Gastbeitrag von Milena Maren Röthig

Versprachlichen von Verortetem. Gedanken zu Christian Lehnerts „Cherubinischer Staub“

 

Heute kurz vor der Ausgangssperre das Haus verlassen. Die Feldwege leer. Es ist jetzt länger hell und die Sonne hängt am Abend noch an den letzten Gebäuden am Horizont.

Es sind Beobachtungen der kleinen Veränderungen: die Planen, die jetzt die Spargelfelder bedecken, die Kirschbäume, die in weißer Blüte stehen, der alte, hinkende Hund, den ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen habe. Ich weiß nicht, ob ich jemals über so weite Strecken die immer gleichen Wege gegangen bin.

Vielleicht zwingt uns die Pandemiesituation zwangsläufig zur Achtsamkeit. Es gibt nicht mehr so viel zu sehen, so viel zu erleben, so viel zu sprechen. Wir müssen haushalten mit dem excitement, das uns der immer gleiche Alltag bietet: der immer gleiche Schreibtisch, die immer gleichen Wege über die Felder, durch Wohngebiete. Ein genaueres Betrachten liegt dort nahe, wo uns anderes fernliegt. Ich schreibe langsamer. Ich nehme die immer gleichen Wege über die Felder und ich frage mich, ob das Schreiben neue Orte braucht und ob auch Texte neue Orte sein können. Ich lese langsamer und denke mehr über Begriffe nach, über Sprache, über Worte.

»Wer fand zuerst ein Wort wie „Schaumkraut“, Wellennamen?«, fragt Christian Lehnert in seinem Gedichtband „Cherubinischer Staub“. Ich lese immer wieder im ersten Teil dieses Gedichtbandes, genannt „Stille ohne Maß“, ein „Wörterbuch der natürlichen Erscheinungen“, in denen kurze miniaturartige Texte an Zeit und Ort geknüpft werden, ans Osterzgebirge, Usedom, Breitenau.

Christian Lehnert stellt diesem ersten Teil, diesem Versprachlichen von Verortetem, ein Zitat von Jakob Böhme voran, einem Sprachmystiker aus dem siebzehnten Jahrhundert. In seinen Schriften vertritt Böhme die These, dass in der Sprache eine Natursprache liege. Die Idee einer perfekten Sprache. Eine paradiesische Sprache. Eine Sprache, die nicht alleine Laut und Inhalt auszudrücken, sondern in Laut und Silben selbst den Dingen vollkommen zu entsprechen vermag. In der Sprache also die Erkenntnis des Wesens aller Dinge.

Zugegeben, der Gedanke an die perfekt motivierte Sprache, eine absurde Vorstellung.

»Er löst sich lautlos auf, ins Wasser sinkt der Schnee. / So wird der Schlaf genannt: die unerforschte See.«

In Christian Lehnerts Gedichten lese ich einen Versuch heraus, die Sprache auf diese Möglichkeit, die Böhme so überzeugt nennt, auszutesten. Zu sehen, was die Sprache kann und trägt. Ob wir, wenn auch nicht die letzte Erkenntnis, vielleicht in der Sprache zumindest eine vage Ahnung des Wesens aller Dinge zu finden vermögen.

»Ein Rauhgefieder treibt, es weiß den Weg nicht mehr. / So heißt der Nebelgang: Gezeiten ohne Meer.«

Beobachtungen, Bilder und Erkenntnis scheinen hier unter dem Deckmantel der Sprache zusammenzufallen, eins zu werden. Vielleicht kann das, was hier poetisch und lyrisch funktioniert, als gegenwärtige Annäherung an Böhmes Ausführungen gelesen werden. Dass nicht nur im Bild, sondern auch in der Sprache, im Klang, im Lesen und im Schreiben der Erkenntnisprozess liegt.

»Es lohnt sich, all den Dingen zuzuhören, die in diesen Versen zum Sprechen gebracht werden«, schreibt Jörg Magenau in seiner Rezension des Gedichtbandes für die SZ. Den Dingen zuhören. Das gefällt mir besser als Achtsamkeit.

Mit Sicherheit wirft Christian Lehnert in „Cherubinischer Staub“ neben der Frage nach dem Erkenntniswert von Sprache noch zahlreiche andere Fragen auf. Etwa die Frage nach dem Zusammenhang von poetischem und religiösen Sprechen. Darüber muss ich an einem anderen Tag nachdenken. Für heute werde ich meine Runde über die Felder gehen, nachsehen, wie es um die Kirschbäume steht. Ob sich an den Spargelfeldern etwas geändert hat.

 

Milena Maren Röthig