I
„Ich glaube nicht mehr ans Gedicht.“ Vielleicht kann man eine Kritik der Lyrikkritik nur mit einer Negation und einem Fundamentalzweifel beginnen.
„Ich glaube nicht mehr ans Gedicht“. Wie nun? Kann ich mir eine solche Diagnose als Kritiker überhaupt leisten – eine Delegitimierung der Gattung führte doch letztlich zur Austrocknung meiner Verdienstquellen. Haben wir also richtig gehört? „Ich glaube nicht mehr ans Gedicht.“ Ist das nun Confessio oder Koketterie? Die zitierte Diagnose stammt aus einem Gedicht von Uwe Kolbe, das sich sehr elegant aus der Negation herausbewegt, um sich schließlich in eine formal ambitionierte Eloge auf die Gattung zu verwandeln. In der ersten Strophe dominiert aber noch die Motorik der Negation:
Ich glaube nicht mehr ans Gedicht.
Ich glaube an Geld und Gericht,
Anwälte, Juristen, an die Macht,
abstrakte Institutionen, aber an dich,
Gedicht, glaube ich nicht.
Wir sind, wie der Vers Kolbes besagt, in einer Sphäre, in der Fragen der Transzendenz eine Rolle spielen, des Glaubens, der Confessiones, die in einer lyrischen Sprachgestalt vorgetragen werden. Und auch wenn Kolbe vorgibt, ein ungläubiger Thomas zu sein, verlässt er ja nie den Modus des poetischen Sprechens, hält er in einer paradoxen Volte am Gedicht fest.
Nimmt man das aber wörtlich: „…aber an dich, / Gedicht, glaube ich nicht“, so gerät einiges ins Rutschen.
Wer von Fundamentalzweifeln am Gedicht umgetrieben wird – kann der denn weiter an die Wirkungsmacht der Lyrikkritik glauben?
Glaube ich an Dich, Lyrikkritik?
Bin ich denn nicht schon aus pekuniären Gründen gezwungen, an die Lyrikkritik zu glauben?
Und, falls ja, an welche Lyrikkritik? Von welchen Voraussetzungen, von welchen Prämissen geht diese Lyrikkritik aus?
II
Ich recycle zunächst einen Befund aus dem Jahr 2001, der aber – so fürchte ich – seine nüchterne Brisanz noch nicht eingebüßt hat. Ich schrieb in einer Positionsbestimmung zum Literaturkritiker als einem „Denker ohne festen Wohnsitz in der sekundären Welt“ folgendes:
„Die Freiheit des freien Literaturkritikers besteht vor allem darin, dass er keine Zeit mehr hat, nach den Kriterien seiner Arbeit zu fragen. Statt dessen konzentriert er sich auf die Zeichenzahl seiner Drucksachen und auf die Beschleunigung seiner Textproduktion, da schon wieder die nächste Deadline droht.“
Und wenn dann doch ein paar Minuten zur kritischen Selbstreflexion zur Verfügung stehen, schadet es nicht, sich auf die Maximen eines akribischen Philologen wie Peter Szondi oder auf den schon wieder unbekannt gewordenen Albrecht Fabri zurückzubesinnen. Von einer philologisch inspirierten Kritik hat Szondi verlangt, sie solle sich den Werken nähern durch Versenkung in „die Logik ihres Produziertseins“.
Ich verweise immer gerne auf Albrecht Fabri, auf dessen prägnante Notate zur „Theorie der Kritik“, in denen er zum Beispiel ausführt: „Kritik ist aber doch nicht Ausdruck von Vorlieben und Abneigungen, sondern Meßkunst eines Gegenstandes an ihm selbst.“ Also: Da jeder literarische Text, auch jedes Gedicht, einem bestimmten Bauprinzip folgt, kann die Konsequenz, mit der ein Gedicht diesem Prinzip folgt, zum textimmanenten Maßstab seiner Qualität gemacht werden.
So weit, so bekannt.
