ist er äußerst produktiv, denn die Philosophie kann uns Poeten viel lehren. Für die Philosophie dagegen ist der Konflikt konstitutiv, mit ihrem eigenen Aufkommen unauflöslich verknüpft. Wenn sich Philosophien oder manchmal auch nur einzelne Philosophen in der einen oder anderen Krise befinden, kehren sie in der Regel zu diesem Konflikt zurück wie zu einer Urszene, um über die Poesie zu triumphieren und aufs neue Kraft aus der philosophischen Behauptung der Unterscheidbarkeit und Aussprechbarkeit aller Dinge zu gewinnen, aus dem, was Sokrates – auch er natürlich ein misopoetischer Denker – dialegesthai nannte, „die Kunst, gemeinsam etwas durchzusprechen“.
Poesie dagegen wirkt nicht dia-legein „durch das Sprechen“, sie stellt uns vor die Sprache in ihrer vollen Potenzialität, die Sprache mit allem, was sie für uns sein kann. Die Poesie als
solche führt nicht zusammen, sondern auseinander. In diesem Sinne lässt sie sich auch nicht in Begriffen der Kommunikation verstehen (lat. communicare = etwas gemeinsam tun). Es ist eine Tatsache, dass wir alle vor dem Gedicht als solchem immer einsam und uneinig sind, auch – versteht sich – mit uns selber.
Was aber wäre eine Lyrikkritik, die weder etwas bespricht noch etwas ins Gespräch bringt? Wie könnte eine Kritik aussehen oder auch nur gedacht werden, die ihren Ausgangspunkt nicht in einem dialegesthai nimmt? Eine Kritik, die nicht wie die Literaturhistoriker und Philologen meiner Jugend das Werk als ein Etwas angreift und darüber spricht, ein Objekt, ein Besprechbares, sondern dem Werk stattdessen eine Wirkung verschafft, die durch das Werk wirkt und dennoch Kritik bleibt?
Ich habe lange Zeit gebraucht, um die möglichen Voraussetzungen für eine solche Kritik zu formulieren. Und der Weg ging über die Zusammenarbeit mit Künstlern anderer Kunstarten: Musiker, Tänzer, Schauspieler, Übersetzer1.
Auch im künstlerischen Schaffen, in den Prozessen, die uns Kunstwerke schenken, gibt es doch eine Kritik, nicht wahr? Wenn man ein Musikstück auf der Geige spielt oder unter der Leitung des Choreographen eine Tanzaufführung improvisiert, unterscheidet, beurteilt und entscheidet man natürlich dauernd. Und selbstverständlich ist dieses Schaffen auch ein „Erkenntnis-Schaffen“. Der Geiger, die Geigerin weiß etwas über das Werk, das wir Nicht-Geiger nicht wissen.
Aber welche Art von Kritik praktizieren wir dabei – und gibt es vielleicht Terminologien, um verschiedene Aspekte dieser Art von Kritik zu bezeichnen? Was meinen z.B. Musiker oder Tänzer, wenn sie nach dem Versuch, eine Phrase oder eine Sequenz zu gestalten, ausrufen: „jetzt hat es gestimmt!“ oder „nein, es war nicht lebendig!“ oder einfach „so funktioniert es nicht, noch mal von vorne!“
Im „Freien Seminar für literarische Kritik“ (siehe mein CV in den Anlagen), haben wir an der Untersuchung dieser Fragen intensiv gearbeitet. Wie haben einige 3-Tages-Sitzungen solchen Phänomenen wie „Phrase“ oder „Präzision“ gewidmet, bei denen die „Vorträge“ ebenso oft darin bestanden, dass ein Geiger oder eine Schauspielerin ihre Kunst im Wechsel vorgeführt und darüber gesprochen haben, wie im Theoretisieren einer Philosophin oder eines Kritikers. In diesen Diskussionen kam unser Gespräch immer wieder auf zwei Begriffe zurück: Interpretation und Aufmerksamkeit, Begriffe, die das Aktualisieren ins Zentrum der Kritik rücken und die uns erlauben, die Rolle des Handelns, der Ausübung/Exekution und der Performation für die Kritik zu untersuchen.
Das griechische Verb krínein, von dem unser Wort „Kritik“ abstammt , bedeutet ja „entscheiden“, „beurteilen“, „unterscheiden“, „absondern“, „aussondern“. Es wird vielfältig verwendet und hat eine lange Geschichte, die bis weit in das Proto-Indoeuropäische hineinreicht. Weder bei den Naturphilosophen noch bei Platon und Aristoteles hat der Begriff eine entscheidende philosophische Signifikanz. Das Wort soll ursprünglich im landwirtschaftlichen Zusammenhang verwendet worden sein: z.B .fruchtbares von
1 [Im schwedischen Plural stellt sich das Gender-Problem nicht. Ich habe hier der besseren Lesbarkeit halber das generische Maskulinum im deutschen Plural beibehalten. A.d.Ü.]
unfruchtbarem Saatgut unterscheiden. Homer verwendet es einige Male, u.a. als Odysseus die rechte Mannschaft für einen Auftrag „auswählen“ soll.
Kritik setzt einen Gegenstand voraus, darauf habe ich schon hingewiesen. In diesem Sinne ist sie immer reaktiv. Erst wenn man eine Handvoll Saatgut oder eine Anzahl Männer vor sich hat, kann das krínein stattfinden.
Aber wie? Alle, die je ein Gedicht geschrieben oder eine Melodie gespielt haben, wissen, dass auf das Getane ein kritisches Nachdenken folgt: Man schreibt eine Zeile, man macht einen Strich, man spielt eine Phrase, und wenn dieses Etwas als Etwas erscheint, muss es der Künstler kritisch bewerten. Was habe ich geschrieben, gezeichnet, formuliert? Dieser Akt, den wir zurecht krínein nennen können, nimmt unser ganzes Wesen in Anspruch. Hier reicht ein sokratisches dialegesthai nicht aus. Soll Saatgut beurteilt werden oder die Tüchtigkeit der Mitglieder einer Mannschaft, so müssen wir alles, was wir sind und haben mobilisieren: unsere Sinne, unsere Erfahrung und Weisheit, unsere Intuition, unsere Vernunft, unsere einmalige, individuelle/idiosynkratische Begabung. Aber auch der Gegenstand, so wie er vorliegt, kann nicht unberührt bleiben. Um das Getane im schöpferischen Prozess kritisch beurteilen zu können, müssen wir es nicht als das Etwas überprüfen, so wie es aktuell erscheint, sondern als alles, was es für uns sein kann, aber auch nicht sein kann. Aristoteles nennt das dynamía und adynamía, die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit zu werden.
