Die Welt als Irrtum und Glaubenslandschaft

Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung, Ruhe und Gestalt und Inhalt: Ohne diese Glaubensartikel hielte es keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.

Friedrich Nietzsche, aus: Die fröhliche Wissenschaft

 

In seiner Schrift Anthropozän entwirft Daniel Falb eine Poetik des gleichnamigen Erdzeitalters, entwickelt sie in gewisser Weise weiter in dem Aufsatz Poetik für Anthropozän Institutionen in der Zeitschrift edit.  Sublime Gedankengebilde, in die Niederungen der Lebenswirklichkeit gezogen, erleiden Verzerrung und Vulgarisierung – nicht nur durch die Rezipienten, sondern ein Stück weit auch durch ihre Urheber selbst.

Michael Braun in seiner monatlichen Kolumne im Signaturen-Magazin schreibt über Falbs Aufsatz: „Der Lyriker und Philosoph Daniel Falb hat geschafft, was seit einem halben Jahrhundert keinem Kollegen aus der Zunft der Dichter mehr gelungen ist: Er hat die Welt der Lyrik auf den Kopf gestellt. Er hat sie in eine Tabula rasa-Situation versetzt und ihr ein radikales Reinigungs- und Reanimationsprogramm verordnet.“ Vor dem faustischen Falb steht der Literaturkritiker Braun – ich weiß nicht recht, in welcher Rolle. Von der einen Seite sieht er aus wie Mephisto, der seinem Faust schalkhaft in die Augen blickt. Von der anderen wie einer jener Grüß-Gott-Onkel, die kreuz und quer durchs Land ziehen, stets auf den Lippen ein Hoch auf das Neueste.

Freilich gibt es für jeden Text verschiedene Lesarten. Nach meiner Auffassung hat Daniel Falb die „Welt der Lyrik“ nicht auf den Kopf gestellt. Er hat sie nicht in eine Tabula rasa-Situation versetzt und ihr schon gar nicht ein radikales Reinigungs- und Reanimationsprogramm aufgedrückt, vielmehr – dies allerdings apodiktisch – „der“ Dichtung für das neue, werdende Erdzeitalter ein Anpassungsprogramm verordnet, eine Wendung hin zu wissenschaftlicher, zu quantifizierender Denk- und Sprechweise, also hin zu einer Spezialsprache, die mit anderen Spezialsprachen gleicher Basis auf Augenhöhe in Kommunikation treten kann und soll. Die herkömmlichen Formen und Mittel der Dichtung seien der neuen Situation unangemessen, meint Falb. Ich werde einige Punkte seiner Theorie hervorheben, die mir fragwürdig erscheinen.

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Der Begriff Anthropozän als Name eines neuen Erdzeitalters, das das bisherige Holozän ablöse, fasst nach Ansicht einer Arbeitsgruppe der Internationalen Geologischen Gesellschaft (IUGS) ein geologisch noch nicht erkenn- und messbares Stratum der Erdoberfläche. Es ist das Zeitalter, in dem so gut wie nichts mehr im geschlossenen System Planet Erde (Falb zitiert die Metapher „Raumschiff Erde“) unberührt und unverändert von/durch menschliche Aktivität abläuft, in dem die Menschheit eine geologisch global wirksame Kraft geworden ist. Über den Begriff und seine Anwendbarkeit wird in der IUGS seit Jahren diskutiert. Einen offiziellen Konsens gibt es bisher nicht.

