Gastbeitrag von S. Klose

 

ÈCRITURE B.

 

„Einfach mal drauflos schreiben!”, lautete die Aufforderung unseres Werkstattleiters B. Aber was bedeutet es, einfach mal drauflos zu schreiben? Was für Konsequenzen hat das? Für mich, die „drauflosschreibt“, für die anderen, denen es unter die Augen kommt, für die Gesellschaft ganz allgemein? Hat es überhaupt Konsequenzen? Hat es lehrendes, gestaltendes, ja vielleicht sogar subversives Potential, oder ist dieses unmittelbare Schreiben, wie ich es bezeichnen möchte, nur ein öder Reflex auf unsre öden persönlichen Probleme?

Mag sein, dass das unmittelbare Schreiben zunächst als etwas derart Persönlich-Individuelles wahrgenommen wird, dass es wohl kaum vermag, die Gesellschaft zu verändern. Aber warum? Weil das unmittelbare Schreiben ohne Konzept ist? Weil es keinen Plan, keine Struktur und somit keine gesellschaftliche Integrität besitzt? Diese Einseitigkeit lässt außer Acht, dass ein unmittelbares Schreiben zunächst nichts substituiert, es setzt nicht einmal etwas voraus. Unmittelbares Schreiben ist zunächst frei von Gestaltungsregeln, aber bei genauerer Analyse zeigt sich, dass unmittelbares Schreiben nicht nur ein Indikator für Gestaltungsregeln, gesellschaftliche Konventionen und die eigene soziale Realität ist, sondern eine Differenzerfahrung ermöglicht, die eine Veränderung der Deutungsmuster hervorruft. Aber wie macht es das?

Zur besseren Verständlichkeit möchte ich mich hier auf André Breton und Jaques Derrida beziehen. Breton galt als Verfechter der Methode des unmittelbaren Schreibens, bei ihm ècriture automatique (automatisches Schreiben) genannt, während Derrida sich der Frage differenzierter Deutungsmuster annimmt. Bretons Ausgangspunkt, der für die Stärke automatischen Schreibens spricht, ist zum einen die Freiheit, die ihm zugrunde liegt. Diese Freiheit soll ein unvoreingenommenes, spontanes Denken ermöglichen, das sich selbst begegnet. Er betont, dass die Wahrnehmung selber zum Gegenstand der Handlung wird. Das Wahrnehmen begreift sich selbst als werdend, wir erfahren uns also als Subjekt. Eben ganz unmittelbar und deshalb unverfälscht, vielleicht roh, auf alle Fälle einzigartig.

Daraus erklärt sich auch der Zusammenhang, in den Breton Freuds Methode des fließenden Monologs stellt. Die Selbsterfahrung beim einfach-drauflos-Schreiben bringt uns unserer Gefühlswelt näher, unseren Ängsten, unseren Stärken, sogar unseren ureigenen Prinzipien und Werten. Das entstandene Werk spiegelt uns wider, genauso wie es uns Seiten an uns aufweist, die uns bisher unbekannt oder zumindest vage oder verschwommen erschienen. Mit der Reflexion des entstandenen Werks wagen wir es, uns selbst einzuschätzen. Vielleicht gefällt uns, was wir sehen, vielleicht sind wir schockiert oder verwundert – die Bedeutung, die wir dem Werk geben, entscheiden wir ganz allein für uns. Insofern können wir uns von den artikulierten Tendenzen verabschieden, wenn sie uns nicht gefallen, oder sie können uns zu neuen inspirieren, die unsere eigene Vorstellung von Persönlichkeit besser ausdrücken. Das Subjekt erlebt eine Differenzerfahrung, die die Aneignung der persönlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorruft. Wir definieren nicht nur uns und unsere Worte, sondern wir geben sie der Welt preis in der Hoffnung, dieselben autodidaktischen Vorgänge in ihnen auszulösen, die die Revision der Texte bei einem selber ausgelöst hat.