An dieser Stelle wird der Begriff der Aufmerksamkeit zentral. Die künstlerische Kritik, das krínein, das die Geigerin, der Tänzer oder die Übersetzer vollziehen, wenn sie interpretieren, bedeutet, die Aufmerksamkeit so zu formen, dass der Gegenstand in seiner Möglichkeit wie in seiner Unmöglichkeit erscheint. Hierin liegt ein großer Teil der Schwierigkeit des künstlerischen Schaffens. Das Wort, die Rede, das Dialogische sind nur ein Teil dieses Aufmerksam-Werdens; sich in etwas Hineinversetzen, sich zu etwas Machen, per-formare, auf eine Weise, dass der Gegenstand in seiner Möglichkeit wie in seiner Unmöglichkeit erscheint, fordert von mir alles, wozu ich im Stande bin. Das Urteil kann nur in, durch und ausgehend von meinem lebendigen Leben gefällt werden. Nur aus einer solchen Art des Aufmerksam-Werdens kann der Künstler sich sagen: „Jetzt war es richtig!“, „So stimmt es!“, „Es funktioniert!“
In epistemologischen Termini manifestiert sich diese Art von Urteil als „Überzeugung“. Es lässt sich weder erklären noch rekonstruieren. Es gehorcht auch keiner Methode (griech. meta-hodos), weil es keinem Weg folgt. Dennoch gilt es dem Künstler nicht selten als absolut – „gerade so muss es sein“.
Man kann folglich der philosophischen kritischen Tradition eine künstlerische gegenüberstellen.
Wenn die erstere Tradition, die unsere Epoche durch und durch prägt, die Epoche der Kritik, die Immanuel Kant „das eigentliche Zeitalter der Kritik“ genannt hat, wenn also diese Epoche heute und wieder einmal eine Krise durchmacht – die akademisch beispielsweise in der „postcritique“ ihren Ausdruck findet und politisch in „Fakten- und Erkenntnisresistenz“, „fake news“, „anti-science“ usw.- so gibt dies Anlass auszuprobieren, in welchem Maße die künstlerische Tradition dazu beitragen kann, die Kritik und damit auch die Öffentlichkeit wieder herzustellen. Im zweiten und dritten Teil meines Vortrags werde ich darauf zurückkommen. Öffentlichkeit ist ja der Grund, auf dem das Zeitalter der Kritik und damit auch die moderne Demokratie seit den Tagen Kants aufgebaut wurden.
Kritik ist ganz einfach etwas weit Größeres, es ist weit mehr als das, was Sokrates, Kant und all ihre philosophischen Nachfolger mit solcher Selbstverständlichkeit ausüben. Eben dieses „Mehr“ und die Frage, in welchem Maße es als Ausgangspunkt dienen kann nicht nur für Urteile, sondern auch für „Erkenntnis-Schaffen“ und ja – Denken, ist es was die performative Kritik erprobt.
Die Ausgangspunkte für das Denken einer solchen performativen Kritik bildeten wie gesagt im „Freien Seminar“ vor allem die interpretierenden Künste. Doch weil die Voraussetzungen hier auf Zoom nicht optimal sind, um dies am Beispiel von Musizieren, Tanz oder Schauspielen zu demonstrieren, werde ich im Folgenden kurz über das Übersetzen sprechen oder genauer über die Kunst der Lyrikübersetzung.
Was bedeutet es, ein Gedicht zu übersetzen?
Die traditionelle Art, Übersetzung zu denken (Über-setzung), heißt wie es das Wort schon anzeigt, ein Gedicht aus der einen Sprache herauszuheben und in einer anderen wieder „abzusetzen“ oder „aufzubauen“. Cicero weist klugerweise darauf hin, dass man ein Gedicht eher „gewogen“ als „gezählt“ hinübertragen soll, um zum besten Ergebnis zu kommen. Man soll die Sätze und Phrasen sozusagen im Ganzen ausgraben und in den neuen Humus umtopfen, nicht versuchen, das Gedicht Wort für Wort hinüber zu pflücken.
Ein guter Rat. Aber auch ein dialogischer und logozentrischer, ein Kind des gleichen Denkens, das an der Universität meiner Jugend gepflegt wurde. Vom Standpunkt der performativen Kritik, die also das Werk als alles das erprobt, was es für mich sein und nicht sein kann, könnte man den Prozess statt dessen ausgehend von „meiner Sprache“ beschreiben.
„Meine Sprache“ ist diejenige Sprache, in der meine Aufmerksamkeit für alles, was ein Gedicht sein kann, ihre am meisten komplexe Aktualität erreicht. Der Kern „meiner Sprache“ ist, so denke ich, eher ein Zustand als ein Vokabular oder eine Struktur. Ich empfinde ihn vielleicht vor allem als jene Erfahrung, wie Sprache in und für mich entstanden ist, ganz einfach als ich sprechen gelernt habe in meiner Kindheit. Die Erfahrung jenes Zustandes, in dem jeder Laut, jedes Wort, jede Geste unendlich komplexe Register von Sinnlichkeit, Erinnerung, Phantasie und Gedanken wachruft. Ich kann die Empfindung dieser kindlichen Sprache noch heute hervorrufen zum Beispiel anhand mancher Bilderbücher, Kinderverse, in der Erinnerung an das Sprechen meiner Mutter, oder ich kann sie empathisch erleben, wenn ich beobachte, wie kleine Kinder in meiner Nähe selbst sprechen lernen.
In meiner Vorstellungswelt ist es die Erfahrung dieser erhöhten Sensibilität für die gesprochene Sprache und die Wörter in ihren unendlichen Möglichkeiten, die den eigentlichen Kern „meiner Sprache“ ausmacht, jener Zustand, mit dem ich auf irgendeine Weise in Verbindung treten muss, wenn sich Gedichte als Poesie für mich aktualisieren sollen. Eine Sensibilität, bei der sich die kleinste Veränderung bei einer der vielen Entscheidungen der Sprache in alle Richtungen ent-wickeln, also aus- und einwickeln lässt.
In diesem „Kern“ soll sich das fremde Gedicht am Ende aktualisieren nach jenem kritischen Prozess, den wir Übersetzung nennen.
Aber „meine Sprache“ ist viel mehr als dieser Kern. Ein Parameter in ihrer Ordnung ist natürlich genetisch. Germanische Sprachen gehören in höherem Grad zu „meiner Sprache“ als lateinische, finnisch-ugrische oder sino-tibetanische. Und in allem Wesentlichen besteht „meine Sprache“ aus dem Schwedischen. Aber es ist nicht nur das Schwedische; „meine Sprache“ enthält selbst in ihrem Kern Wörter und Phrasen, Grammatik und alle möglichen
sprachlichen Elemente anderer Sprachen als des Schwedischen. Als Kind hatte ich zum Beispiel ein finnisches Kindermädchen. Tief in meiner Kindheitssprache leben daher auch finnische Wörter und Reime. Und fleißige Sprachstudien während vieler Jahre haben bewirkt, dass mehrere andere Sprachfamilien heute auch in „meiner Sprache“ repräsentiert sind.
