Franz Josef Czernin muss man nicht mehr vorstellen. Er ist nun seit Jahrzehnten einer der Lyriker und Theoretiker, die sich am konsequentesten mit Fragen der Dichtung auseinandersetzen und bei denen sich theoretische Erkenntnisfragen und lyrische Praxis durchdringen und gegenseitig bedingen. Er hat in der internen Lyrikszene einige der wichtigsten Debatten angestoßen, die dann auch über die Szene hinaus ausstrahlten und bis heute immer wieder Referenzpunkte sind, wenn es darum geht, was Literaturkritik kann und wie Gedichte zu beurteilen sind. Er hat zu Zeiten, als dies geradezu selbstmörderisch war, ein scharf analytisch-kritisches Buch zum Stil des Großkritikers Marcel Reich-Ranicki geschrieben. Zuvor hatte er bereits mit Ferdinand Schmatz einen ganzen Band von Gedichten geschrieben, die ihrer Meinung nach klischeehaft Erwartungen erfüllen, und so versucht, eine gedankenlose Rezeption bestimmter Metapherntypen offenzulegen (hier nachzulesen). Seine Kritik an Grünbein kam zeitlich unglücklich, ist aber bis heute einzigartig und bedenkenswert. Ein Großteil seines eigenen Werkes widmet sich der Aneignung und Durcharbeitung klassischer Werke (Dante, Shakespeare, Brentano etc) auf eine Weise, die der Literaturkritiker Metz jüngst „Reparatur“ nannte. Daran knüpft dies Interview an und versucht in der Folge das Verhältnis zur Tradition, zur Metapher und zum eigenen Sprechen zu erkunden. Weil das Gespräch recht lang ist, wurden kleine Zwischenüberschriften eingeschoben: Tradition – Reflexion – Blödigkeit – Skepsis – Metapher. Eine Reihung, die den Verlauf des Gespräches gut wiedergibt.
Tradition
Hendrik JAckson: Meine erste Frage dreht sich um das Verhältnis zur Tradition. Anlässlich deines runden Geburtstages gab es ein Symposium in Mürzzuschlag. Nun wird dein Werk hier und da mit dem Begriff „Avantgarde“ oder „Sprachexperiment“ etikettiert. Insofern wäre es vielleicht für den Einen oder die Andere überraschend gewesen, dass auf diesem Symposium nicht nur die vielfältigen Bezüge deines Werks zur Tradition näher bestimmt wurden (von Shakespeare über Dante bis zu den Gebrüdern Grimm und Brentano), ja dein Ansatz selbst wurde von dem Literaturwissenschaftler Christian Metz als ein Reparaturvorhaben bezeichnet und du selbst hast die Wichtigkeit der Tradition für dich betont. Die literarische Avantgarde ist ja uns ja eher als eine Strömung bekannt, die mit der Tradition brechen wollte. Schon in dieser Hinsicht war es ja vielleicht paradox, dich in eine Tradition der Avantgarde einzuordnen. Welche Rolle spielt denn dabei für dein Schreiben die Tradition?
Franz Josef CZernin: Tradition ist, so glaube ich, eine Aufgabe oder ein Rätsel, das zu lösen wäre, aber tatsächlich nicht einmal annähernd vollständig gelöst werden kann. Ich vermute, das setzt auch voraus, literarische Traditionen nicht einfach als eine Folge von zum Teil historisch gewordenen, zum Teil gegenwärtigen Werken zu verstehen, sondern auch als prinzipiell erfassbare Beziehungen.
Bekanntlich wird häufig (und ich glaube, zurecht) angenommen, dass eine Voraussetzung von Selbst- und Gesellschaftsverständnis so etwas wie historisches Bewusstsein sei: Mindestens eine Ahnung oder wenigstens einiges Wissen dessen sei wünschenswert, wie und warum wir und unsere Gesellschaft so geworden sind und auch wie und warum wir heute so und so werden. Genau analog verhält es sich für mich auch mit dem sagen wir, literaturhistorischen Bewusstsein.