In jüngerer Zeit habe ich mir eine Maxime Helmut Heißenbüttels zu eigen gemacht:
„Was der deutschen Literaturkritik fehlt (das muß vielleicht doch noch einmal gesagt werden), ist Lockerung, Lockerung, was die Blickrichtung betrifft, in die die Kritiker zu starren gewohnt sind.“
III
Wenn ich von Lyrikkritik spreche, dann meine ich die kompakte Lyrikkritik im Rezensions-Format, die ihren tendenziell schrumpfenden Platz in Tages- oder Wochenzeitungen findet, und nicht die literaturwissenschaftliche Mikro-Analyse, die ihren Ort ausschließlich in Zeitschriften oder Aufsatzbänden findet, wie zum Beispiel in „Sinn und Form“ oder dem „Schreibheft“.
Inwiefern lässt sich die gedruckte Lyrikkritik qualitativ von der Lyrikkritik in der digitalen Publikationsraum unterscheiden?
Mein Kollege Lothar Müller hat kürzlich auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt die schöne These vorgetragen, dass sich die „Ursprungsmedien öffentlicher Kritik“ – wie er die Printmedien nennt – „in einer Übergangsphase befinden, die von grundlegenden Paradoxien geprägt ist.“ Das gedruckte und das ungedruckte Wort – gibt es da noch eine Differenz in der Deutungsmacht? Noch immer zehrt die gedruckte Kritik von ihrer alten elitären Behauptung von Autorität, vom Deutungsprivileg dessen, der exklusiv und in gedruckter Form, schwarz auf weiß, das Urteil verkündet. „Nie“, so Lothar Müller, „war der Druck nur ein neutraler Zeichenträger, er war stets auch Behauptung von Autorität…von Wahrheitsansprüchen umgeben, die auf die Verwurzelung der frühen Zeitungen in der Kultur des Faktischen zurückgingen.“
Dieser Autoritätsvorsprung des gedruckten Wortes gegenüber dem ungedruckten, dem flüchtigen digitalen Wort bröckelt gewaltig. Der Autoritätsvorsprung der gedruckten Lyrikkritik gegenüber der digital publizierten – ist er noch da?
Ja und Nein.
Bei der Klärung dieser Autoritäts-Frage geht es keineswegs nur um das Reflexionsniveau der gedruckten oder der digital präsentierten Lyrikkritik. Diese Qualitätsdifferenzen sind oft kaum mehr erkennbar.
Aber bei der Klärung der Frage nach öffentlicher Geltung und Autorität ist auch ein einfacher Test zu empfehlen.
Fragen Sie doch Ihren Lyrik-Verleger, welche Rezension des jeweils aktuell von ihm in Umlauf gebrachten Gedichtbands er bevorzugt – die Rezension im Feuilleton der FAZ oder der „Süddeutschen“ – oder die feinsinnige Expertise im „Signaturen-Magazin“? Die Antwort wird eindeutig ausfallen.
Inwiefern aber hat die Lyrikkritik noch ihren Platz?
Christian Metz hat ja in verschiedenen Zusammenhängen nachzuweisen versucht, dass eine alarmierende Schrumpfung von Lyrik-Rezensionen garnicht stattfindet, im Gegenteil. Was heute unter dem Begriff „Lyrikkritik“ firmiert, so Metz, sei erst aufgrund der Ausweitung des digitalen Raums entstanden. „Insgesamt“ , so sein überraschendes Resümee, „ist die Entwicklung der Lyrikkritik in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten eine Erfolgsgeschichte.“ Man muss freilich hinzufügen: Die rasante Ausdifferenzierung der Lyrik-Kritik in diversen Lyrikportalen im Netz geht einher mit der euphorischen Selbstausbeutung der kritischen Akteure. Sehr viele Lyrikrezensionen im Netz entstehen auf Null-Euro-Basis, und die Qualitätskontrolle lässt zu wünschen übrig.