Wenn wir uns „meine Sprache“ als eine runde Scheibe oder als eine Sphäre veranschaulichen, könnte sie so aussehen:
Wenn ich mich nun z.B. einem Gedicht auf Ungarisch zuwende, einer Sprache, die ich vielleicht identifizieren kann, wenn ich sie sehe oder höre, aber mehr auch nicht – ja dann brauche ich Hilfe. Ich kann natürlich Ungarisch lernen mit allem, was es dazu braucht. Oder jemanden aufsuchen, der Ungarisch spricht, und mit ihm zusammenarbeiten. Ich kann Übersetzungen in andere Sprachen zu Rate ziehen, die ich besser beherrsche. Das Unternehmen ist ganz und gar nicht unmöglich, aber es erfordert viel Arbeit, denn ich muss das Gedicht vom äußersten Rand meiner Sprache in den Kern hineinziehen, wo es sich in all seinen Möglichkeiten für mich aktualisieren soll. Wähle ich dagegen ein Gedicht auf Spanisch, eine Sprache die ich oft verwende, so kann ich es ohne Hilfe lesen. Und dennoch erfordert es auch hier viel Arbeit, bis es vor mir in allen seinen Möglichkeiten erscheint, im Kern „meiner Sprache“.
Aber indem ich das Gedicht langsam und geduldig interpretiere, es laut lese, im Wörterbuch und in Geschichten der Lyrik nachschlage, mit kompetenten Bekannten rede, benachbarte Lyrik konsultiere, ausprobiere, vor allem ausprobiere – ungefähr auf die gleiche Art, wie ein
Pianist zu Wege geht, wenn er sich ein neues, schwieriges Stück vornimmt, oder eine Schauspielerin, wenn sie sich eine Rolle erarbeitet – kann ich das Gedicht in den Kern „meiner Sprache“ bugsieren, in jene Register, in denen Gedichte für mich poetisch werden können, in dem Sinne dass ich ihnen mit allem, was ich bin und habe, begegnen kann und meine Kritik daher die Kraft einer Überzeugung annehmen kann, dass es genauso sein muss.
Ich brauche sicher nicht darauf hinzuweisen, dass das, was ich gerade beschrieben habe, ein Modell ist, nichts weiter. Es verbirgt ebenso viel, wie es offenbart. Mein erster Punkt ist, dass es auf die Grenze als Ort, nicht als Unterschied verweist. In einer Übersetzung, so wie sie dieses Modell begreift, wird nichts „über-gesetzt“, weder gewogen noch gezählt; statt dessen geschieht eine gegenseitige Performance sowohl des Gegenstandes/Gedichtes als auch meiner selbst/des Übersetzers, solange bis das Gedicht in seiner vollen Möglichkeit oder Unmöglichkeit vor mir steht, als Alles, was es sein und was es nicht sein kann. Mein anderer Punkt ist, dass dieser Prozess als ein Erkenntnisprozess verstanden werden kann. Er enthält alles, womit sich meine literaturhistorischen und philologischen Lehrer in der Universität meiner Jugend beschäftigt haben, aber er enthält auch und vor allem Vieles darüber hinaus, Erkenntnisse und Denken, das die philosophische Kritik nicht umfasst.

2. Schwedische Lyrik und Kritik – eine Übersicht.
Nach dieser allzu steilen und kurzgefassten Introduktion in meine Gedanken zur Kritik werden wir jetzt die Perspektive vollständig wechseln. Ich werde versuchen, Ihnen eine Übersicht über die aktuelle Lyrik in Schweden zu geben.
Seit fünf Jahren betreibe ich die poesiekritische Website Örnen och kråkan [Adler und Krähe], die ich im dritten und letzten Teil des Vortrages näher beschreiben werde. Zu meiner Arbeit gehört es, dass ich einen großen Teil aller Lyrikbände kritisch bewerte, die in Schweden erscheinen. Örnen och kråkan fasst jedes Jahr die Lyrikerscheinungen des Vorjahres in einem kritischen Jahrbuch POESIÅRET [Das Lyrikjahr] zusammen. Im letzten Jahrbuch, das in diesem März erschienen ist, werden 150 Gedichtbände von Schwedens wichtigsten Kritikern besprochen.
Es erscheinen jedoch noch weit mehr Bände als die dort besprochenen. Die Gesamtzahl liegt in der Regel bei etwas mehr als 400 pro Jahr. Ein bedeutender Teil davon wird von den Verfassern selbst in sogenannten Hybridverlagen herausgegeben oder indem sie einfach Kontakt zu einer Druckerei aufnehmen und ihre Bücher auf eigene Faust drucken lassen. Zwischen fünfzig und einhundert sind auch in anderen Sprachen als dem Schwedischen verfasst und nicht wenige sind nur dazu gedacht, an den engeren Kreis von Familie und Freunden verteilt zu werden.
Aber Bücher aus Papier sind ja heutzutage nur eines von vielen Medien, in denen Lyrik publiziert wird. In Wirklichkeit hat sich das Schreiben von Gedichten in Schweden zu einer kleineren Volksbewegung entwickelt, etwa so wie einige Jahrzehnte früher das Chorsingen. Überall trifft man auf Personen, die sich als Lyriker präsentieren, die jeden Tag mehrere Stunden damit verbringen, Gedichte zu verfassen, und die in den sozialen Medien oder in eigenen communities im Internet publizieren. Die größte und wichtigste in Schweden heißt
poeter.se. Dort werden jeden Monat über 10.000 neue Texte in den zwei Gedichtkategorien „gebundener“ oder „freier Vers“ publiziert. Man wird ermuntert, die Texte gegenseitig kritisch zu kommentieren, und man kann auch Bücher mit Hilfe dieser Website in Papierform oder elektronisch publizieren.
Auf die Aufmerksamkeits-ökonomischen Implikationen dieser Entwicklung werde ich noch zurückkommen. An dieser Stelle lassen Sie mich nur sagen, dass die digitale Revolution auch im Felde der Poesie die Bedingungen der Öffentlichkeit von Grund auf verändert hat, unter anderem dadurch, dass sich der Unterschied zwischen Amateuren und Professionellen auflöst. Die Distribution ist eines der Felder, auf denen diese Auflösung beinahe total vollzogen ist. In Schweden geben auch die größten Verlage noch immer neue Lyrik heraus. Aber nicht selten verkaufen die Eigenverleger weit mehr Exemplare ihrer Bücher als die großen Verlage. Und weil die sozialen Medien für die öffentliche Aufmerksamkeit immer wichtiger werden, können Lyriker im Selbstverlag auf ebenso viel Aufmerksamkeit rechnen, wie solche, die in Verlagen publizieren. Ja es zeichnet sich schon eine Entwicklung ab, in der der Name des Verlags an Bedeutung verliert, in Gestalt seines Renommées oder seines symbolischen Kapitals. Preise, Stipendien und andere Auszeichnungen werden immer häufiger solchen Lyrikern zugesprochen, die die Publikation ihrer Bücher selbst finanziert haben.