In dieser Perspektive sehe ich die (und auch meine) Poesie als einen Versuch, der Geschichte oder den (für mich maßgebenden) Geschichten der Literatur hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Wirksamkeit und ihren gegenwärtigen Erkenntnismöglichkeiten gerecht zu werden.
Wenn das nicht unsinnig oder eine Art von Hybris ist, gilt dann nicht auch: Je weniger man Geschichte, auch die der Literatur, versteht, umso weniger versteht man die eigene, auch literarische, Gegenwart, und je weniger man, die auch literarische, Gegenwart versteht, umso weniger die Geschichte und auch die literarischer Werke. (Je weniger erfühlt, erahnt man… Verstehen klingt für das Hervorbringen von Poesie zu sehr nach begrifflicher Verfügbarkeit.)
Die historischen Avantgarden verdanken sich allerdings auch dem Impuls, mit Traditionen zu brechen, ja vielleicht von einem Nullpunkt aus neu zu beginnen. Mir (und bekanntlich nicht nur mir) aber scheint, die Werke, die sich diesem Impuls verdanken, sind ihrerseits historisch geworden und können heute, wenn ihre Verfahren einfach übernommen werden, nicht zu folgenreichen Erfahrungen und Erkenntnissen führen.
Wenn aber, wie Du wahrscheinlich zu Recht meinst, meine Texte mit Avantgarde und Sprachexperimentellem, vielleicht überhaupt mit modernistischen Traditionen in Verbindung gebracht werden, dann wohl deshalb, so hoffe ich wenigstens, weil eben auch Aspekte dieses, nun historischen Modernismus, in meine Poesie integriert werden wollen.
Ist aber nicht jedes Werk, jede literarische Gegenwart, ungerecht oder ungemäß? Wenn ja, dann heißt das auch ganz handgreiflich: Nur ein Teil der möglichen Beziehungen zwischen sprachlichen, mentalen und sozialen Dimensionen wird jeweils verwirklicht. Es gibt nur unzulängliche Partiallösungen, bestenfalls Teile, die für das Ganze stehen wollen. Mein Versuch, unterschiedliche Traditionen zu integrieren, ist wohl auch ein Versuch des Widerstands gegen diese Ungerechtigkeit. Die Reparaturen, von denen Christian Metz in seinem Vortrag in Mürzzuschlag gesprochen hat, beziehen sich deshalb auf einen utopischen Gegenstand, während reale Kunstwerke doch nur Reparaturen sein können (und ich glaube, das hat Metz auch so gemeint).
Reflexion
CZ: Rückfrage an Dich, Hendrik: Wenn überhaupt, wo und wie siehst Du das anders? Gibt es diesbezüglich auch eine Art Reibung zwischen unseren Haltungen, so wie Du das in Mürzzuschlag angedeutet hast?
JA: Meine Rede von den Reibungen bezog sich wohl eher auf die Weise unseres Kennenlernens und unserer langsamen Annäherung. Reibung entsteht ja meistens eher da, wo eigentlich auch eine Nähe besteht. Ich glaube, wenn es eine Differenz in dem gab, was wir uns beide von Literatur (damals) wünschten, dann rührt der Satz deiner Antwort daran, der die begriffliche Verfügbarkeit problematisiert. Das Problem von (rationaler, differenzierend-sortierender und nicht bildhafter oder mimetischer) Sprache ist tatsächlich das Abschließende, Arretierende ihrer Feststellungen.
Meine Antwort darauf war in früheren Jahren, auch atmosphärisch-emotionale Momente in Gedichten anzuvisieren. In Bezug auf Erkenntnis wären das Verfahren, die vielleicht weniger an expliziter Reflexion orientiert sind, als an kathartisch-staunenden Momenten.