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„Ein gutes Anthropozän wäre ein Holozän-Museum. – Ziel der Anthropozän Governance ist es, die ökologischen Katastrophen des frühen Anthropozäns einzudämmen und auf lange Sicht dem Anthropozän das Gepräge eines artifiziellen Holozäns zu geben, eines Holozäns, dessen Biosphäre inklusive Homo sapiens und seiner Aktivitäten man vermittels intensiven Monitorings und der praktisch vollständigen epistemischen Durchdringung des Erdsystems so reguliert, dass sie nicht aufhören wird, ungefähr so auszusehen und zu funktionieren, wie in den letzten 13.000 Jahren.“

In Falbs Vision, hier auf den Punkt gebracht, soll also die bisher unzureichende, durch kurzsichtige Partikularinteressen zu katastrophischen Ereignissen führende, Beherrschung der Natur durch eine umfassende, dem Wohl der Erde und ihrer Bewohner dienende, vollständige Kontrolle und Steuerung, also einer totalen Beherrschung der Natur ersetzt werden. „Das Internet der Dinge mit seinen zukünftig Milliarden Rezeptoren und Affektoren in der terrestrischen Biosphäre, ist der ‚Bordcomputer‘ von Fullers ‚Raumschiff Erde‘. Das aber, die Erkenntnis, dass die Materialität des Internets mit der Materialität der ganzen Erde konvergiert, ist die Zukunft der Dichtung Post-Internet.“ Der kaltschweißige Dunst des Totalitären umwittert das Ganze. Jeder irgendwie beabsichtigten, geplanten oder zu steuernden Zukunft werden Opfer gebracht, und seien es bloß die bisherigen literarischen Mittel sowie deren erlernte Beherrschung, ja sogar die Ästhetik, nicht nur die bisherige, sondern Ästhetik überhaupt. Geopfert wird das, was Literatur ausmacht: denn Dichtung (im – nach Falb – voranthropozänen Sinn) ist keine Spezialsprache. Sie ist die allgemeine Sprache der Menschen (in ihrer jeweiligen Mutter- oder angenommenen Sprache), in der sie – als Individuen auf je individuelle Weise – von ihren Erfahrungen, Hoffnungen, Wünschen und Träumen sprechen, von ihrem Denken und Fühlen in Erleben, Erinnerung und Fantasie, Dichtung ist das, worin sie auch festhalten und weitergeben, was heute Gelächter hervorruft, was man jedoch früher Weisheit nannte, was Menschen in ausweglos scheinenden Situationen am Leben erhält und vor der Verzweiflung bewahrt.

Und diesem Ziel totaler Regulierung des Systems Erde dienen soll auch die Anthropozänlyrik, denn herrschen heißt dienen. Dazu muss sie sich befreien von der „trivialen“ Einzelerfahrung, vom sogenannt „Menschlichen“, „muss“ (dieses MUSS kommt häufig vor in Falbs Text Anthropozän, wird später in seinem Aufsatz in edit gemildert zur Aufforderung), muss sie sich das Quantifizieren des wissenschaftlichen Denkens aneignen. Und der Zweck der Übung? Aus einem bestimmten Blickwinkel könnte man sagen: Herrschaftsteilhabe durch Aneignung von Herrschaftswissen und der erforderlichen Methodologie, Teilhabe am steuernden (womöglich „herrschaftsfreien“) Diskurs und an der Deutungshoheit. Denn „die entscheidenden ökologischen Prozesse finden heute in aktivistischen Umweltgruppen, kapitalistischen Unternehmen, Branchenverbänden und Lobbygruppen, regionalen und nationalen Parlamenten sowie im institutionellen Regime der UN-Klima- und Umweltabkommen statt.“

Die anderen, nunmehr obsoleten, die Dichterinnen und Dichter alten Schlages, werden zu den Verlierern gehören, denen, die außerhalb des „eigentlichen ökologischen Geschehens“ stehen. Sie werden abgeschieden, werden absinken zu den Verliererklassen, die die Drecksarbeit machen in einem uneigentlichen, quasi nicht-existierenden „Da-draußen“, und in Falbs Schriften nur beiläufig erwähnt werden. Die Anthropozändichtung wird dann in der Entscheider-Community, unter den weltlenkenden Akteuren der Noosphäre, mit ihrem postkonzeptuellen, institutionskritischen Glasperlenspiel Erkenntnis auslösen.