Die lyrische Wertschöpfung, welche Dichter „zählen oder nicht“, wird nicht mehr so stark durch die traditionelle Kritik bestimmt. Als ich vor vielen Jahrzehnten mein Debut hatte, lag mein erstes Buch an demselben Tag in allen schwedischen Städten in den Schaufenstern der Buchhandlungen, an dem auch die lokalen Zeitungen, jede mit ihrem eigenen Kritiker, das Buch rezensierten. Heute existieren weder die Buchhandlungen, noch die Zeitungen. Als ich im letzten Herbst meinen jüngsten Gedichtband Inget är allting försent [Nichts ist immer zu spät] herausgab, erhielt das Buch nur einen Bruchteil der Rezensionen, die mein erstes Buch bekommen hatte. Ob das Buch im Schaufenster auch nur einer einzigen Buchhandlung lag, ist völlig unwichtig, da alle inzwischen nur noch auf die Displays ihrer Smartphone starren, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. Und dabei war mein Buch noch unter den Meistbegünstigten der Lyrikbände dieses Herbstes.
Die einflussreichste Veränderung im Hinblick auf die Rolle der Kritik bei der poetischen Wertschöpfung liegt allerdings nicht darin, dass die Rezensionen in den Zeitungen seltener oder weniger gelesen werden, sondern darin, dass andere Medien – vor allem die sozialen – einen immer größeren Teil der Zeit und des Interesses unserer Mitbürger beanspruchen. Im Hinblick auf die symbolische Bewertung einer Gedichtsammlung werden wir Kritiker ganz einfach von den Amateuren auskonkurriert, die ihre Likes und Dislikes auf Facebook, Instagram und Twitter verstreuen. Eine Entwicklung, die natürlich den Verlagen nicht verborgen geblieben ist. Heute werden alle Lyriker, die für eine Publikation in Frage kommen, befragt, wie viele follower sie haben, ehe der Verlag über eine Publikation entscheidet. Dass ein Autor über eine fan base verfügt ist bei weitem wichtiger für den Erfolg eines Buches, als gute Rezensionen strenger und unabhängiger Kritiker.
In der Redaktion von Örnen och kråkan haben wir dennoch den Ehrgeiz, alle Bücher, die uns zugesandt werden, gründlich zu lesen, unabhängig davon, wer sie eingesandt oder publiziert hat. Wir diskutieren sie alle und wählen auf dieser Grundlage diejenigen aus, denen wir eine
Rezension spendieren. Eine ganz gewöhnliche redaktionelle Bewertung also, die eine Rangordnung nach „Qualität“ vornimmt. Und auf der Grundlage dieser Bewertung werde ich jetzt versuchen, Ihnen einen Überblick über die schwedische Lyriklandschaft zu geben.
In einem so großen Material fällt zuerst die Vielfalt auf. Liest man sie als Teile einer Autorschaft und als poetische Werke aus eigenem Recht, so sind die meisten der 150 Lyrikbände, von denen ich hier ausgehe, gut geschrieben und interessant. Aber soll man nach Art der Literaturhistoriker verallgemeinern und übergreifende Tendenzen unterscheiden, so ist eine traditionelle Form der Lyrik, die von der Alltagserfahrung des Autors ausgeht und in freien Versen verfasst ist, eindeutig in der Überzahl. Oft handelt es sich um Gedichte, die intertextuell an eine geläufige modernistische Tradition anschließen. Ganz gewöhnliche Lyrik also. Aber auch eine solche kann ja mehr oder weniger interessant oder überraschend sein. Zirka 120 der 150 Gedichtsammlungen, die wir im jüngsten Jahrbuch POESIÅRET behandeln, gehören zu dieser Kategorie. Es bleiben dann noch ungefähr 30 Bücher, die auf die eine oder andere Weise hervorstechen und in gewissem Sinn „den Ton angeben“ für jenen kleinen Kreis an „Kennern“ / connaisseurs, die zur schwedischen poetischen Elite gehören, wenn ich mich so ausdrücken darf, jene die Lyrik rezensieren, Preise verleihen, Festivals organisieren und die „wichtigen“ Zeitschriften redigieren.
Ich möchte einige Strömungen aufgreifen, und alle haben sie wie das meiste in unserer Zeit mit der digitalen Revolution zu tun. Hier finden sich viele Terminologien, zu denen man sich ins Verhältnis setzen kann. Ich stelle mir gewöhnlich vor, dass die erste Phase dieser Revolution, die ich einfach „die Digitalisierung“ nenne, etwa bis 2008 reicht; damals kam das erste IPhone auf den Markt und Facebook hatte in Europa seinen Durchbruch. Die Digitalisierung war damit in dem Sinne vollendet, dass wir alle dauernd online waren und in einen neuen Seins-Modus eintraten. Die Zeit nach 2008 nenne ich gewöhnlich „postdigital“. Zwar kommen ununterbrochen weiter neue „Geräte“ und „Applikationen“ heraus, aber die digitalen Aufmerksamkeitsformen hatten sich im Grunde schon dadurch etabliert, dass wir mit unseren digitalen Prothesen, den Smartphones, mit dem Internet zusammen gewachsen waren.
Das digitale Zeitalter war im Großen und Ganzen durch einen Technikenthusiasmus charakterisiert. Im Feld der Lyrik war es die Zeit der großen Archive und der Systeme. In der schwedischen Lyrik, wie auch in vielen anderen Ländern, pflegte man Systemdichtung – auf Schwedisch gelegentlich „Sprach-Materialismus“ genannt – und Konzeptualismus. Im Jahr 2000 fand in Kopenhagen ein sehr einflussreiches Lyrikfestival unter dem Titel „In the making“ statt, das auf breiter Front die Veteranen der amerikanischen language poetry [der 1970er Jahre] re-lancierte: Lyn Hejinian und Charles Bernstein, und das zum ersten Mal ihre Nachfolger präsentierte, Lyriker wie Carolyn Bergvall, Juliana Spahrs, Vanessa Place und Kenneth Goldsmith. Auch Anne Carson war dabei, soweit ich mich erinnere.
Eine ganze Generation junger skandinavischer Lyriker ließ sich davon begeistern, und das folgende Jahrzehnt war in ganz Skandinavien von Lyrikern dominiert, die in ihrem Schreiben von Konzepten und Methoden ausgingen, oftmals eine Lyrik unter dem Vorwand politischer Vorzeichen. Hintergrund war die Diskursanalytische Philosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen. Natürlich Foucault und Deleuze, die beide erst in den Nullerjahren ihren
vollständigen Durchbruch im Grundstudium an den schwedischen Universitäten hatten. Schwedische Poeten haben ja wie Poeten überall auf der Welt häufig ein größeres Interesse an Philosophie, als Lust, die Philosophen, die sie bewundern, ernsthaft zu studieren. Aus dem Abstand von mehr als einem Jahrzehnt kommen einem viele der damals hochgelobten Lyriksammlungen eher kurios vor. Man schuf Poesie aus dem „Verbraucherschutzgesetz“ (Ida Börjel) oder ordnete alle Wörter aus Strindbergs Roman „Das rote Zimmer“ nach dem Alphabet (Pär Thörn).