An dieser Stelle sei eine kleine private Empirie zur Entwicklung der Lyrikkritik gestattet. Meine Arbeitshypothese dazu lautet: Man kann nur noch dort Lyrik-Rezensionen veröffentlichen, wo man über Jahre einen kaum kündbaren Respekt-Kredit bei den Redakteuren/Redakteurinnen erworben hat. Da entstehen Verbindungen gegenseitiger Anerkennung und manchmal kleine Freundschaft-Trutzburgen. Gehen diese Redakteure in den Ruhestand oder wechseln sie ihren Standort, gerät der Lyrik-Rezensent sofort in schwere See und die Verbindung zu den Redaktionen ist perdu.
Das heißt: Lyrik-Rezensionen sind in großen Zeitungen nur noch als punktuell verlängerungsfähige Ausnahmezustände möglich.
IV
Vor zwei Jahren hat Tristan Marquardt im Online-Magazin „signaturen“ eine Debatte über die Reichweite und die Geltung der Lyrikkritik initiiert und dabei ihre „Verstreutheit“ und „thematische Kontingenz“ beklagt – und er unternahm ganz nebenbei und auch nicht ganz uneigennützig den Versuch, die Lyrikkritik näher an die „Fördertöpfe“ der Stiftungen und an diverse Innovationsfonds heranzuschieben.
Ein erfreuliches Ergebnis dieser Bemühungen ist denn auch der Kongress „Fokus Lyrik“ im März 2019 in Frankfurt.
Die Prämissen von Marquardts Defizit-Hypothesen sind indes zwei beweispflichtige Behauptungen: „Während in den Feuilletons in der Regel fehlender Sachverstand und/oder fehlendes Interesse vorherrschen“, so Marquardt, „leidet die Lyrikkritik im Internet auf der einen Seite unter mangelnder journalistischer Kompetenz und auf der anderen unter einer zu großen Nähe von Kritiker*innen und Kritisierten.“
Der einen Defizit-Hypothese fehlt es nicht an Kühnheit, aber leider an Triftigkeit. Die Lyrikkritik hat in den Feuilletons sehr wohl einen Ort, sie laboriert auch nicht an mangelndem Sachverstand, sondern allenfalls am Mangel an festen Plätzen. Die Stammplätze in der FAZ, der ZEIT oder SZ gibt es noch, auch wenn man sie mit der Lupe suchen muss. Wo in den 1960er oder 1970er Jahren Günter Blöcker oder Peter Hamm ihre kenntnisreichen, subtilen und philologisch ausgeklügelten Lyrik-Rezensionen schrieben, sind es nun eben Christian Metz, Marie Luise Knott oder Nico Bleutge.
Und wenn man zurückblättert in die Meisterstücke der Kollegen Blöcker oder Friedrich Sieburg, so kommt mir doch einiges erfrischend aktuell vor. So mokiert sich Friedrich Sieburg 1962, „daß die deutsche Literatur überhaupt auf keinen kritischen Widerstand stößt. Sie mag abweichende Themen und Tonfälle haben, aber sie hat keine abweichende Meinung. …Sie hat keinen Gegner mehr, alle Türen, die sie einrennen möchte, stehen ihr weit offen. Einen Feind, einen Feind, ein Königreich für einen Feind!“ Eine schöne Übung in ironischem Feinsinn ist auch Günter Blöckers Attacke auf den jungen Peter Rühmkorf, die 1959 in der meisterlichen Sottise gipfelt: „Es muß ein trostloses Geschäft sein, sich mit der Erzeugung von Provokationen abzuplagen, zu denen alle Welt ja sagt.“ Solche Feststellungen, dass die deutsche Poesie auf keinen kritischen Widerstand mehr stößt – dieser Befund könnte auch aus dem Jahr 2018 stammen.
V
Der zweite, von Tristan Marquardt monierte Punkt ist die kollektive inzestuöse Selbstverknotung der Lyrik-Rezensenten im Internet – aber eben nicht nur dort. Dass es eine „zu große Nähe“ von Kritiker*innen und Lyriker*innen gibt und ein berechtigter Befangenheitsverdacht aufkommt, ist unschön, aber schwer zu vermeiden. Die Textsorte, die sich in der Lyrikkritik im Internet epidemisch ausbreitet, ist die Gefälligkeitsrezension. Diese Neigung zur Gefälligkeitsrezension speist sich aber nicht primär aus gewissenlosem Opportunismus oder aus der Korrumpierbarkeit der Kritiker, die selbst oft auch Lyriker sind, sondern aus der soziologischen Beschaffenheit der Sphäre, in der die Lyrikkritik entsteht. Es gibt kaum einen Lyrikkritiker oder kaum eine Lyrikkritikerin, der oder die nicht im Biotop der kleinen Lyrik-Community zuhause ist.