Diese vermeintlichen Differenzen betreffen wohl gar nicht so sehr die Erwartungen an Literatur: nämlich eine Form der Erkenntnis zu sein. Ich bin ziemlich sicher, dass du auch zustimmen würdest, dass zum Beispiel in stark bildlichen oder emotional dramatischen Verfahren (erst recht in atmosphärischen, die nach den unsichtbaren Komponenten von Wirklichkeit fragen) auch Erkenntnis eingefaltet liegt – aber eben nicht expliziert und verfügbar gemacht. Die Differenzen betrafen eher die Rückschlüsse für das eigene Schreiben. Ich bin über diese Differenz aber sehr glücklich, sie war sehr produktiv, indem sie mich daran erinnerte, nicht mit meinen Verfahren zufrieden zu sein (ich glaube Zufriedenheit ist nahezu tödlich für die Literatur), ja: je noch einen Schritt weiter zu gehen und von sich selbst, wie oben angedeutet, zurückzutreten. Das ist bei den angesprochenen Verfahren, die nicht so sehr experimentelle Versuchsanordnungen sind, sondern auch affirmative Tendenzen haben, durchaus schwierig, ohne etwas an ihnen zu verraten.
CZ: Einverstanden. Ich will hier aber, um Missverständnisse zu vermeiden, festhalten, dass man auch die Möglichkeit des Begrifflichen bzw. Aussagehaften nicht einfach ausschließen soll. Denn wenn, etwa in einem Gedicht, Reflexion in dem von Dir gemeinten Sinn ausgeschlossen oder ausgespart wird, dann ist sie doch oft als Ausgeschlossenes zu erahnen. Das Ausgeschlossene wäre dann in einer plausiblen Rezeption auch anschlussfähig. Das von dir so genannte „Eingefaltete“ ist dann auch das Mitgemeinte.
Ich sage mir in diesem Zusammenhang: Ich wollte eigentlich in den von mir bisher veröffentlichten Gedichten nie explizite Reflexionen vorkommen lassen. Vielleicht verhält es sich da bei meinen Verwandlungen von Canti der Divina Commedia etwas anders. Da kommen wahrscheinlich dann und wann explizite Reflexionen vor. Auch deshalb, weil es in der Commedia in vielen Passagen explizite Reflexionen gibt. Und explizite Reflexionen in Versen vorkommen zu lassen, enthält eine Reihe von Herausforderungen, die ich jetzt suche, weil ich sie, wie ich glaube, vorher nicht in diesem Maß gesucht hatte.
JA: Sind eingefaltete Aussagen dennoch verfügbare?
CZ: Was wiederum verfügbar und nicht-verfügbar heißen könnte, kann man dann vielleicht so verstehen: Eingefaltete Aussagen sind insofern nicht verfügbar, als sie nicht explizit vorkommen und also herausgelesen werden müssen und sich damit auch endgültiger Feststellung entziehen. Sie sind aber in dem Sinn verfügbar, als sie zur Bedeutung bzw. zur plausiblen Auslegung eines literarischen Textes gehören.
Aber es gibt noch, schlage ich vor, eine andere Art von Nicht-Verfügbarkeit des Begrifflichen bzw. von Aussagen, die mir wichtig erscheint.
Man muss nicht annehmen, dass für eine Erkenntnis Aussagen mit Wahrheitsanspruch notwendig sind, also Aussagen, die als ernsthafte Behauptungen zu verstehen sind. Aber ich nehme es hier einmal an. Und ich nehme zudem an: Wenn Aussagen nicht als ernsthafte Behauptungen zu verstehen sind, dann haben sie auch keinen Wahrheits- und deshalb keinen Erkenntnisanspruch. In diesem Sinn sind Aussagen (anders als etwa in Theorien) in literarischen Texten zumeist nicht verfügbar. Und tatsächlich scheint mir oft ein Witz literarischer Aussagen zu sein (seien sie explizit oder implizit), dass sie der Rezeption überlassen, ob sie als Behauptungen mit Erkenntnisanspruch zu verstehen sind, und dass sie eben in diesem Sinn eingefaltet sind. In der Rezeption soll dann die Entfaltung dieses Eingefalteten geschehen. Und die Entfaltung kann auch darin bestehen, aus guten Auslegungsgründen die beiden widersprüchlichen Möglichkeiten herauszulesen, sich für eine von beiden zu entscheiden, oder zwischen ihnen gerade keine Entscheidung zu treffen.