Schwedische Menschen allgemein und besonders junge Schweden sind meist besonders empfänglich für nordamerikanische Trends. Über die Gründe dafür ist viel spekuliert worden, aber die Tatsache, dass viele Schweden des Englische gut beherrschen, reicht als Erklärung nicht aus, ist doch das Interesse für die englische oder andere englischsprachige Kultur nicht besonders groß. Was Lyrikübersetzungen ins Schwedische angeht, sind jedenfalls nordamerikanische Poeten auf absurde Weise überrepräsentiert.
Als die Alt.Lit.-Bewegung am Übergang zum zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in den USA in Erscheinung trat, gab es daher viele junge Lyriker mit starker Internet-Identifikation, die sie schnell aufgriffen. Die erste Generation, die mit dem Internet aufgewachsen war, war dazu bereit, es mit der Lyrik aufzunehmen. Ich erinnere mich an eine Lesung mit Steve Roggenbuck zu Beginn der 10er Jahre, vielleicht 2012 oder 13 in einem Café in Stockholm. Ich war der einzige über 25 im Lokal, und im Kreis um den amerikanischen Alt.Lit.-Poeten saßen mit leuchtenden Augen die ganze Schar junger Dichter, die heute, beim Übergang ins nächste Jahrzehnt, selbst den Parnass bestiegen haben, obwohl damals noch keiner von ihnen etwas publiziert hatte.
Die Alt.Lit. Poesie ist ausgeprägt postdigital und muss in Bezug auf das neue Repertoire an Aufmerksamkeitsformen verstanden werden, die das Internet und unsere Bildschirmexistenz hervorgerufen haben. Die ganze Ästhetik, die sich um Internetphänomene wie GIFs oder Memes entwickelt hat und die auf Ironie, Einverständnis und Sharing aufbaut, ist von jener Generation poetisch zum Ausdruck gebracht worden. Ein ganzes Subgenre beruht auf dem Effekt, der entsteht, wenn man einen Text zwischen Aufmerksamkeitsformen verschiebt. Als Mira Gonzalez und Tao Lin 2015 ihr Buch Selected tweets veröffentlichten, wurde es sofort von skandinavischen Poeten aufgegriffen. Das Unternehmen beruht auf der Aufmerksamkeitsdifferenz zwischen dem Lesen am Bildschirm und dem auf Papier. Dieselben Texte, in einem Buch auf Papier gelesen, bekommen einen neuen und veränderten Inhalt. Die dänische Lyrikerin Olga Ravn hob diese Idee auf ein neues Niveau, als sie ihren vielen Followern auf Instagram anbot, handgemachte Bücher mit Insta-Gedichten zu kaufen. Das Interesse war enorm.
Dieses Beispiel weist auf eine entscheidende Veränderung hin. Im Postdigitalen hat sich der ganz alltägliche Werkbegriff verändert. Der philologisch begründete Werkbegriff, der z.B. dem Urheberrecht zugrunde liegt, wird im Alltagsleben durch einen Aufmerksamkeits-begründeten ersetzt. Beispielsweise ist eine Beethovensonate, die man auf dem Heimweg von der Arbeit im Kopfhörer hört, während man durch seine sozialen Medien scrollt, für uns alle ein anderes Werk, als dieselbe Sonate, mit voller Konzentration gehört, während sie Live in einem Konzertsaal gespielt wird. Olga Ravns Beispiel zeigt genau das. Das handgemachte Buch ist nicht nur eine andere Form, dasselbe Werk medial zu vermitteln. Es ist ein anderes
Werk – mit Hilfe seiner ganz konkreten Wirkung – für die vielen Fans, die die handgemachten Exemplare kauften.
Während die diskursanalytischen Poeten der Digitalisierung an die „Neue Avantgarde“ und die Popästhetik der 60er Jahre anknüpften, knüpften die Alt.Lit.-Poeten an die New Yorker Schule der 50er Jahre an. Vor allem Frank O’Hara und besonders seine nonchalanten Lunchpoems (1964) wurden in den 10er-Jahren in Schweden unglaublich populär. Genau wie ein Tweet rufen sie eine kurze aber starke Empfindung wach, und hinterher erinnert man sich eher an sein Gefühl als an das Gedicht.
Ganz allgemein hat der Alltag die aktuelle schwedische Lyrik fest im Griff. Während der letzten zehn Jahre sind eine Reihe publizierter Tagebücher zu Bestsellern geworden, und eine neue Generation von Lyrikern spricht ganz ungeniert über ihr Alltagsleben en gros und en detail.
Die gleiche Tendenz, wiederum stark von amerikanischen Trends befördert, zeigt sich auch in der eher politisch und aktivistisch engagierten Poesie. Wo das politische Streben der Digitalisierungs-Poeten von der diskursanalytischen Philosophie und strukturellen Machtkritik und damit ihren Universitätsstudien geprägt wurde, regiert dort die Verwundbarkeit [vulnerability], wie sie unter anderen von Judith Butler und Sara Ahmed vorgedacht wurde. Kürzlich hat die vielleicht wichtigste schwedische Lyrikzeitschrift Lyrikvännen [der Lyrikfreund] passend dazu ein Themenheft über Lyrik und Trauma herausgegeben. Und es ist in der neueren schwedischen Lyrik allgemein üblich geworden, das immer politische, zentrale Zusammenfallen von Individuellem und Allgemeinem, Privatem und Gesellschaftlichem, von oikos und agora in Begriffen von „Wunde“, „Schaden“, „Narbe“ und eben „Trauma“ zu denken. Gedichtsammlung nach Gedichtsammlung besichtigt das eine oder andere Lebensstigma, um daran die politische Ordnung der Kränkungen und Ungerechtigkeiten abzulesen. Die Verletzlichkeit markiert das idem der Identität, das als Okular zur Besichtigung der Gesellschaft dient.
Zum Schluss will ich nur ein paar Worte zur szenischen Poesie und zu spoken word sagen. Zur gleichen Zeit, als die Internet-Poesie mit ihren speziellen Foren zur Volksbewegung wurde, hat auch die szenische Poesie, vielleicht gefördert durch eine erfolgreiche Periode schwedischer Hip-Hop- und Rapmusik, in den letzten Jahren an neuer Relevanz gewonnen. Während der 2000er Jahre haben die ökonomischen Ungleichheiten in Schweden stark zugenommen. Ein Ausdruck dafür ist die rigorose Wohnungssegregation in schwedischen Städten.