Vermutlich wird Falb diese Einordnung als veraltet zurückweisen. Zentraler Begriff in seinem edit-Artikel ist Geomacht, er subsumiert und begräbt frühere Differenzierungen. „Geomacht benennt eine neue, nicht mehr nationalstaatlich, sondern planetarisch verfasste Machtkonfiguration: Positiv (…) die Macht, durch eine ins Geologische gesteigerte Performativität kollektiver Wissenspraxen historisch beispiellose Wohlstandsgewinne (= ökologischer Fußabdruck pro Kopf) für eine Weltbevölkerung von nie gekannter Größe zu erzielen.“ Negativ „ist Geomacht die Macht, die anfallenden Kosten (…) der Verformung des Erdsystems ungleich und unfair in der Weltbevölkerung (und der Welt der Lebewesen insgesamt) zu verteilen.“ Da gibt es nicht nur Gewinner und Verlierer, sondern auch Täter und Opfer. Täter sind solche, die Geomacht ausüben, die einen ökologischen Fußabdruck haben, „der größer ist als der Weltdurchschnitt, oder wer einen Lifestyle hat, der hochgerechnet 2.5, 3 oder 5 Grad Klimaerwärmung zur Folge hat.“ Damit rangiert hierzulande als Täterin und Geomachtausübende auch noch die Hartz IV-Empfängerin. So kann man es auch sehen. „Dieser ganze Impuls für institutionskritische Dichtung läuft also wahrscheinlich auf eine Poesie statistischer Täter*innen hinaus. Wäre aber auch OK. Ihr und mein Privileg ist OK, is‘ halt erst mal so, es muss bloß überwunden werden.“ Was dann an Vorschlägen erscheint, bewegt sich im Umkreis der eigenen Branche, also dem Literaturbetrieb, dafür aber weltweit, und trägt nicht unbedingt zur Verkleinerung ökologischer Fußabdrücke bei.

Ich weiß nicht, worüber ich mehr staune: über die weiten, kenntnisreichen, fein durchdachten und tief verwobenen, durchaus faszinierenden Gedankengänge – oder über Falbs unerschütterlichen Glauben an die „explosive und unwiderstehliche Wirkkraft von Wissensproduktion“ und seinen Mangel an Menschenkenntnis. Seine Vision erscheint mir illusionär, zu geradlinig, politisch naiv. Und irgendwie ziemlich deutsch. Die Möglichkeit der Zerstörung der globalisierten Zivilisation durch mehrere gleichzeitig eintreffende katastrophale Ereignisse, wodurch die verbleibenden Menschen Mühe hätten, sich halbwegs regional- oder nationalstaatlich zu organisieren, das Anthropozän also schon nach kurzer Zeit im finalen Abklingbecken endete, hat Daniel Falb offenbar nicht auf dem Schirm. (Nur zur Illustration: Das Niveau quasi-industrieller, serieller Produktion von Gebrauchsgütern wie Teller, Schüsseln, Ziegel etc. im Weströmischen Reich vor dessen Niedergang wurde in Mitteleuropa erst wieder im 14. Jahrhundert erreicht.)

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Die visionären Gesellschaften der „Zukunft“, sie seien klassenlos oder völkisch oder sonst wie einmütig auf ein Ziel gerichtet, führten und führen das Erschreckende mit sich: Sie nehmen ihren Ausgang im Traum z.B. von Gleichheit, von Gerechtigkeit, einer komplett gesteuerten und gut gemanagten Biosphäre, kurz: in guten Wünschen und besten Absichten, sie opfern die Gegenwart einer Zukunft (auch wenn ihr Ziel die Schaffung einer unter musealen Bedingungen ihrem natürlichen Ende zulaufenden Gegenwart ist), sie wollen Gesellschaft und/oder Natur „machen“, und die dann in der Folge meistgebrauchten Worte sind und werden sein: Säuberung, Korrektur und Reinheit. Immer ging und geht es hier um das Entweder-oder, wobei das Sowohl-als-auch gnadenlos in die Tonne getreten wurde und wird. Wer totale Lösungen propagiert, sie mit historischen, politischen oder sonstigen „Notwendigkeiten“ rechtfertigt, schreckt vor Kollateralschäden nicht zurück. Wer neue Quellen als die einzig ausschöpfbaren anpreist, verschüttet andere, die vielleicht noch lange nicht versiegt wären.