Man trifft sich auf Festivals, auf Kongressen, in Werkstattgesprächen oder bei einem Symposion im Haus für Poesie – und begegnet in der Regel irgendeinem oder irgendeiner der insgesamt vielleicht 47 Kolleginnen und Kollegen, die in der überschaubaren Infrastruktur des Lyrik-Betriebs mehr oder weniger regelmäßig mit Einladungen versorgt werden.
Dieses inzestuöse Produktions-Kombinat der Lyrik-Szene will ich hier nicht beklagen oder gar attackieren. Das wäre eine hochmütige Selbstverblendung. Als Lyrikkritiker, der doch nicht wenige Verfasser von Gedichten persönlich kennt, bin ich selbst Teil einer Sphäre, in der das Bewerten und Kommentieren von Poesie zum Tagesgeschäft gehört.
VI
Es gibt immer wieder Anekdoten aus der eifersuchtsgesättigten Innenwelt des Lyrik-Betriebs. Einer der letzten weisen Männer aus der Nachkriegsliteratur, Hans Magnus Enzensberger nämlich, hat vor nunmehr dreißig Jahren eine Art Verhaltenslehre für unsere Gegenwartspoeten entwickelt, der auch die heutigen Dichter blind zu folgen scheinen.
Und dieses Gesetz lautet: „Wo immer sich mehr als drei im Namen der Poesie versammeln, bemerkt man ein bedauerliches Schwanken zwischen Größenwahn und Verkanntsein, Gurutum und Ressentiment, Entrücktheit und Geltungsdrang. Je mikroskopischer die Erfolge, desto kleinkarierter der Konkurrenzkampf.“
So beschreibt es Enzensberger 1989 in seinen „Meldungen vom lyrischen Betrieb“ und die neueste Beglaubigungs-Episode dazu ist erst wenige Monate alt. Als Anfang Mai dieses Jahres die temporäre Gründung der „Akademie für Lyrikkritik“ angekündigt wurde, begann auf der Lyrik-Plattform www.fixpoetry.com ein Hauen und Stechen, das sich binnen Stunden dank Kommentarfunktion zu einer Orgie der gegenseitigen Herabwürdigungen steigerte. Dies als einen Sturm im Wasserglas zu bezeichnen, wäre schon ein sehr großzügiges Kompliment. Die Lyrikkritik im Internet – das ist nicht selten ein Garant für intellektuelle Vulkanausbrüche – nicht unbedingt zum Vorteil der Gedicht-Exegese.
Aus aktuellem Anlass möchte ich ein paar Zeilen des Schriftstellers Günter Herburger zitieren, der Anfang Mai nach einem Wohnungsbrand verstorben ist. Vieles wäre zu sagen zu dem phantastischen Langstreckenschreiber Herburger, der erst ab 1988, nach dem Abschluss seiner epischen Hauptwerke, als Verfasser halluzinatorischer Lauf-Bücher einem größeren Publikum bekannt wurde. Ich möchte mich beschränken auf ein paar Zeilen aus seinem fulminanten Essay „Dogmatisches über Gedichte“, in dem Herburger 1967 alle Erhabenheits-Topoi aus dem zeitgenössischen Lyrik-Diskurs abgeräumt hat.