Die Vororte, in denen fast ausschließlich Schweden mit ausländischen Wurzeln wohnen, haben in wachsendem Maß eine gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gemeinsame kulturelle Identität geschaffen, die oft kurz und knapp „der Ort“ genannt wird. Künstlerisch findet sie vielleicht vor allem ihren Ausdruck in der Rapmusik, aber sie hat auch eine rein poetische Seite. Es hat sich eine besondere Art von Lyrik entwickelt, die vor einigen Jahren ihren faszinierenden Ausdruck in landesweiten Poetry-Slam-Wettbewerben fand unter dem Titel „Der beste Dichter des Ortes“. Die Wettbewerbe fanden in vielen Städten statt, oft mit mehreren hundert Menschen als Publikum, und zu den Finalen kamen Tausende von Zuhörern. Das ist eine szenische Poesie, deren Ausdruck sich in der unmittelbaren
Verbindung mit dem Publikum formt, die fast immer die kulturelle Identität thematisiert, nicht selten mit hoch entwickelten Ausdrucksmitteln des Raps: Tempo, End- und Binnenreime, elaborierte rhythmische Kadenzen.

3. Die Lyrikrezension in der neuen Öffentlichkeit
Am Ende dieses Vortrages werde ich, ausgehend von meiner eigenen Arbeit in den letzten fünf Jahren, über die ästhetischen, technischen und ökonomischen Möglichkeiten sprechen, in der heutigen Zeit eine professionelle Lyrikkritik in der Form von Lyrikrezensionen zu betreiben.
In den ersten zwanzig Jahren unseres neuen Jahrtausends ist ja mehr und mehr offenbar geworden, dass die digitale Revolution die Voraussetzungen für die Öffentlichkeit fundamental verändert hat. Den Begriff „Öffentlichkeit“ mit seinen eventuellen Vorteilen und Mängeln können wir, wenn Sie wollen, später diskutieren. Hier spreche ich einfach von „Öffentlichkeit“ als jener Ordnung des Austauschs, der Vermittlung und Distribution, die die Gesellschaft im Hinblick auf Information zur Verfügung stellt, und die was die Lyrikkritik betrifft, seit dem 18. Jahrhundert im Wesentlichen aus der Presse bestand.
Ein wichtiger Ausgangspunkt, um die Veränderung zu verstehen und zu beschreiben, ist der Wechsel von einer Informationsökonomie zu einer Aufmerksamkeitsökonomie.
Ökonomie wird ja am einfachsten definiert als die Kunst, mit begrenzten Ressourcen zu haushalten. Mit dem Internet hat die Information definitiv aufgehört, eine begrenzte Ressource zu sein. Im Gegenteil. Wir haben alle viel zu viel davon, sie überflutet uns und wir empfinden oft, dass wir in Information ertrinken. Die begrenzte Ressource in unser aller Leben ist stattdessen die Aufmerksamkeit. Angesichts des enormen und unmittelbar verfügbaren Angebots an Texten, Podds, Filmen usw. auch und gerade auf den Gebieten, für die ich mich tiefergehend interessiere, muss ich ständig mit meiner begrenzten Aufmerksamkeitsressource haushalten.
Nun kann man natürlich einwenden, dass die Menschen zu allen Zeiten ihr Leben in einem Überfluss an Information verbracht haben. Ortega y Gasset hat dies in einem schönen Essay illustriert, der davon handelt, welche Zeichen und Spuren in allen Sinnesmodalitäten ein Wald dem Jäger bietet
In diesem Sinne ist der Informationsüberschuss des Internets vielleicht nicht einzigartig, aber weil er uns mit solcher Kraft und mit einer relativen Plötzlichkeit erreicht hat, hatten wir offenbar Schwierigkeiten damit, unsere Aufmerksamkeitsressourcen an die Möglichkeiten des Netzes anzupassen. In gewissem Sinne handelt es sich natürlich um Gewohnheit und Angleichung. Auch wenn jedes Blatt, jede Ameisenstraße und alle Reste von Losung im Wald dem geübten Jäger Informationen vermitteln, wird er seine Aufmerksamkeitsressource nicht an die Spurensuche verschwenden, wenn er in anderer Sache dort unterwegs ist. Die Tatsache, dass wir in immer höherem Grad gelernt haben, unsere Aufmerksamkeit auch im Netz zu kalibrieren, lässt noch hoffen – für die Lyrik und vielleicht auch für die Lyrikkritik.
Dennoch ist es ein Ausdruck unseres neuen Seinsmodus‘, dass wir als ständig mit dem Netz Verkoppelte jederzeit unmittelbaren Zugang zu äußerst sinnvollen Alternativen haben. Am Bildschirm ist es kinderleicht für jedermann, jederzeit zu einem anderen Text zu wechseln als dem, den ich publiziert habe. Solche Bedingungen gelten für alle Texte und somit auch für Lyrikrezensionen.
Ich habe 2016 das Kritiklabor gestartet, um darin gemeinsam mit Ökonomen, Technikern, Kritikern, Künstlern und Forschern aus verschiedenen Geisteswissenschaften zu versuchen, die Bedingungen und die Möglichkeiten für dasjenige zu verstehen, was wir in Schweden mit einem treffenden Wort als „Tageskritik“ bezeichnen, also jene Art täglicher Rezensionsaktivität aller Kunstarten, die früher vor allem in der Presse ihre Heimat hatte.
Die vielleicht wichtigste Funktion der „täglichen Kritik“ ist es, den Bürgern zu ermöglichen, über solche Kunstwerke zu sprechen und nachzudenken, zu denen sie selbst keinen direkten Zugang hatten.
Kunst und Literatur kann auf mindestens zwei Arten für uns entstehen: Wenn wir selbst im Privaten dem Werk und seiner Wirkung begegnen, wie ich es im ersten Teil dieses Vortrags beschrieben habe, aber Literatur wird auch Literatur für uns, wenn wir im öffentlichen Raum über sie und ausgehend von ihr sprechen. In diesem Sinne ist Literatur natürlich ein wichtiger Teil unserer Gemeinsamkeiten, und in der Vermittlung zwischen diesen beiden verschiedenen Aktualisierungen von Literatur (und aller Kunstwerke) entfaltet die Rezension ihre Wirkung.
Die Rezension macht die private Lesart öffentlich und verschafft auf diese Weise dem Werk eine Wirkung auch bei denen, die es nicht selbst gelesen haben.
Was bedeutet es für eine Gesellschaft und für die Entwicklung der Demokratie, wenn die Ordnung/Regelungen dieser Art von Austausch, Vermittlung und Distribution nicht mehr in größeren Gemeinschaften, sondern nur noch in jenen komplexen Phänomenen stattfindet, die wir inzwischen „communities“ nennen (auch dieser Begriff ist natürlich einer Diskussion wert)?