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Das unsichtbare Anthropozän. „Das Anthropozän ist ein technowissenschaftlich erzeugtes Objekt, das sich jeder direkten Sichtbarkeit entzieht.“ „Schon die allererste Anthropozänpublikation (…) verweist auf unsichtbare Dinge wie die globale demographische Entwicklung, die Konzentrationsveränderungen von Substanzen in der Atmosphäre, den humaninduzierten Materialumsatz in Relation zu den übrigen terrestrischen Materialbewegungen und die Extinktionsraten von nichtmenschlicher Spezies.“ Auch das „ikonische Bild des Anthropozäns“, der exponentielle Graph, sei etwas, das in der materiellen Wirklichkeit unsichtbar sei.

Das ist keine besondere Entdeckung, denn jede Theorie und jede Messung bzw. Quantifizierung ist in der materiellen Wirklichkeit unsichtbar. Dadurch verschwindet diese Wirklichkeit freilich nicht, auch wird ihre „Handfestigkeit“ durch die genannten unsichtbaren Dinge nicht vermindert. Zunehmender Smog ist eine recht gut wahrnehmbare, sogar sichtbare Sache, Dürren, Feuersbrünste, Sandstürme, schmelzende Gletscher, Überflutungen auch. Zum Anthropozän werden diese Erscheinungen, grob gesagt, wenn man sie quantifiziert, analysiert und die Ergebnisse in einen wissenschaftlichen Zusammenhang bringt, der Entscheidungen ermöglichen soll.

Interessant ist Falbs Folgerung hinsichtlich der Dichtung: Da das Anthropozän „sich jeder Sichtbarkeit entzieht“, „muss“ Anthropozändichtung „‚konzeptuelle‘ Dichtung sein in dem Sinne, dass sie die Datentopologien, Territorien des Wissens und konzeptuellen Räume als ihr eigenes Habitat anzunehmen lernt, in denen allein Anthropozän als Objekt entsteht und erscheint.“ Warum „muss“? Es darf gefragt und bezweifelt werden.

Auch die Frage der Ästhetik wird im Handstreich erledigt: „Wenn Unsichtbares keine Ästhetik hat, und wenn das Anthropozän unsichtbar ist, dann hat das Anthropozän keine Ästhetik.“ Was ist dann mit Musik? Obwohl unsichtbar, hat sie nicht unbestreitbar eine Ästhetik? Oder ist Falb Synästhetiker und sieht Farben, wenn er Musik hört? Der Physiker Carlo Rovelli denkt über Poesie und das Unsichtbare anders als Falb: „Eine tief verankerte Wurzel der Naturwissenschaften ist wohl die Poesie, die über das Sichtbare hinauszublicken weiß.“ (Die Ordnung der Zeit)

Falb kultiviert seine Vorliebe für konzeptuelle Kunst, ihre Absage an jede Art Ästhetik und an die „handwerkliche“ Seite der Kunst, sieht in ihr eine der Vorstufen der Anthropozändichtung und bildet eine ganze Genealogie aus verschiedenen Strömungen in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts. Die Fragwürdigkeit solcher Ab- und Herkünfte, der Hinführung zu einer schon vorher getroffenen Entscheidung oder bestehenden Fixierung außer acht lassend, sei hier angemerkt: Natürlich haben auch solche non-ästhetischen Produkte eine Ästhetik, und zu ihrer Herstellung sind bestimmte Fertigkeiten nötig. „Für das postkonzeptuelle institutionskritische Gedicht ist es die einfachste Sache der Welt, sich Organigramme anzusehen, Biografien und Stoßrichtung von Schlüsselakteur*innen zu recherchieren, Satzungen und Dokumente zu lesen, Finanzierungsstrukturen zu durchblicken (Geschäftsmodelle verstehen, Steuererklärungen prüfen, Jahresberichte durchgehen usw.), Programme und sonstigen Output zu analysieren, Diversitätsindices zu betrachten…“