Wer noch die andächtige Verehrung im Ohr hat, die zum Beispiel einer der Schwergewichte der Weltpoesie, der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky, der Lyrik als Gattung entgegenbringt, der wird von Herburger sehr ernüchtert. „Nun ist Lyrik ja“, so Brodsky, „die höchste Form menschlicher Rede in jeder Kultur….unser sprach-evolutionärer Leitstern.“ Bei Herburger klingt das doch wesentlich profaner: „Kleinigkeiten, würde ich sagen, Gedichte macht man nebenher.“ So beginnt Herburger im legendären „Kursbuch“ vor einem halben Jahrhundert seine Poetik der Entzauberung. „Man lässt ab und zu ein wenig Dampf ab, schreibt ein paar Linien, die nicht wie üblich von einem Rand zum anderen reichen, über ein Thema, zu dem einem nicht mehr einfällt. Wer Verstopfung hat, nimmt Abführpillen, wer glaubt, eine Idee zu haben und Zeit sparen will, der macht ein Gedicht.“ Soweit, so ernüchternd. Herburgers Sätze sind eine gute Übung für Dichter, die skeptische Selbstbegrenzung lernen wollen.
„Wer Verstopfung hat, nimmt Abführpillen, wer glaubt, eine Idee zu haben und Zeit sparen will, der macht ein Gedicht.“ Solches Understatement ist in der Lyrik-Debatte unserer Tage selten. Viel häufiger trifft man auf Erhöhungen und Überhöhungen der eigenen Poetologie. Dazu gleich mehr.
Zuvor möchte ich zur Fortsetzung meiner kleinen Empirie der lyrikkritischen Praxis ein paar Sätze aus meiner Dankrede zum Alfred Kerr-Preis vortragen, die ich im März auf der Leipziger Buchmesse halten durfte.
Es geht an dieser Stelle um die pragmatischen Aspekte der Lyrik-Kritik als Lebensform.
„…Man müsste ein literaturkritischer Fließbandarbeiter unter enormen Beschleunigungsbedingungen sein, um angesichts der schrumpfenden Budgets in den alten Printmedien eine annehmbare Rendite für das eigene Tun einzustreichen. Man darf es noch nüchterner formulieren: Je älter der freie Literaturkritiker wird, desto markanter sinkt sein Kurswert, denn Jüngere rücken nach, die bereit sind zur bedingungslosen Selbstausbeutung und zur schnellen Lieferung von „Content“, ein Wort, das die journalistischen Betriebswirtschafter von heute so gerne verwenden. Ein Blick auf den zu erwartenden Rentenbescheid genügt, um Schwindelanfälle auszulösen. Kurz und schlecht: Nur durch glückliche Fügungen kann der freie Literaturkritiker überleben. Ein Beispiel aus der Praxis: Fünf Jahre lang, von 2006 bis 2011, durfte ich im Auftrag des Deutschlandfunks – zu anständigen Konditionen übrigens – das „Gedicht des Tages“ kommentieren, das dreimal am Tag unvorhersehbar ins Programm des Deutschlandfunks eingestreut, eine gewisse Wirkungsmacht entfaltete, als kleiner poetischer Störfaktor im Programm. …Die kalendarische Expedition erstreckte sich über insgesamt 1826 Gedichte und 1826 Kommentare, eine tatsächlich fließbandverdächtige Kommentarproduktion. Nur diese transzendentalbelletristische Hochleistungsessayistik unter Zeitdruckbedingungen erlaubte ein bescheidenes mittleres Einkommen – wer sich dagegen, wie es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, in oft umwegigen Erkundungen an ein Gedicht herantastet, wird unweigerlich im Niedriglohnbereich steckenbleiben.“
VII
Das waren nun ein paar hingestreute Betrachtungen zur Empirie und Praxis der Lyrikkritik. Wo kann heute die Kriterienbildung für Lyrikkritik ihr Fundament finden?
Noch immer in Adornos „Rede über Lyrik und Gesellschaft“? Oder eher in Publikationen wie Heinz Schlaffers „Geistersprache“ von 2012, von Ulrich Greiners „Der Lyrik-Verführer“ von 2009 oder Steffen Jacobs´ „Der Lyrik-TÜV“ von 2007? Das sind drei Titel, die eher magere Beachtung gefunden haben, vielleicht auch weil es Außensichten auf die Lyrik sind von Autoren, denen eine Verankerung in der Lyrik-Szene fehlt. Sicher ist jedenfalls: Wenn man über Gedichte des 21. Jahrhunderts literaturkritisch, analytisch, philologisch und materialbewusst sprechen und diskutieren will, kommt man an Christian Metz` brandaktueller Studie „Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart“ nicht vorbei.