In diesem Zusammenhang sind berühmte Zweifelsfälle aufschlussreich: Enthält zum Beispiel Celines „Reise ans Ende der Nacht“ Antisemitismen, die als Behauptungen mit Erkenntnisanspruch ernst zu nehmen sind oder handelt es sich um Darstellung antisemitischer Klischees in einer, sagen wir, Rollenprosa? Allgemeiner: Ist diese oder jene Aussage in einem literarischen Text eine Behauptung mit Wahrheits- und Erkenntnisanspruch, oder ist diese Aussage eine Darstellung einer Aussage mit Wahrheits- und Erkenntnisanspruch? Die Antwort in eine Rezeption kann dann auch in der Entfaltung dieser eingefalteten Möglichkeiten bestehen.
Angenommen nun, man verwirft im Beispielfall die Möglichkeit, es handle sich um eine Darstellung antisemitischer Klischees, und entscheidet sich dafür, dass Celines Roman einfach antisemitische Aussagen enthält, also dass es sich hier um Rassismus handelt. Wie, in welcher Weise greift dann der Erkenntnisanspruch der im Text vorkommenden rassistischen Aussagen oder Hypothesen auf das ästhetische Urteil über, wenn man annimmt, jene rassistischen Aussagen seien falsch? Dass die angenommene Wahrheit oder Falschheit von Aussagen, die als ernsthafte Behauptungen mit Wahrheits- und Erkenntnisanspruch gelesen werden, auf ästhetische Werturteile übergreift, scheint mir offenkundig. Wenn man dem zustimmt, dann heißt das umgekehrt, dass die Annahme, diese oder jene Aussage mit Erkenntnisanspruch sei wahr, in literarischen Texten auch ästhetische Urteile positiv mitbedingen kann. Das enthält wohl auch eine Möglichkeit über den berühmten Zusammenhang von Ethischem und Ästhetischem zu sprechen.
Bei Dante und bei meinen Dante-Versuchen stellt sich diese Frage übrigens in besonderem Maß. Analog und dies in engem Zusammenhang mit der Rolle der Reflexion.
Blödigkeit
JA: Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Differenz zwischen unseren Positionen war eine Formulierung, die auf der Tagung fiel: „die Reflexion der Kunstgriffe während ihrer Anwendung.“ Das geht ja über ein lediglich Auszufaltendes noch hinaus. Ich kann mir zwar ein „eingefaltetes“ intuitives Verstehen vorstellen, aber nur schwer ein nicht-explizites Reflektieren.
FJ: Ich frage mich hier, ob nicht die Form eines literarischen Textes die Reflexion von Kunstgriffen während ihrer Anwendung enthalten kann. Ein Reim zum Beispiel kann Zusammenhänge zeigen, die Aussagen über den Reim nahelegen. Ein Reim kann ja auch zeigen, dass er und was ein Reim in diesem oder jenem Kontext ist. Und so für alle denkbaren formalen Verfahren. Vielleicht ist das auch eine Beschreibung eines Aspekts von romantischer Ironie.
JA: Mein Vorbehalt gegenüber Reflexion im Gedicht (was nicht Ablehnung bedeutet) wäre, dass das Reflektierte immer schon im Bann einer Wiederholung steht, sich selbst im Weg stehen kann. Nun ist „unreflektiert“ natürlich auch problematisch. Eine nicht reflektierende Dichtung könnte schnell naiv erscheinen oder sogar in etwas billige Effekte abrutschen. Andererseits weisen immer wieder in der Tradition (von Puschkin bis Hölderlin) die Dichter ja auf eine gewisse benötigte „Blödigkeit“ hin – und die hatte oder habe ich zumindest, im Guten wie im Schlechten. Im Sinne so einer Blödigkeit war ich nicht bereit, aufgrund dieser Gefahren alle Verfahren, die mit so einer emotional-atmosphärischen Ansprache und auch mit ästhetisch auf Wirkung gehenden Verfahren arbeiten, gleich zu verabschieden. Exemplarisch schien mir dafür ein Streit mit Ulf Stolterfoht (der in Gesprächen nahezu stellvertretend für eine gewisse Ausrichtung das „Projekt der Poesie“ als ein Fortschrittsprojekt beschrieb) über Jan Wagner zu sein, den ich verteidigte, trotz oder gerade wegen seiner Momente, die ich später als „Retroverfahren“ beschrieb.
