Quisquilien zur Erfreulichkeit lyrischer Marginalität

manches Gedicht, das ein komplexes Gewebe spinnen will, verheddert sich in Kapriziösem, manches Gedicht, das schlicht ergreifen will, bedrückt und schiebt einen vor sich her mit banalen oder oder zu gewichteten Sätzen. insgesamt ergibt das eine Vielzahl von verunglückten oder unerquicklichen Gedichten in der Welt, wobei es allzu natürlich ist, dass bei etwas so Subjektivem oder wahlweise auch Ausdifferenziertem wie dem Gedicht ein zu einem ausdifferenzierten Subjekt Gewachsenes wie der Leser, die Leserin – sehr wählerisch und empfindlich reagiert. und mancher wird eine Zeile kapriziös erscheinen, die einem anderen banal anmutet – was aber nach der Lektüre bleibt, verdankt sich oft nebensächlichen Umständen.

warum diese, ja umständliche, aber allzu vertraut wirkende Vorrede? nun, sie stellt eine erste einkreisende Reaktion dar auf die Lektüre einiger Gedichte des Büchleins von Julia Grinberg, das in dem kleinen gutleut-Verlag veröffentlicht worden ist unter dem Titel „kill-your-darlinge“. eine etwas eigenartig erste Reflexion, die einem ambivalenten Gefühl entspringt, das sie zugleich womöglich kaschieren will: ich war nämlich zunächst von den Gedichten Grinbergs bewegt überrascht – und scheute mich doch, sie „gute Gedichte“ zu nennen. das wirft einige Fragen auf. Grinbergs fast greifbar erlebnishafte (und doch nicht erzählerische) Gedichte der ersten Hälfte des Buchs schaffen es souverän und zugleich bescheiden, die benannte Kapriziösität als auch jede Einfältigkeit gerade zu vermeiden. Alltägliches wie auch Rätselhaftes taucht dennoch auf, aber in einer großen Selbstverständlichkeit. es ist angenehm, Gedichte zu lesen, bei denen man annehmen muss, dass sie einer konturierten Persönlichkeit entspringen, die sich um solche Fragen der Außenwirkung und Posen nicht allzu schert. zwar werden munter Metaphern oder Bilder generiert, die Gedichte aber bleiben unprätentiös … ja, während man sonst schon mal bei sehr ambitionierter Prosa von lyrischer Prosa redet, um es sich leicht zu machen, könnte man hier von prosaischen Momenten in der Lyrik reden. prosaisch, weil es kleine Momente betrifft, in denen zwar Poetisches aufblitzt, die aber wirken, als kämen sie aus einem Fließkontext, in den sie nicht recht hineinpassen, oder aus dem sie rausstehen. als vermöchten sie es nicht, größere Kontexte einzuklagen oder weitere Verbindungen zu knüpfen. so wie es uns eben mit tausend kleinen Ahnungen, Erfahrungen, Impressionen und Momenten im Leben geht, die doch irgendwie aufbewahrt werden wollen, derer wir gedenken und die wir reflektieren wollen. kurzum: die Gedichte werfen für mich, in einer im Band selbst nur von fern anklingenden Metaebene, die Frage nach der uns so bestimmenden, alles durchsetzenden Marginalität auf. also was soll da überhaupt dieser entsetzlich wertende, sortierende Begriff „gute Gedichte“? sind das überhaupt Gegensätze?

oder zögere ich sie „gute Gedichte“ zu nennen, weil mir der Akzent dabei auf „Gedichte“ liegt? wegen dieses prosaischen Flusses („nicht portionieren“ S.21), dem sie entnommen scheinen und der doch keine Epik zu entwerfen vermag? oder eben auch, weil diese so unaufgeregt die versprengten Momente eines Daseins protokollierenden Notate gar nicht „gut“ sein wollen, weil sie es nicht auf Applaus des Betriebs anlegen, nicht um jeden Preis Kunst sein wollen („keinesfalls an der polyvalenz feilen“, ebd.) und es doch scheint, dass sie es vermöchten, wenn ihnen gerade danach wäre – und ist: vor allem gegen Ende des Bands wird es dann immer gefügter und ineinander verstrebter, wilde und durchaus auch „polyvalente“ Metaphern schlagen Volten, ohne das Protokollarisch-Momenthafte ganz zu sprengen. 

was mich aber an ihnen interessiert, ist etwas, das sie vielleicht gar nicht beabsichtigen. etwas, das sie (gerade zu Beginn) echt macht, erlebnisnahe, und ihnen doch die Frage nach der Relevanz aufwirft und das schwer zu benennen ist (sind es die plötzlich auftauchenden Konkretionen eines anderen Lebens, das lapidare Erscheinen von subjektiver Perspektive in einer Art lyrischem »Kauderwelsch«?). wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass die Gedichte bei einem kleinen Verlag erschienen sind und so kaum rezensiert und gelesen werden, nur von Liebhaberinnen beachtet? und ist das nun eine Stärke (weil sie dessen leicht inne sind, worum andere, viel Bekanntere so viel Aufhebens machen: Abgeschiedenheit, Authentizität, Eigenwilligkeit) – oder eine Schwäche (Irrelevanz für Andere, Flüchtigkeit, allzu ephemere Themen…). was bedeutet Authentizität denn überhaupt, ist sie nur im Schatten der großen Ereignisse und Gestalten noch denkbar? das wäre ein fast mystisches Verständnis von Authentizität, dem gerade der kernige Hansdampf des Beifalls, der volkstümliche Haudrauf einer neuen Bewegung oder auch der gefeierte skurille Kauz alleserklärender Intellektualität nicht authentisch wäre (sind das womöglich gekillte Darlinge?), ja dem überhaupt alles sich zu stark Entäußernde dieses Privileg des echt zu Erlebenden verlöre. ist etwa nicht nur der Begriff der Relevanz – nicht von Relevanz, sondern, mehr noch: zerstört (öffentliche) Relevanz mitunter (persönliche) Relevanz?

ich will diese Fragen nicht entscheiden, zu denen mich die Gedichte geführt haben, obwohl sie selbst ganz andere Dinge verhandeln, von denen ich hier nun eigentlich nichts berichtet habe. immerhin mag das anregen, sie selbst zu lesen. mir ist eigenartig wenig hängen geblieben nach der Lektüre, dafür spukte aber in mir ein geisterhaftes (weil unkonkretes) Suchen, das, paradox, mit einem haptisch anmutenden Gefühl von Bodenständigkeit einherging, oder, anders gesagt, es lag etwas „in der luft wie ziegel“ (S.55). und dem wollte ich mit diesen verstreuten Gedanken ein wenig hinterher, eben nach-denken.
vermutlich wird, wer dann in „kill-your-darlinge“ liest, etwas ganz anderes finden. er sei auf meinen Eingang verwiesen und mag sich zu meinem Fortgang ein Buch imaginieren, das diesem zur Grundlage hätte dienen können. auf so einen Band wäre ich ebenso gespannt, wie ich es immer noch auf die Gedichte Grinbergs bin, die ich nun wieder zur Hand nehme.

Hendrik Jackson