Dazu will ich hier nur ein paar kleine Beobachtungen vortragen. Unstrittig dürfte sein: Christian Metz hat vier sachkundige, interpretativ ausgereifte, originelle Einzelstudien zu vier „herausragenden Autoren“ vorgelegt, welche „den Höhenflug der Gegenwartslyrik mit ausgelöst haben und seither entscheidenden Anteil am Erfolg der Lyrik haben. An diesen vier Autor*innen wird in Zukunft niemand vorbeikommen: Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp…bei ihnen laufen die wichtigsten Fäden zusammen.“ Diese Fokussierung auf diese vier Autoren ist natürlich genauso anfechtbar wie viele weitere Grundannahmen von Metz. Aber die Hervorhebung dieser Vier will ich hier einfach mal als heuristische Skizze akzeptieren: zwei Peter-Huchel-Preisträger, ein Büchner-Preisträger, eine Repräsentantin der ästhetischen Dissidenz – an ihrem Werk vermag Metz in seinen Porträts allerlei poetische „Denkformen“ entziffern. Bei Monika Rincks „Poetik des Gedankensprungs“ etwa die Motivfelder Buckel, Sprung und Schanze; und ihre Fortführung des barocken Manierismus in der Art einer „wuchernden Sammlung von Diskrepantem“. Und bei Steffen Popp beispielsweise seine Motiv-Trias „Meer- Wald – Turm“ und ihre diversen metaphorischen Register, dazu sein frühromantisch inspiriertes „Labor für Poesie als Lebensform“. Und wie wird das poetische Verfahren von Steffen Popp beschrieben: „Popp arbeitet gezielt mit Verknappung…und Auslassung…Es wird geschnitten und zusammengesetzt wie beim Gen-Ingenieur. Kein Plot, keine Perspektivfigur- Popp reiht einzelne Eindrücke aneinander. Simultanmontage ist High Modernity, direkt übernommen von Autoren wie Trakl oder Benn.“ An dieser Stelle kommt nun ein Altmeister ins Spiel, den Metz auf den 426 Seiten seiner Studie doch bedenklich versteckt hat. Und dieses Verstecken von Gottfried Benn hat dann doch analytische Gründe, wie ich vermuten möchte. Liest man den einleitenden Essay von Metz, mehren sich dann die Fragezeichen. Sein optimistischer Ausgangspunkt ist ja, dass er der Lyrik des 21. Jahrhunderts und vor allem ihren „hochkarätigen“ Vertretern (und „hochkarätig“ ist eine Lieblingsvokabel von Metz) als innovative Leistung diese Fokussierung auf das „poetische Denken“ zuspricht, eine Reflexionsleistung also, die offenbar – das ist die Implikation seiner zentralen These – den Vorgängergenerationen von Lyrikern fehlt.
Und hier beginnen die Probleme des großen Theorie-Entwurfs von Christian Metz. In seinem Einleitungs-Essay versucht er eine Dreiteilung der Lyrik-Landschaft vor dem Jahr 2000 vorzunehmen; sie habe sich zwischen „Pop, lyrischer Avantgarde und Erlebnis“ bewegt. Einmal abgesehen davon, dass die Markierung des Jahres 2000 als poesiehistorische Zäsur nicht zu halten ist, ist auch die Segmentierung der Poesie in „Pop-Literatur“, „lyrische Avantgarde“ und „Erlebnislyrik“ mehr als zweifelhaft. Denn diese Kategorisierung überschätzt die Wirkungsmacht der Pop-Literatur, die in den 1990er Jahren ein sehr schmales Segment der Literatur repräsentierte, mit den Werken von Benjamin Stuckrad-Barre, Sebastian Neumeister oder Thomas Meinecke. Und ich kann nirgendwo einen großen Wirkungspunkt erkennen, an dem die Pop-Literatur der 1990er Jahre Einfluss genommen haben könnte auf die Entwicklung der mich interessierenden Lyrik. (Auch wenn Ann Cotten sich mit „Listen“ in der Dichtung auseinandergesetzt hat.) Die Form von Pop-Literatur, die Rolf Dieter Brinkmann 1968/1969 propagierte, hat mit den Pop-Wiedergängern der 1990er Jahre jedenfalls wenig zu tun.