CZ: War das so? Waren Gedichte in vergangenen literarischen Epochen wirklich zumeist emotional-atmosphärischer? Ich glaube das eigentlich nicht. Retroverfahren? Wie beschreibst Du sie für Jan Wagners Gedichte? Das interessiert mich. Sind zum Beispiel bestimmte Metren, Strophen und Gedichtformen mit ihren starken atmosphärischen und emotionalen Wirkungen für Dich „Retroverfahren?
Und ist die Poesie ein Fortschrittsprojekt? Dass sie sich verändert und sich in diesem Sinn entwickelt, wird man kaum bestreiten können. Aber im Sinne eines Fortschritts? Ich finde keine fundierte Antwort. Jede Antwort setzt so viele Annahmen und Einstellungen voraus. Jede Antwort wäre mir zu groß.
JA: Retro bezeichnet für mich ein Verfahren, das nur für Wagner gilt, eine spielerische Aufnahme von signifikanten Merkmalen von Erscheinungen, die aus ihrem historischen Kontext gelöst werden, um sie zu einer Art Miniatur zu machen. Aber das ist nicht so wichtig, worauf ich in diesem Zusammenhang ziele: Es geht ihm dabei nicht so sehr um die Reflexion dessen, was er macht, sondern um Verstärkung von phänomenologischen Effekten, um ein Erfahrbarmachen von Impressionen in neuen Zusammensetzungen.
CZ: Ich vermute jetzt, was Du meinst, läuft auf so etwas wie ein direktes oder starkes Ansprechen hinaus. Vielleicht muss sich dabei auch auf vergleichsweise sprachlich Vertrautes verlassen. Das ist natürlich eine mögliche Haltung zur Poesie.
JA: Ich glaube, Stolterfoht schien das zu naiv, zu ungebrochen (was er später dann etwas einschränkte). Ich sehe da aber eher eine gewisse unverzichtbare „Blödigkeit“. Das muss natürlich nicht rückwärtsgewandt sein oder ahistorisch. Und natürlich gibt es die Gefahren. Nur gibt man womöglich, wenn man manches um jeden Preis vermeidet, auch anderes preis.
CZ: Ja, man gibt immer etwas preis. Das ist auch ein Symptom des Historischen. Und Blödigkeit scheint mir der Humus, ich finde sie auch reichlich bei mir. Diese Blödigkeit oder Naivität kann sicher auf unterschiedliche Weisen fruchtbar werden. Meine eigene Blödigkeit ist vielleicht verwandt mit dem von Benn so genannten primären Verhältnis zum Wort. Ein primäres und wohl auch ein primitives Verhältnis. Und das Fruchtbare solcher Blödigkeit wäre, dass sie zum unbedachten Risiko führt, zum Risiko des Misslingens. Die Blödigkeit und ihr Risiko scheinen mir aber Entdeckungen über das jeweils verfügbare Begriffliche hinaus zu erlauben. Sie sind vielleicht ein Aspekt davon, dass man nicht Herr im eigenen Haus und auch nicht im Haus der Sprache ist.
Ich glaube, Novalis sagt einmal: Gute Gedichte werden aus schlechten gemacht. Das Umgekehrte ist aber ebenso wahr: Schlechte Gedichte werden aus guten gemacht. Vielleicht kann man auch sagen: Auch ästhetisch Intelligenteres wird aus Blödigkeit gemacht. Eben diese Transformation findet beim Verfassen, aber auch beim Lesen von Gedichten und von Literatur überhaupt andauernd statt. Die Blödigkeit verwandelt sich in ästhetische Intelligenz und diese oft wieder in Blödigkeit. Und wenn die Blödigkeit das letzte Wort hat, dann hat man mit dem eigenen Werk Pech gehabt.