Ausgehend von solchen Fragen haben wir also das Kritiklabor gestartet. Die Arbeitsweise war „laborativ“ [erforschend] und experimentell. In den Diskussionen mit Ökonomen und Technikforschern habe ich die Methode am Anfang oft als eine Art „Start up –Labor“ beschrieben. Wir haben ganz einfach in der Praxis die Voraussetzungen untersucht und dann verschiedene Modelle von Aktivitäten erprobt, die in irgendeinem Sinne „Tageskritik“ betrieben.
Das „Start up“, dem ich die meiste Zeit gewidmet habe, war die Lyrik-Website Örnen och Kråkan, www.ornenochkrakan.se . Bevor wir sie starteten, haben wir lange an einem Businessplan gearbeitet, bei dem wir die wirtschaftlichen Grundlagen, auf denen das Geschäftsmodell aufbauen sollte, sehr genau untersucht haben. Lange Zeit verbrachten wir mit einer Inventur der Ökonomie von Gedichtrezensionen in der alten Presseöffentlichkeit. Sie erwies sich als wesentlich komplexer, als wir zunächst angenommen hatten.
Lyrikrezensionen hatten nie besonders viele Leser, nicht einmal zur Glanzzeit der großen Zeitungshäuser. Als die größten Zeitungen in Schweden eine Auflage von beinahe einer
halben Million hatten und die alten, mächtigen „Großkritiker“ über die Zukunft eines Gedichtbandes oder gar des Lyrikers selber entscheiden konnten, lag die faktische Anzahl von Lesern ihrer Texte bei höchstens 2.000, oft waren es viel weniger. Sie sprachen mit dem ganzen Gewicht ihrer Zeitung, aber ihr wahres Publikum bestand aus wenigen Promille aller Zeitungsleser. Heute wissen wir genau, wie viele Leser und wie lange Zeit jeder von ihnen jeden einzelnen Text in „der Zeitung“ liest. Vielleicht sind es ein paar weniger, aber doch ungefähr so viele wie damals. Die Autorität der Großkritiker hatte also im Hinblick auf die Anzahl ihrer Leser keine größere materielle Basis als die schikanierten Kritikerjournalisten von heute.
Die Ökonomie der Rezension beruht also nicht auf der Anzahl ihrer Leser, sondern darauf wer sie liest. Ich werde darauf zurückkommen, was wir bei unserem Geschäftsmodell von Örnen och Kråkan aus dieser Einsicht gemacht haben.
Unsere andere fundamentale Einsicht aus der Arbeit am Businessplan war, dass die Rezensenten erstens ordentlich bezahlt werden müssen und dass zweitens ihre Texte eine rigorose redaktionelle Bearbeitung brauchen. In der Konkurrenz ist es absolut notwendig, dass unsere Rezensionen nach den Regeln des kritischen Handwerks die allerbesten sind. Auch wenn man nicht derselben Meinung ist wie der Kritiker, soll man doch unsere Rezensionen immer lesens- und bedenkenswert finden.
Die dritte Einsicht gewannen wir aus einem aufmerksamkeits-ökonomischen Kalkül. Die Tatsache, dass die Leser immer alternative Texte zur Verfügung haben, die oft mindestens so lesenswert sind wie solche, die wir publizieren, sorgt dafür, dass wir unsere Publikationen an das Gefühl ständiger Aufmerksamkeitsknappheit bei unseren Lesern anpassen müssen.
Die ökonomischen Voraussetzungen für unser Unternehmen waren demnach folgende: Lesen gratis, Schreiben angemessen bezahlt und redaktionelle Sorgfalt bei jeder Rezension. Kurz gesagt sah das nach großen Ausgaben bei null Einnahmen aus.
Viele Versuche, Lyrikkritik online zu etablieren, die in verschiedenen Sprachgebieten und Ländern gemacht worden sind, sind genau am Umgang mit dieser Ökonomie gescheitert. Die häufigste Strategie besteht darin, die Ausgaben für Honorare und Redaktion zu senken. Amateurisierung ganz einfach. Andere schließen ihr Projekt an private oder öffentliche Geldgeber an: Universitäten, Verlage oder Stiftungen. Beide Wege sind problematisch. Und alle Versuche der Finanzierung darüber, dass man die Leser bezahlen lässt, sind meines Wissens gescheitert.
Es ist auf Dauer unmöglich, die besten Verfasser ohne Bezahlung zu gewinnen, und die Redaktion ist gerade das, was eine gut begründete Kritik von derjenigen unterscheidet, die jeder Beliebige in einem Blogg oder den anderen sozialen Medien publizieren kann.
Die Legitimität der Kritik bei den Lesern beruht auf ihrer Unparteilichkeit. Redaktionelle Unabhängigkeit ist auch in der neuen Öffentlichkeit ein guter und bewährter Weg, den Leser von ihr zu überzeugen. Daher ist eine einseitige ökonomische Abhängigkeit von staatlichen oder privaten Geldgebern immer problematisch. Die Unterscheidung zwischen Reklame und Kritik, die sich im Internet immer mehr auflöst, muss meiner Meinung nach unbedingt
aufrecht erhalten bleiben, damit die Kritik öffentliche Glaubwürdigkeit besitzt. Niemand will einen gekauften Kritiker lesen.
Im Kritiklabor haben wir in der Form vieler verschiedener „Start ups“ eine Reihe von Finanzierungsmodellen ausprobiert. Angefangen bei drei Stunden Arbeitszeit pro Tag mit Spekulationen an der Börse bis hin zu speziellen Formen von Kritik, die sich mit Gewinn verkaufen ließen, z.B. durch AR-Technik oder als Live-events. Aber bei Örnen och Kråkan entschieden wir uns dafür, es mit einem Update des Geschäftsmodells aus der alten Öffentlichkeit zu versuchen.
Wer hatte die Lyrikrezensionen in der alten Zeitungsöffentlichkeit denn konkret bezahlt? Die Leser waren wie gesagt wenige, das Geld kam also woanders her. Als wir die Sache näher untersuchten, zeigte es sich, dass die Finanzierung im Wesentlichen über die Anzeigen der Buchverlage geschah. Die Kunden der Lyrikrezensionen waren also nicht die Leser der Zeitung sondern die Verlagsindustrie. Und es waren zwei Dinge, für die die Verlage mit ihren Anzeigen bezahlten. Zum einen brauchten ihre geringen Auflagen eine externe Bewertung, eine Rückmeldung, weil sie aus den geringen Verkaufszahlen dieser Bücher nicht auf den Erfolg oder Misserfolg ihrer Publikation schließen konnten. Vor allem aber gewannen die Verlage an Renommé durch die Rezensionen, die sie in monetäres Kapital eintauschen konnten, weil auch Bestsellerautoren ihre Bücher in den am besten renommierten Verlagen herausgeben wollten.
Die Ökonomie der Lyrikrezension in der alten Öffentlichkeit bestand also im Wesentlichen darin, die richtigen Leser, nämlich solche, die für Renommé sorgen konnten, an die Buchverlage zu verkaufen, die ihrerseits dafür bezahlten, indem sie Anzeigen schalteten.
