Bertram Reinecke, aufgewachsen in Mecklenburg, ist ein sprachgewandter moderner Dichter und ein Meister der Montage. Er ist in der deutschsprachigen Lyrikszene kein unbekannter Name, zumal er seit 2009 den Verlag Reinecke & Voß betreibt. 2012 erschien der Gedichtband Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst, in dem Reinecke prominent die Montagetechnik verwendete, die auch in Daphne, ich bin wütend, seinem neuesten Werk, zum Einsatz kommt.
Daphne, der Titel bezieht sich, so muss man annehmen, auf die antike mythologische Nymphe Daphne, welche, von Apollon verfolgt und beinahe vergewaltigt, um Metamorphose flehte und daraufhin in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. Dieser wurde dem Gott daraufhin heilig und gilt trotz des unguten Anfangs bekanntermaßen als Pflanze der Dichter, denn es ist der Lorbeer, mit dem ein poeta lauraeatus gekrönt bzw. gekränzt wird.
Man merkt Reinecke sein Germanistik-Studium, das Studium am Literaturinstitut Leipzig und seine klassische Bildung an, denn seine Lyrik ist gelehrt, formvollendet und zeichnet sich durch eine stilistisch und sprachlich nuancierte Ausdrucksweise aus. Daphne, ich bin wütend – diese Wut bezieht sich in Teilen vielleicht auch auf die Bindung an das Klassische, ist doch selbst auf dem Cover die typische Haltung von Daphne-Skulpturen, Daphnes skulpturale Verwandlung in einen Lorbeerbaum nachgebaut: Mithilfe von eng an eng gedruckten Textbausteinen wird ein primitiver Körper nachgebaut, dessen Arme nach oben hin Äste schlagen und nach unten hin Wurzeln.
Die zahlreichen Textbausteine auf dem Cover haben ihre Berechtigung auch im Inhalt des Bandes: Reinecke wählt zudem in Daphne, ich bin wütend immer wieder die Form des Cento, die den Band dominiert, d. h. er verwendet verschiedene Versatzstücke aus vorgefundenem Sprachmaterial (Lyrik, Prosa, Lieder, Übersetzungen), die er nach der Lektüre in Bestandteile zerlegt und zu neuen Texten zusammenfügt. Der Anspruch in Reineckes Dichtung besteht darin, dass der Autor die einzelnen Teile in eine formal vorgegebene Struktur wie das Sonett oder eine andere sich reimende Strophenform einfügt, wobei das Ergebnis nicht nur formal (Reim, Verslänge, Strophen, Rhythmus), sondern auch inhaltlich stimmig sein muss. Er selbst gibt in seinem Nachwort zu, dass dabei die Übergänge („Anschlüsse“) nicht immer gleichermaßen gelungen sind.
Geröll der geschichte die dichterstimme: zu nachtwachen
Erblühen aus den relikten der avantgarde
Liebstöckel, herzenstrost und immenblatt
Nicht grün die blätter, nein, von düstrer farbe.
Auch deinem mund ist scheu und dumpf entglitten
Geröll der geschichte, die dichterstimme zu nachtwachen –
Auch natterkopf, hauhechel wächst umher
Liebstöckel, herzenstrost und immenblatt.
(aus: Nachtwachen)
Es fällt schwer, die Dichtung Reineckes zu kategorisieren. Die Texte von Daphne, ich bin wütend zeichnen sich vor allem durch den Wechsel der Stil- und Formelemente aus. Reinecke, der Germanistik, Psychologie und Philosophie studiert hat, zieht immer wieder klassische Vorbilder, barocke Autoren, Autoren und Autorinnen der Frühen Neuzeit und auch Volkslieder heran. Neben den klassischen Referenzen ist in dem Lyrikband außerdem die Freude am Experiment, den Sprachspielen, der Verfremdung zu erkennen. Diese Tendenz ist in Daphne, ich bin wütend in den Kapiteln mit den selbst verfassten Gedichten zu erkennen, die im Vergleich zu den Centones freier sind, sich damit vom Rest abheben und sich auch nicht reimen. Dieser Kontrast ist durchaus reizvoll und auch originell.
Eines Tages sagte ich mir
„Heute gehe ich hinaus und rette das Abendland
ich werde die letzten freilebenden Alexandriner dokumentieren
das visko-elastische Verhalten von Schnee
Gesellschaften in ihren Nischen, die Randlagen urbaner Räume
ich entwickele eine Theorie des größtmöglichen Denkmals
ich werde viel Papier brauchen.“
Ich nahm Hammer und Säge und zimmerte eine Hoffnung
aber sie fiel immer auseinander, vielleicht ist
dachte ich, das Material schlecht
vielleicht brauche ich besseren Kontext
oder fehlte mir etwas anderes zum Beispiel eine Schleuder?
(aus: Lyrica®)
In allen Fällen merkt man seinen Texten die Beherrschung von Sprache und Material an. Die Anspielungen und verwendeten Texte kann man im sorgsam verfassten Anhang mit Anmerkungen und Register nachlesen. Was die Verwendung fremder Texte für eigene Zwecke angeht, wurde, wie es im Nachwort über die Poetik Reineckes heißt, kritisiert, er verstecke sich hinter fremdem Gut, um nicht für sich selbst sprechen zu müssen, und hinter dem formalen Anspruch. Reinecke geht im Nachwort auf die Wahrnehmung seiner Dichtung und deren verschiedene Aspekte und Perspektivierungen ein, was als Einordnung interessant ist, aber nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Muss man im Nachwort die eigene Lyrik kommentieren?
