Offene Akademie: Alexander Estis

Am Anfang war das Wort, aber zuletzt erschien leider das Buch.
  Während die soziale Bedeutung, ja überhaupt Frequenz und Intensität der Buchlektürerapide abnehmen, steigt der Wunsch, Bücher zu produzieren, offenbar weiter an: Etwa die Hälfte aller Deutschen – unter den Männern sogar um rund zehn Prozent mehr möchte ein eigenes Buch schreiben. Derzeit erscheinen in Deutschland an die 200 Bücher pro Tag.
  Nun ist es zweifellos eine zivilisatorische Errungenschaft, dass heute jedermann zu jeder Angelegenheit, und insbesondere natürlich zu seiner eigenen Person, eine Stellungnahme, einen Artikel und sogar ein Buch publizieren kann – zumindest theoretisch; dass sich hingegen jedermann dazu berufen, befähigt und bemüßigt fühlt, ist, so könnte man argwöhnen, ein kultureller Rückschritt.

​  Wie dieser Zustand nämlich anzuzeigen scheint, sind Literatur und Kunst zwar Gemeingut geworden doch nicht in dem Sinne, dass hochwertige Werke und hochkomplexe Konzepte breit rezipiert würden und so zu einer allseitigen kulturellen Bildung beitrügen; vielmehr eignet sich die Mehrheit Kunst an, indem sie sich selbst – vermöge sogenannter Kreativität – zu deren Produktion ermächtigt. Diese Ermächtigung ist offenbar nur um einen hohen Preis zu haben: Wo sich jeder, noch bevor er ein halbwegs passabler Leser geworden ist, gleich zum Autor erkoren sieht, wo jeder sein Privatgekritzel als vortreffliches Sprachwerk betrachtet, wo es also keinen kategorischen Unterschied gibt zwischen Max Frisch und Max Mustermann, dessen Sätze mehr Stilfehler enthalten als Wörter – dort ist jeglicher Begriff von künstlerischer Professionalität und von geistigem Anspruch verloren.

  Mit diesem Verlust ist zugleich auch die Chance vertan, Geschmack, Stil, Witz und gedankliche Schärfe an Vorbildern zu erziehen und zu messen. Der Dilettant, sagt Schiller,verkleinert »das große Ideal nach dem kleinen Durchmesser seiner Fähigkeit, weil er nicht im Stande ist, seine Fähigkeit nach dem großen Maßstab des Ideals zu erweitern.« (Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen)
Er wächst nicht durch Kunst, er wächst nicht an der Kunst, er wächst nicht zur Kunst hin, sondern er schrumpft sich umgekehrt die Kunst selbst zurecht. Er trivialisiert die Kunstformen zu bloßen Ausdrucksformen, er macht das Werk nicht zum Ziel, sondern zum Mittel seiner Selbstentfaltung und vor allem manövriert er sich am Handwerk vorbei zum vermeintlichen Künstlertum empor.

  Schon eine ordentliche Linie ziehen zu lernen kann leicht ein halbes Menschenleben beanspruchen; doch frei von jeglichen Selbstzweifeln behängen alle Möchtegerne der Postmoderne locker achtzig Wandmeter mit ihren genialischen Ölgemälden, kaum dass sie zum ersten Mal Terpentin gerochen haben. Einer populären Theorie zufolge muss man eine Tätigkeit mindestens zehntausend Stunden lang betreiben, um darin etwas wie Meisterschaft zu erzielen. Das mag eine Vorstellung von der Größenordnung vermitteln; es genau zu beziffern ist indessen nicht nötig, um nachzuvollziehen, was niemand so treffend formuliert hat wie der Kulturhistoriker Jakob Burkhardt: Der Dilettantismus, schreibt er, »ist von den Künsten her im Verruf, wo man […] entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muß, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.«

  Doch das Leben an die Sache wenden – das will der Dilettant keinesfalls. Er ist jemand, der – wieder mit Jakob Burkhardt gesprochen – »sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen«. Die Kunst ist ihm ist kein prometheischer Fels mehr, an den der Künstler in der qualvollen Pflicht zur Vervollkommnung gekettet wäre, sondern ein glitzernder Schmuckstein, den er sich selbst an einem Kettchen umhängen kann. Die derart gesundgeschrumpfte künstlerische Lebensform verliert nun in den Augen des Schrumpfers jegliche Exklusivität, jeden Schutzstatus, wird zum Abschuss freigegeben – und so empfindet er keinerlei Unbehagen dabei, sich als Künstler zu betiteln.

  Ich backe mir morgens gern ofenfertige Brötchen auf, bin aber deshalb noch lange kein Bäcker. Auch habe ich ein paar Bücher von Steven Hawking gelesen und etliche Male durchs Teleskop gesehen, ohne mich gleich für einen berufenen Astrophysiker zu halten. Wenn ich drauf und dran bin, den Bus zu verpassen, kann ich erstaunlich schnell rennen, würde allerdings vor einem Olympialäufer nicht unbedingt von meiner inneren Sprinternatur schwadronieren. Dem Künstler aber begegnen alle naselang Menschen, die ihm sofort ungefragt vor ebendiese Nase reiben, sie seien zwar Sachbearbeiter, aber »eigentlich auch Künstler«.