Aber Du verstehst unter „Blödigkeit“ offenbar noch etwas anderes: Wohl auch ein Vertrauen auf, sagen wir, starke und naive Emotionen. Bessere Gedichte aus schlechteren machen: Vielleicht lässt sich das auch als Transformation von starken, naiven Emotionen verstehen? Das heisst aber auch: Naivität und Blödigkeit sind auch ein Ausgang, im doppelten Sinn des Wortes.
Skepsis
JA: Ja, diese „Blödigkeit“ hat ihre Grenzen, die man irgendwann überschreiten sollte. Allerdings sehe ich diese Grenzen inzwischen auch bei der Erkenntnisfähigkeit. Obwohl für mich Poesie Erkenntnismittel bleibt, bin ich inzwischen skeptischer, was ihre Möglichkeiten angeht bzw. die Möglichkeit, diese Grenzen zu überschreiten. Diese Skepsis sehe ich aber bei dir auch. In dem Maße, wie ich dein Verfahren auch als skeptisches lesen kann, verstehe ich dann auch deine Gedichte sehr viel besser.
CZ: Das beruhigt mich. Ich frage mich nur: Ist Skepsis hier der für mich richtige Begriff? Ich bin nicht sicher. Sind in literarischen Texten Haltungen, Ansichten, Aussagen, Erkenntnisansprüche nicht vor allem Kräfte, die in Gestalt eines Textes sozusagen aufeinander losgelassen werden, nämlich so, dass sie Erfahrungen und mit ihnen Weltanschauungen (nicht ganz im geläufigen Sinn des Wortes) provozieren – in Lesenden, die durch diese Kräfte nicht bevormundet sein sollen, sich aber doch einer Art Katharsis hingeben können? Skepsis durch einen Text darzustellen, sehe ich deshalb meistens eher als eine Möglichkeit, als eine Kraft unter anderen. Ob ich, ein Autor, selbst skeptisch in Bezug auf dieses oder jenes bin, scheint mir sekundär.
JA: Das mag für das Werk irrelevant sein, aber mir hat es eine Lesemöglichkeit geöffnet, weil die Haltung des Autors vermutlich doch auf das Verfahren durchschlägt. Und in Analogie zu dem, was du oben beschrieben hast mit dem Ausstellen von Behauptungen oder dem Behaupten würde ich sagen, ich habe nach und nach verstanden, dass deine Texte nicht nur mehr oder weniger durcheinandergewirbelte „Probesätze“ sind, also sozusagen wahlloses Herumspielen. Sondern dass sie, als im Ansatz skeptische Versuchsanordnungen gelesen, mehr sind als „Beispiele der österreichischen Avantgarde“ (so der etwas problematische und irreführende Titel einer Anthologie). Sie sind dann für mich in einem positiven Sinn reflexiv, indem nämlich die Reflexion weniger Ausgang ist (wie ich vermutete), sondern eher das Telos (oder wenn Ausgang, dann im zweiten Sinn: wohin sie einen führen). Diese Reflexion, die kraftvoll aus einem Czerningedicht hervorgeht (die das Gedicht sozusagen nahelegt) wäre zum Beispiel bei einem Wagnergedicht eher ein Nebeneffekt, den man aufgreifen kann oder nicht, aber der einem nicht so nahekommt, wenn man nicht möchte.
Metapher
JA: Anschließend daran könnte man fragen: ermöglicht diese Freiheit von/zur Reflexion einen unverfänglicheren Umgang mit Bildern? Ich würde gern nochmal auf das Thema Bild und Unmittelbarkeit zurückkommen. Da gibt es ja in der Metapher ein Spannungsverhältnis und du hast dich ausgiebig mit diesem, wie viele meinen, Hauptkunstgriff der Poesie beschäftigt, Bücher dazu herausgegeben. Wie hat diese Beschäftigung mit der Metapher deinen Blick auf das Bildliche in der Dichtung verändert?