Solche Daten aufgreifen und sie lesend „verstehen“ ist das Eine. Das kann sich jeder mehr oder weniger gut aneignen. Datenkomplexe in ihrer ganzen Tiefe zu interpretieren bedarf es oft jahrelanger spezieller Erfahrung und einem entsprechend geschulten Urteilsvermögen, das lernt man nicht so im Vorbeigehen. Kein Mensch kann alles. Die Anthropozändichter werden also solche Datenbüschel aufgreifen und in dieser oder jener Weise zusammenstellen. Dabei werden sie, aufgrund der fehlenden Kenntnistiefe, mehr oder weniger dilettantische Ergebnisse liefern. Aber das zählt wohl nicht weiter; was zählt, ist die Produzenten und Rezipienten gemeinsame und vertraut gewordene Sprache. Da versteht man sich schon irgendwie. Man kann immerhin sich und vor allem anderen (Literaturhäusern, internationalen Literaturfestivals etc.) institutionskritisch vorrechnen, wie groß ihr ökologischer Fußabdruck ist (anstatt den eigenen konsequent und nicht nur symbolisch zu verkleinern). Man kann auch „an Orte gehen, an denen die eigentliche Ökologie stattfindet; der Ort der Verurteilung einiger Täter_innen wäre ein guter Anfang.“ Fortschritt oder Rückfall in alte Verhaltensmuster?

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Ein Wort zu der Forderung: Quantifizieren lernen. „Ohne Quantitäten geht im Anthropozän gar nichts. ‚Mathematische Illiterarizität‘ heißt im Anthropozän, dass man überhaupt nichts lesen kann. Wie man Quantentheorie nicht mit bloßem Auge und mathematiklos betreiben kann, so auch keine Anthropozäntheorie, und so auch keine Dichtung, in der ihre eigene Gegenwart vorkommt.“ Was in den Naturwissenschaften (und begrenzt auch in anderen) unerlässlich ist, ist in nicht- und pseudowissenschaftlichen Zusammenhängen eine höchst zweifelhafte Sache. Für dieses Problem hätte ich Falb mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Wenn sich zwei Ingenieure darüber unterhalten, wie man die täglich mögliche Menge der Verarbeitung von Einheiten in den Verbrennungsöfen von Auschwitz steigern könnte… Hier wird wohl etwas erkennbar, ohne dass ich es weiter ausführe. Das quantifizierende Denken – ebenso wie das binäre – ist an Verfall und Auslöschung von Ethik und Moral in gewissen geschichtlichen Perioden (unsere nicht ausgeschlossen) nicht unbeteiligt. Da es vor allem auf das Quantum gerichtet ist und davon absehen kann, was quantifiziert wird, ermöglicht es, Empathie, Ethik, Moral völlig auszublenden. „Völkisch unwertes Material“,  „Klassenfeinde“ werden vernichtet, ermordet, Bevölkerungen werden vertrieben, das alles kann man verdrängen, wenn man nur von logistischen Herausforderungen, von Effizienz, von Kapazitätsauslastung spricht. Auch die Vernichtung von Leben, die das Nazi-Regime, die Stalin-Diktatur, die „große“ Kulturrevolution in China auslösten und verwirklichten, kann man in (exponentiellen) Graphen darstellen. Aber alles Quantifizieren kann nicht die Bosheit und Niedertracht, die z.B. die Nazis an ihren Opfern austobten, so vor Augen bringen wie etwa die minuziösen Aufzeichnungen Primo Levis in Ist das ein Mensch?.