Doch auch das automatische Schreiben hat seine Grenzen. Egal was unser Gegenstand des Schreibens ist, welche Thematik wir aufgreifen oder welche Fragen wir stellen, das Schreiben bleibt selektiv. Die Rezeption der Texte beschert uns vielleicht eine Erkenntnis, wir fühlen uns weiser, haben etwas dazugelernt, aber was wir dabei oft vergessen, sind die Aspekte, die außerhalb der Eingrenzung des Textes liegen. Die Art, wie wir uns den Text näher bringen, ist deshalb entscheidend für die Reproduktion der Werte und Prinzipien, die der Text aufgreift. Zunächst veranlasst uns ein Text, vor allem ein Text, den wir akustisch aufnehmen, die symbolische Bedeutung der Zeichen nachzuahmen. Wir versuchen durch Mimesis die verschiedenen Konnotationen, die der Text hat, wahrzunehmen. Wir versuchen uns in den Leser einzufühlen, und auch der Autor versucht sich in sich selber einzufühlen. Beide Versuche sind Versuche, zu verstehen, was gemeint ist.

Dieses Verstehenwollen ist wohl die Basis für unsere Sozialisierung, zumindest die Basis dafür, wie wir uns verständigen. Natürlich können wir auch Unangenehmes, Schmerzhaftes kommunizieren, oder wir kommunizieren, dass wir wütend aufeinander sind. Im Vordergrund der ästhetischen Arbeit steht bloß überhaupt die Befähigung zur Kommunikation. Insofern folgt selbst das freie Schreiben seiner eigenen Bestimmung: der Definition von Zeichen. Diese Definition von Zeichen, die zwischen Mensch und Mensch stattfindet, haben wir zuvor zwischen Mensch und Text erfahren. Einfach-drauflos-Schreiben heißt, die unvermittelte Bedeutung der Worte zu entkleiden. Dasjenige, das unter Poiesie und Mimesis verstanden wird, hat „die Gestalt eines Bruchs und einer Verdopplung”, so Derrida, es ist ein „Spiel der Struktur”. Insofern verstehen wir Poiesie und Mimesis dialektisch. Wir versuchen nahezu immer, dem Wahrgenommenen Sinn zu geben, es etwas Bekanntem zuzuordnen. Die Zuordnung wird zur Verdopplung, zur Wiederholung, die Wiederholung zur Nachahmung, und schon hier verschiebt sich die Bedeutung dessen, wovon wir ausgehen.

Während die Wiederholung nur eine Definition des Signifikats ist, das heißt eine rein formale Zuordnung ohne Sinn zu sein scheint, findet in der gleichzeitigen Nachahmung des Signifikats eine Art Sinnieren statt, das heißt wir geben mit der Nachahmung dem Wiederholten den Sinn, den wir in ihm sehen (= verstehen). Wir brechen mit der vorhergegangenen Bedeutung, und durch den Bruch ergibt sich die neue Definition. So sehr wir also versuchen, das Bezeichnete mit der allgemeinen Definition deckungsgleich zu halten, so sehr fordert das Bezeichnete eine immer weiterführende Erörterung des Gemeinten.

So kann ein Satz, ein Wort, eine Aussage im jeweiligen Kontext völlig verschieden sein. Und diese Unterschiedsmöglichkeiten erlauben es uns, aus dem abgesteckten Rahmen der Bedeutung auszubrechen, also das bisherige Deutungsmuster zu erweitern oder gar ganz zu verlassen. Hier zeigt sich die subversive Qualität der Differenzerfahrung. Die Konsequenz der Poiesis befördert nicht nur soziale Umgestaltung, sie kann auch einen Entfremdungseffekt haben, nämlich in dem Moment, wo die sich widersprechenden Definitionen das Signifikat zu einem metaphysischen Rätsel (v)erklären. Wir ahnen bloß, anstatt vollständig zu verstehen. Das Abstrakte ragt über das Klare hinaus. Wir stehen verloren zwischen den zerbrochenen Zeichen und wissen nicht mehr, wie etwas gemeint ist.

Um diesen Effekt zu umgehen, selektieren wir Bedeutungen. Rückschlüssig heißt das nicht, dass Definitionen totalitär sind, sondern dass wir die Zirkulation von Bedeutung mit einberechnen müssen, gerade das erhebt die Kommunikation in den Stand eines Einfühlungsapparats. Kommunizieren heißt, sich selbst, andere und die Situation(en) zu ertasten. Solcherart Spielereien sind die Bausteine unserer Kommunikation und damit unserer Sozialisation. Alle ästhetischen Medien beziehen sich auf die Spielerei. Nicht nur das Sprachspiel, das so offensichtlich mit Sprache spielt, sondern auch Tanzen spielt, Theater spielt, Musik spielt usw. Dabei ist es wichtig, die Regeln der verschiedenen Disziplinen zu kennen, aber auch zu brechen, um sie sich anzueignen und zu einem historischen Gegenstand zu machen.

 

Sandra Klose