Wie ließ sich dieses Geschäftsmodell entsprechend der Forderungen der neuen postdigitalen Ära reformulieren? Wir entschlossen uns zu einem Versuch und starteten Örnen och Kråkan auf folgende Weise:
Eine Rezension pro Woche im Umfang von 8.000 bis 15.000 Zeichen. Gratis zu lesen und jeden Mittwoch morgen um 7:00 erscheinend, einerseits als Text, aber auch als eingelesene Audiodatei, um es für die Aufmerksamkeitsökonomie des Einzelnen leichter zu machen. Wenn es sich viele zur Gewohnheit machen würden, mittwochs auf dem Weg zur Arbeit die Rezension in ihren Smartphones zu lesen oder zu hören, wäre schon viel gewonnen. Am letzten Mittwoch im Monat wird die Rezension durch einen Podcast ersetzt, der in einer Bibliothek mit Publikum aufgenommen wird und in dem Kritiker und andere Personen aktuelle Lyrik behandeln.
Die Rezension erreicht die Gratis-Abonnenten via Newsletter, dort wird das Buch in 500 Zeichen präsentiert, und ein Link leitet auf die Website weiter. Viele Bibliothekare, aber auch andere begnügen sich damit, nur den Newsletter in vier von fünf Fällen zu lesen, um sich auf dem Laufenden zu halten. Der Text hat daher den Charakter einer vertieften Einleitung.
Als wir starteten, gab es die DSGV-Richtlinie noch nicht. Ein großer Teil unserer anfänglichen Arbeit bestand daher darin, E-Mail-Adressen von Personen zu sammeln, die interessiert sein könnten. Beim Start konnten wir daher unseren Newsletter an gut 12.000 Personen mailen. Die Hälfte davon hat das Abonnement später gekündigt, aber wir haben dennoch ein weit
größeres Publikum für unsere Lyrikrezensionen als jedes andere Medium in Schweden, vielleicht mit Ausnahme des öffentlichen Radios.
Wir arbeiten mit drei Zielgruppen:
1. Die Kenner / Connaisseurs. Eine kleine Gruppe, vielleicht 500 bis 1.000 Personen, die wirklich kompetent und interessiert sind. Es sind die Kenner, die in der Praxis über den Wert und die Zukunft eines Buches entscheiden. Für diese Gruppe müssen wir jede Woche die am besten gemachten und interessantesten Rezensionen präsentieren. Unser ganzes Unternehmen basiert auf ihrem Vertrauen.
2. Die Profis. Personen, die selbst vielleicht nicht besonders Lyrikinteressiert sind, die aber für ihre Arbeit die schwedische Lyrik im Blick behalten müssen. Bibliothekare, Kulturjournalisten, Menschen aus den Verlagen, Forscher und Lehrer an den Universitäten und Gymnasien u.a. Die Gruppe ist wichtig, weil sie unsere Publikationen distribuiert und benutzt, was ihnen einen zusätzlichen Wertschöpfungseffekt verleiht, z.B. wenn sie einen Lyriker einladen wollen oder jemanden für ein Interview suchen oder einfach eine Empfehlung aussprechen wollen.
3. Die interessierte Allgemeinheit. Ein ausdrückliches Ziel von Örnen och Kråkan ist es, die Öffentlichkeit für die Lyrik zu erweitern. In dieser Zielgruppe wollen wir diejenigen erreichen, die vielleicht einmal Kenner werden. Sie sind nur schwer direkt erreichbar, manchmal können soziale Medien ein Weg sein, aber wir haben uns vor allem dafür entschieden, soviel wie möglich mit Bibliotheken zusammenzuarbeiten, die zumindest in Schweden noch immer eine funktionierende literarische Öffentlichkeit darstellen, in der man auch Personen erreichen und gewinnen kann, die noch nicht spezifisch interessiert sind. Wir spielen die Podcasts in den Bibliotheken ein und wir bilden Bibliothekare in der Kunst der Lyrikvermittlung weiter.
Finanziell versucht Örnen och Kråkan es mit Diversifizierung. Jedes Jahr werden alle Rezensionen zusammen mit Überblicksartikeln und einem Register in dem schon erwähnten Jahrbuch POESIÅRET. Ein typisch postdigitales Manöver, bei dem die Texte durch die neue Publikationsform neue Signifikanz gewinnen. Während die Website die Gegenwart adressiert, adressieren dieselben Texte im Jahrbuch die Leser, Forscher und Lyrikarbeiter der Zukunft. Ein Referenzwerk, das sich vor allem an Bibliotheken richtet und das daher abonniert oder im Buchhandel erworben werden kann.
Wir haben zwei Anzeigen, eine auf der Website und eine im Newsletter. Keine andere Publikation ist so treffsicher wie wir, was die Lyrik betrifft.
Schaltet man eine Anzeige für einen neuen Lyrikband bei uns, so erreicht man im Prinzip das ganze potenzielle Publikum.
Wir haben staatliche Kulturförderung beantragt und auch schon erhalten.
Wir „verkaufen“ Workshops, Lektorats-Gutachten, Kurse u.a. zu den Themen Lyrik und Kritik.
Schließlich bitten wir unsere Leser auf der Website um Spenden. Auf diesem Weg erhalten wir im Jahr ca. 4.000 Euro.
Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass wir ökonomisch mit geringem Marginal kalkulieren, aber unsere Kalkulation geht auf und wir können sowohl den Kritikern wie den Redakteuren ein angemessenes Honorar für ihre Arbeit zahlen. Ein interessanter Nebeneffekt ist, dass auch die Lyrikkritik in den Zeitungen wieder höher bewertet wird, seit es Örnen och Kråkan gibt. Das kann ich zwar nicht belegen, aber ich wage zu behaupten, dass die Tatsache, dass wir jede Woche eine wirklich gut gemachte und außerdem angemessen honorierte Rezension publizieren, die nicht selten von denselben Verfassern stammt, deren auch die Zeitungen sich bedienen, die aber bei uns ein gründliches und interessiertes redaktionelles Echo bekommen – dass dies dazu beigetragen hat, dass sich die Zeitungen einen Ruck gegeben haben.
Im Herbst startet, mit der Hilfe des Kritiklabors, eine Gruppe von Kritikern in Norwegen eine Geschwister-Website mit einem vergleichbaren Geschäftsmodell, und sollte es Interesse daran geben, so bin ich überzeugt, dass das Modell bei Ihnen in Deutschland noch bessere Chancen hätte.
Ja dieser Vortrag ist lang geworden und hat vielleicht zu viele Themen angeschlagen. Aber ich hoffe, dass wir im Lauf des Tages, wenn wir darauf zurückkommen, die Möglichkeit haben, zumindest einen Teil von dem, was ich hier nur oberflächlich berührt habe, gemeinsam zu vertiefen.
Vielen Dank.