CZ: Zunächst: Es war, glaube ich, eher umgekehrt. Ich habe mich gefragt, was für ein Begriff des Metaphorischen in vielen (nicht nur in meinen) Gedichten „eingefaltet“ ist. Das hat zu einer Beschäftigung mit Metapherntheorien geführt und endlich zu etwas, das ich „katachrestische Metapher“ nenne; zu einer Metapher, die, vereinfacht gesagt, widersprüchliche Begriffsordnungen enthält und auch die Möglichkeit bietet, eine normaler Weise vorausgesetzte Begriffsordnung zu revidieren. Diese katachrestische Metapher ist zum einen nicht durch eine wörtliche Paraphrase ersetzbar und kann zum anderen auch zum Erkennen von Gegenstandsbereichen führen, für die es keine vertrauten oder normalen wörtlichen Bezeichnungen gibt, sondern lediglich Metaphorische (in diesem Sinn „bildliche“), die aber dann auch die Bedingungen für wörtliches Bezeichnen erfüllen.
Ich weiß schon, das ist ziemlich abstrakt. Vielleicht kann ein Beispiel deutlicher machen, worauf ich hinauswill. Im Paradiso in Dantes Commedia kommen viele Begriffe vor, die sich auf Lichtdinge beziehen – Begriffe wie Licht, Leuchten, Strahlen, hell, blendend usw. Zugleich meint Dante auch wiederholt, dass die irdische Sprache und im Besonderen die Ordnung ihrer Lichtbegriffe, da sie normalerweise auf sinnliche erfahrbare Lichtdinge angewendet wird, nicht dazu geeignet ist, paradiesische Dinge zu bezeichnen.
Im Paradiso gerät aber Bezeichnung paradiesischer Dinge mit den Lichtbegriffe so überzeugend, gewissermaßen einleuchtend, die Lichtbegriffe scheinen auf einige paradiesische Dinge so gut und konsequent anwendbar, dass die zunächst vorausgesetzte normale Ordnung von Lichtbegriffen mit einer anderen, gewissermaßen paradiesischen zu konfrontieren ist; einer Begriffsordnung die, im Widerspruch zur gewohnten, auch nicht-sinnlich erfahrbare Lichtdinge durch Lichtbegriffe wörtlich zu bezeichnen erlaubt. Dennoch bleibt dabei der Widerspruch zwischen der normalen und der sie konfrontierenden neuen Begriffsordnung wirksam. Der Prozess der Revision ist nicht abschließbar, er bleibt sozusagen virulent. (In Mürzzuschlag haben Wolfram Pichler und ich in einem Gespräch einiges dazu zu erläutern versucht.)
Ich glaube tatsächlich, dass es einen engen Zusammenhang dieser „katachrestischen Metapher“ mit dem Reflexiven gibt. Denn unterschiedliche und widersprüchliche Begriffssysteme als Bedeutungen eines einzigen Texts zu erfahren, enthält wohl auch schon einige Reflexion und einen sagen wir, Perspektivismus. Allerdings kann dieser Perspektivismus, kann diese Reflexion, in der poetischen Erfahrung eingefaltet sein, ist wohl in vielen Fällen oder Rezeptionsphasen sind sie nicht begrifflich verfügbar.
JA: Du sprichst vom „Paradiesischen“ wie von etwas Wirklichem. Man könnte ja auch sagen: die Rede vom Paradiesischen eröffnet überhaupt erst dem Wort Licht einen weiteren Möglichkeitsraum jenseits des Konkreten. Und dieser lag immer schon eingefaltet im Wort, das eben die Möglichkeit hat, sich mit anderen zur Metapher zu verbinden. Liegt hierin der Grund, warum es so eine starke Tradition gibt, die das Dichterische als Lebensform oder Tun glorifiziert? Bei Novalis „Sängern“ angefangen bis über George hin zu H.C. Artmann, der mit großer Emphase dann sagen konnte, man müsse nicht einmal schreiben, um Dichter zu sein (um nur ein paar aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen).