Die Kritik versucht Reinecke damit zu widerlegen, dass ein solcher Versuch, sich auf die Form zurückzuziehen, stets zum Scheitern verurteilt wäre. Er stellt sich daher im Nachwort offene Fragen zu den Montagen wie: Wie geläufig verlaufen die Anschlüsse? Wie viele Freiheiten nimmt sich der Text? Inwieweit weicht der Text von der gewohnten Syntax ab? Wie wild oder geschmeidig sind die Texte im Vergleich zu anderen Montagen und dem Material, aus dem sie montiert wurden?
Ein wichtiges Element der Gestaltung ist die Wiederholung einzelner Gedichtverse in aufeinander folgenden Strophen, was einen Wiedererkennungs-, aber auch einen etwas monotonen Effekt hat. Gerade in den formal konstruierten Stücken des Bandes scheint die Form bisweilen auf den ersten Blick zu erstarren, doch der Lyriker Reinecke schafft es, durch die Syntax, die Wortwahl, die Neuinterpretation der verwendeten Motive und die Anschlüsse auf der Mikroebene zu überraschen.
Es gibt in diesem Band auch Gedichte, die Vergänglichkeitsdichtung und das Memento mori- bzw. vanitas-Motiv des 16. Jahrhunderts neu interpretieren, und Reinecke verbindet die Vergänglichkeitsmotive immer mit einem humorvollen und zuversichtlichen, mitunter auch ironischen Blick, der überrascht:
Von Schwermut, Sorg und Zagen
Von aller bösen Zeit
Das trübe Erdenleid.
Von Trauern, Weh und Klagen
Unser Tun und Dichten
Von Schwermut, Sorg und Zagen:
Die Zeit wird sie zerreiben.
Das trübe Erdenleid.
[…]
Fahr hin Trauer und Leid!
Lass die Klagen schweigen –
Frei das Herz und leicht der Sinn
In diesem Jammertal.
(aus: Hoffnungszauber)
Reinecke zitiert die Vorbilder, geht aber über sie hinaus, indem er sie erweitert, neu arrangiert und ironisch bricht. Eben diese neuen Kombinationen, aber auch die eigenen Gedichte Reineckes sowie die Sprachspiele und Ironie machen die Lektüre aus und sind das Gegenteil von „Sprachverlorenheit“ (Stefan Hölscher), vor der die Dichter laut Hölscher Angst hätten.
Später die Fledermäuse im Sturzflug, darunter
Gitarrengezupfel, dumpfe Gespräche, schön
sagt sie, die Nacht, … wem bliebe sie nicht
wenn der Wind voller Weltraum aber
dir treten die endlosen Stunden hervor
die du mit verglimmten Gesprächen
an schwelenden Feuern sinnlos verwartet hast
dir wird übel: Heute hoffst du
auf gar nichts mehr.
Sich ins Unvermeidliche fügen, vielleicht
eine Katze anschaffen, damit einen jemand vermisst
mit einem Zeitvertreib die Zeit verteilen
herumstreichen, die Zeit verstreichen
lassen, jeden Tag ein bisschen Pracht
weniger, sehen, wie langsam die Nähe ermattet
immer dasselbe Zitat von Sekundärwerk
zu Sekundärwerk getragen, ein Zigarettenpapier
das der Wind mitnimmt.
(aus: Halbe Strecke)
Weitere Sprachspiele finden sich zum Beispiel in Gedichten wie „Die sechsunddreißigfältige Wahrheit Gottes“, in dem der Satz „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewußt“ (Johann Wolfgang von Goethe) 36 Mal variiert wird:
Ein rechter Mensch in seinem gute Drange
Ist sich des dunklen Weges wohl bewußt.
Ein dunkler Mensch in seinem rechten Drange
Ist sich des guten Weges wohl bewußt.
[…]
(aus: Die sechsunddreißigfältige Wahrheit Gottes)
Hier werden alle Möglichkeiten der Adjektiv-Attribution durchgespielt, im Grunde handelt es sich um eine Frage der Wahrscheinlichkeit oder Stochastik. Auch Sprach- und Grammatik-Übungen aus Sprechlehrbüchern gibt es in dem Gedichtband, überschrieben mit Sleutel vor de hoogduitsche Spraakkunst, neue Folge, was ein unmittelbarer Anschluss an den vorherigen Gedichtband Reineckes ist:
Haben Sie den ledernen Koffer? – Ich habe den ledernen Koffer nicht. – Haben Sie meinen hübschen Koffer? – Ich habe Ihren hübschen Koffer nicht. – Welchen Koffer haben Sie? – Ich habe den hölzernen Koffer. – Haben Sie meinen alten Koffer? – Ich habe ihn nicht. […]
(aus: Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst, neue Folge)
Reinecke ist ein Sprachakrobat, der das Sprachmaterial ordnet, neu sortiert, arrangiert und damit mitunter auch experimentiert. Die sprachliche, stilistische und formale Vielfalt, die Abwechslung, verbunden mit der Strenge und Stringenz machen den Reiz des Bandes aus, laufen aber auch Gefahr, repetitiv zu werden.
Florian Birnmeyer