Und dann ist da noch die behauptete Zäsur des Jahres 2000. „Kreativität und Dezimalsystem stimmen selten überein“, hat der Berliner Dichter Gerd Henniger einmal gesagt. Und das Jahr 2000 ist schwer zum Turning Point zu erklären. „Die Frage“, so Christian Metz, „wie man an die lyrische Avantgarde der direkten Vorgänger anschließen wollte und wie gerade nicht, schnurrte Anfang der 2000er Jahre in einem einzigen Text zusammen.“ Gemeint ist indes Franz Josef Czernins Fundamentalkritik an Durs Grünbeins Gedichtband „Falten und Fallen“, die aber bekanntlich bereits 1995 im „Schreibheft“ erschien. Die Debatten um die Lyrik nach 2000 beginnen also paradoxerweise schon in den frühen neunziger Jahren. Auch in Steffen Popps aktueller Anthologie „Spitzen“, die ursprünglich die „besten deutschsprachigen Gedichte nach 2000“ präsentieren sollte, stammen einige Gedichte aus den Jahren 1992 und 1993.
VIII
Und auch bei dieser Frage von Metz sollte man aufhorchen: „Wie konnte man die Lyrik, die in der Pop-Welle der neunziger Jahre keine Rolle gespielt hatte, wieder lebendig machen, ohne in naiven Realismus zu verfallen?“ Das ist eine äußerst merkwürdige Fragestellung, war es doch gerade in den 1990er Jahren die Dichtung Thomas Klings, die der Lyrik ungeheure, sprachrevolutionäre Energien zuführte und mit einem enormen Sprachempfindlichkeit alle Naivitäten des lyrischen Sprechens sprengte. Und das weitgehende Ausblenden des Altmeisters Gottfried Benn kann ich mir nur so erklären, dass Christian Metz nicht berücksichtigen wollte, dass es gerade die Bewusstseinspoesie und die von Benn selbst ausgerufene „Phase II“ seines Schreibens sind, die all jene neuen Versuche des poetischen Denkens bei Monika Rinck oder Steffen Popp bereits antizipieren.
Wie war das nochmal mit der „wuchernden Sammlung von Diskrepantem“ bei Monika Rinck und der „Simultanmontage“ und dem „Gen-Ingenieur“ bei Steffen Popp?
Beide Verfahrensweisen, so möchte ich gegen Christian Metz einwenden, finden wir schon beim alten Benn und seiner Anweisung für die „Montagekunst“:
„Nichts wird stofflich-psychologisch mehr verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt. Alles bleibt offen. Antithetik. Verharren vor dem Unvereinbaren. …Aber wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe oder ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht.“ –
„Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert – ein Mensch in Anführungsstrichen….Der Stil der Zukunft ist der Roboterstil, Montagekunst.“
Sind das Sätze aus dem „Labor für Poesie als Lebensform“ ?
Nein, sie sehen nur der „wuchernden Sammlung von Diskrepantem“ erschreckend ähnlich. Es ist O-Ton Benn, aus seiner Bekenntnisschrift „Doppelleben“. Der Stil der Zukunft, die Montage-Kunst, die Beschleunigung des poetischen Denkens: Autoren wie Monika Rinck, Steffen Popp oder Ann Cotten haben das nicht erfunden, sondern nur aus dem Pool des alten Benn geschöpft. Natürlich nicht nur aus dem Benn-Pool. Aber die Antizipation der modernen „Simultanmontage“ in der Lyrik des 21. Jahrhunderts in der Poetik des späten Benn — die Beschreibung dieser Zusammenhänge sollte in einer Studie zur Lyrik der Gegenwart dann doch seinen Platz finden.