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Kunst und Wissenschaften entwickeln sich nicht konform. Die Wissenschaften entwickeln sich (von Teilen der Grundlagenforschung abgesehen) entlang von Notwendigkeiten, bestimmten Fragestellungen, Bedürfnissen. Sie schaffen Instrumente, deren Anwendung unter definierten Bedingungen zu reproduzierbaren Ergebnissen führen soll. Die Kunst verneint solche Zweckbestimmung, sie beansprucht Freiheit von Zwecken und Zielen. Das für mich schönste Bild der Entwicklung der Kunst finde ich in der 4. Geschichte des 11. Kapitels des Zhuangzi, in der Gestalt des Hong Meng, der auf die Bitte um Unterweisung antwortet: „Ich treibe umher, ohne zu wissen, was ich suche; sorglos und unbekümmert bin ich, ohne von Zielen zu wissen; ich streife ungezwungen umher und schaue, ohne mich in etwas zu versteigen; was sollte ich also wissen?“ (Übersetzung von Viktor Kalinke) So frei ist sie bei weitem nicht immer. Oft wurde und wird sie zweckbestimmt eingesetzt, von Herrschenden unterworfen, gemaßregelt oder durch Selbstzensur der Künstler beschnitten.

Warum hat Daniel Falb nicht gesagt: Ich mache einen Vorschlag für die Dichtung eines neuen Zeitalters? Dann hätte man schauen können, ob und wie sich dieser Vorschlag durchsetzt. Eine zündende Idee, deren Zeit gekommen ist, setzt sich durch, egal wie gut oder schlecht sie begründet wird. Und vielleicht stürmen ja tatsächlich alle los, wird die Anthropozändichtung Falbs die Dichtung der Zukunft.

Hermann Lenz, sagte einmal (sinngemäß), als alle losstürmten: Manchmal kommt man am weitesten, wenn man einfach stehenbleibt. Doch bin ich nicht gegen Veränderung. Die großen Umwälzungen in der Kunst kommen, wenn sie kommen. Das wirklich Neue kommt selten genug. Pasolini war übrigens der Überzeugung, dass der Trieb zur permanenten Zerstörung von Traditionen – zur permanenten Umwälzung und Erschütterung aller Verhältnisse – der kapitalistischen Ökonomie immanent sei und man dem entgegentreten müsse und erklärte die Liebe zur Tradition zu einer Kraftquelle gesellschaftlicher Veränderung (so wie die Saatgut- und Genbanken nicht nur zur Konservierung bedrohter oder bereits ausgelöschter Wild-und Kulturpflanzen und deren Sorten dienen, sondern auch als Ressource zur Auffindung züchtungsrelevanter Gene):

Io sono una forza del Passato.
Solo nella tradizione è il mio amore.
Vengo dai ruderi, dalle chiese,
dalle pale d’altare, dai borghi
abbandonati sugli Appennini o le Prealpi,
dove sono vissuti i fratelli.

E io, feto adulto, mi aggiro
più moderno di ogni moderno
a cercare fratelli che non sono più.

Ich bin eine Kraft des Vergangenen.
Nur in der Tradition lebt meine Liebe.
Ich komme aus den Ruinen, den Kirchen,
den Altarbildern, den verlassenen
Weilern im Appenin und den Voralpen,
wo die Brüder einst lebten.

Und ich, erwachsener Fötus, streife umher,
moderner als jeder Moderne,
und suche Brüder, die nicht mehr sind.

Aber vielleicht irre ich mich. Es ist nicht unwahrscheinlich. Ja, ganz sicher irre ich mich. Daher verlasse ich die Halle durch diese Seitentür („stiller als Wasser, niedriger als Gras“), gehe hinaus ins Freie und schaue den Schwalben zu, die über den Wiesen jagen, mit ihren Flügeln den blühenden Kerbel streifen.

Klaus Anders

 

Daniel Falb – Anthropozän; Dichtung in der Gegenwartsgeologie. Edition Poeticon Band 9, Berlin 2015