Eben weil der Dichter immer schon „doppelt“ sieht? Oder lese ich da zu viel in einen einfach schwärmerischen Begriff von Dichtung hinein? Aber was hieße dann „schwärmerisch“? Einfach ein Gemütszustand? Aber der scheint ja doch durch irgendeine Sache, etwas Verheißungsvolles überhaupt erst aufgekommen zu sein, etwas, das im Doppelbödigen, im Abgrund des Worts beschlossen zu liegen scheint.
CZ: Wenn Du mit „jenseits des Konkreten“ transzendente Sphären, etwa diejenigen in Dantes Commedia, meinst, ja, dann könnte dieser Mythos oder das Klischee des Dichters als Seher damit zu tun haben, dass der Poesie zugetraut wurde, privilegierten Zugang zu Transzendentem zu haben. Zu Artmann seiner Haltung passt das aber, glaube ich, nicht. Zu Novalis, George oder etwa auch zu Rudolf Borchardt schon, und in der Rezeption der Commedia spielt die Vorstellung Dantes als eines Sehers auch eine große Rolle.
Ich will das aber lieber nüchtern verstehen. Das Metaphorische, so wie ich es oben zu erläutern versuche, ist dann eine Möglichkeit, auf Gegenstände Bezug zu nehmen, deren Existenz fraglich ist. Was die Commedia angeht, ist für uns heute (wenn auch wohl nicht für Dantes Zeitalter) mindestens fraglich, ob Inferno, Purgatorio und Paradiso real existieren oder ob sie fiktional sind. Wahrscheinlich sind für den Common Sense der literarischen Welt diese Sphären fiktional.
Mir fällt hier das berühmte Wort Adornos ein: Kunst ist Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes. Das lässt sich, glaube ich, für meinen Versuch der Verwandlung von Canti abwandeln: Poesie ist Transzendenz im Augenblick ihres Sturzes oder auch: Poesie ist der Sturz im Augenblick seiner Transzendenz.
Das ist natürlich auch Schwärmerei. Ich muss mir schon eingestehen: Über das Schwärmerische komme ich nicht wirklich hinaus. Aber womöglich ist Schwärmerei sowieso unvermeidlich. Wenn man Ich sagt und sich auf sich selbst bezieht, ist man ja vielleicht auch schon ein ungeheurer Schwärmer und auch deshalb, um darauf zurückzukommen, voller Blödigkeit.
JA: Also Blödigkeit lauert nicht nur im Sentiment oder in der Transzendenz, sondern bereits in der Figur des Selbstbezugs, dem „kleinsten Kreis“ einer Reflexion. Weil ich, wenn ich „Ich“ sage, mich teile und doch zugleich glaube, ein einheitliches „Ich“ souverän herstellen zu können (das klingt ja bereits im Thema von Hölderlins berühmtem Text „Urteil und Seyn“ an). Aber, um nochmal nachzufragen: kommt das dichtende Ich ohne emphatisches Dichter-Ich aus? Deshalb zählte ich Artmann hinzu, als Frage, ob der Dichterpathos nicht im verklärten und erklärten poetischen Act weiterlebt. Und wenn nicht, was hat es dann mit dem Schwärmerischen in der Dichtung nun auf sich?
CZ: Was Artmann angeht: Das emphatische Dichter-Ich ist bei ihm für mein Gefühl eher als Pose inszeniert und wird dadurch ostentativ und ironisch unterlaufen. Aber das heißt ja vielleicht auch, dass auch der Dichter Artmann nicht ohne Pathos und das Emphatische auskommt.
Das Schwärmerische und die Blödigkeit, das sind mindestens Komponenten der Emphase des Dichter-Ich. Und diese Emphase scheint auch mir notwendig; sie interferiert aber (so phantasiere ich gerade) mit Reflexion und mit dieser auch oft mit Nüchternheit und Skepsis. Das wäre die Spannung, die sich dann in Poesie entlädt, in Blitz und Donner sozusagen. –Das habe ich jetzt davon, dass ich mich Metaphern überlasse: Eine Dichter-Psychologie, von der ich nicht weiß, ob ich sie ernsthaft behaupten kann.
Das Gespräch führte Hendrik Jackson