  Zurecht hat Gerhard Falkner konstatiert: »Von allen, die selbst auch schreiben, geht eine große Gefahr aus für alle, die selbst nur schreiben.« (Jammergestalt des Poeten) Diese Gefahr besteht nicht nur in überfluteten Märkten, symbolisch abgewerteten Berufsständen und einer allseits etablierten Schwundstufenkunst, sondern auch in veritabler kulturellerAneignung: Der Dilettant vereinnahmt die artistische Lebensform ohne den Einsatz seiner eigenen Existenz – sowohl in symbolischem wie auch in zeitlichem und wirtschaftlichem Sinn. Für ihn ist »Qual« niemals Bestandteil von »Qualität«. Er will das Werk ohne den Schweiß, den Glanz ohne den Schmerz, den Ruhm ohne die Angst und das Renommee ohne den Rentenausfall.

  Wer hingegen für die Kunst lebt, wer für sie – wie noch immer die Regel finanzielle Stabilität, familiäres Glück, ruhigen Schlaf, psychische und physische Gesundheit, Freizeit,Entspannung und Seelenfrieden zu opfern oder zumindest aufs Spiel zu setzen hat, dem muss die Anmaßung des Künstlertums durch jeden beliebigen Bürger entweder als schlechter Witz oder als maliziöse Provokation erscheinen.

​  Der harmlose, strebsame Amateur wird in dieser Perspektive zu einem Vollstrecker der ubiquitären Trivialtyrannei, während er im Bezug auf die Kunst der tragikomisch Liebende bleibt: Aus der Ferne betet er sie an und wähnt, er empfange von ihr geheime Zeichen der Zuwendung, während er ihr in Wahrheit gleichgültig ist; und wie jeder unglücklich Verliebte kennt er das Objekt seiner Begierde bloß als Phantasma, weiß nicht, wie launisch und treulos, besitzergreifend und eifersüchtig, herrisch und grausam seine Geliebte in Wirklichkeit ist und wie bald er von ihr ließe, wenn sie ihn nur erhörte.

  Immerhin aber ist er – ein Liebender. Ist das nicht schon genug, ist das nicht schon das Wesentliche, ist das nicht schon so gut wie alles? Denn was steckt letztlich hinter all demtosenden Pathos von künstlerischer Professionalität, ideeller Profundität und existenzieller Prekarität? Erweist sich die prometheische Heroik nicht am Schluss als egomane Grandiosität eines Narziss? Überhaupt: Wer bestimmt, was Meisterschaft in der Kunst ist? Und – ich sprach von Max Frisch: War der nicht jahrelang eine Art literarisch dilettierender Architekt, auch wenn er sich schon in der Jugend hatte »Schriftsteller« als Beruf in den Ausweis eintragen lassen? War Kunst nicht einem Großteil der Großen stets nur nebenberufliche Berufung? Läuft die Logik ökonomischer Wertschöpfung nicht derjenigen künstlerischer Weltschöpfung zuwider? Bedeutet Professionalisierung mithin nicht stets auch Prostituierung?

  Mit Schopenhauer gesprochen: »Dilettanten, Dilettanten! so werden die, welche eine Wissenschaft oder Kunst, aus Liebe zu ihr und Freude an ihr, per il loro diletto, treiben, mit Geringschätzung genannt von denen, die sich des Gewinnes halber darauf gelegt haben […].In Wahrheit hingegen ist dem Dilettanten die Sache Zweck, dem Manne vom Fach, als solchem, bloß Mittel; nur der aber wird eine Sache mit ganzem Ernste treiben, dem unmittelbar an ihr gelegen ist und der sich aus Liebe zu ihr damit beschäftigt, sie con amore treibt. Von solchen, und nicht von den Lohndienern, ist stets das Größte ausgegangen.« (Über Gelehrsamkeit und Gelehrte)

  Und in der Tat gilt dies heute womöglich mehr denn je: Den karrieristischen Selbstvermarktungsartisten der Kulturbranche scheint das Werk nurmehr Beiwerk zu sein – kaum mehr als ein Nebenprodukt der Bewerbung, Mittelbeschaffung, Absatzsteigerung und Netzwerkerweiterung. Nicht ganz unberechtigt wäre wohl die Frage, ob diese Egomanager nicht die eigentlichen Dilettanten unserer Zeit sind, womöglich unfreiwillig avanciert zu Profis in der Promotion, aber Amateuren in der Produktion.

  Und so ist die prekäre Existenzform des Künstlers von zwei Seiten durch Dilettantismus bedroht, von innen wie von außen, von kunstfernen Aneignern wie von angeeigneter Kunstferne. Dagegen kann einzig die Überzeugung helfen, dass Kunst nichts anderes ist als: die schönste Hauptsache der Welt.

Alexander Estis

Dieser Aufsatz erschien zuerst in gekürzter Form in der FAZ vom 3.2.2024