Im Text der Anderen

Das Übersetzen von Gedichten beginnt zuweilen ganz unscheinbar damit, von etwas angezogen zu werden, das man nicht selbst geschrieben hat. Man muss natürlich erstmal drauf kommen, und das ergibt sich erfreulicherweise immer wieder neu,  fast von selbst (alles ist verflochten und sirrt oder flirrt unaufhörlich von draußen herein). Allerdings besteht auch immer wieder die Gefahr, einen ersten Eindruck vom zu Übersetzenden zu gewinnen, der nichts sagt. Alles schweigt, nicht nur der Fremdsprache, sondern auch des fremden, nicht-eigenen Tons wegen. Lesend und immer wieder lesend, muss ich diesen Ton dazu bringen, sich mir mitzuteilen. Da sind Bruchstücke, und die, die ich erkenne, sind wie Inseln in einem matt oder auch aufgeregt fließenden Gebräu, oder Mosaiksteine eines wie frisch ausgegrabenen Bodenmusters, dessen komplettes Bild ich mir Wort für Wort, Zeile für Zeile erarbeiten muss, buchstäblich.

Es kommt vor, dass das noch eher amorphe Ganze durch etwas wie blinde Flecken hindurchschimmert, dann ist die Erstellung einer deutschen Fassung geradezu (fast) nur Fleißarbeit, will sagen, sie geht unauffällig und ohne größere Irritationen vonstatten. Oft schiele ich aber bereits am Anfang aufs Ende oder wenigstens die letzte Zeile, um vorwegzunehmen, worauf das Original zuläuft. Und dieser Schwung, der im Ende ausschaukelt, erlaubt es mir, wenn ich es schnell genug erfasse, den Rest, die Stille des Noch-nicht-Erfassten nicht nur besser zu ertragen, sondern auch Stück für Stück im Sinne dieses alles erhellenden Endes zu entschlüsseln.

Übersetzen ist ein Entschlüsselungs-, ein Erhellungsvorgang, dem Lektorieren nicht unverwandt, das ja ebenfalls ein Hineinknien in etwas Fremdes und Dunkles und letztlich auch Übersetzungsarbeit ist – wie möglicherweise grundsätzlich alles Schreiben: Gedanken verschriftlichen heißt, sie in die Kähne der Schrift auszusetzen, die ihrerseits übersetzen zum dunkeldröhnenden Ufer, das man nicht mal vom Hörensagen kennt.

Ich kann womöglich einen Dreischritt beschreiben, der den Gang durch die Texte der Anderen rhythmisiert: die erste Überschau, die sich aufmacht, Ton- und Sachlage zu eruieren; die (eher routinierten) Freuden des Erstellens einer ersten Zielsprachenfassung, die zuverlässig die Lexik (r)überträgt, eins-zu-seins, wobei hier oft schon Entscheidungen in diese oder jene Richtung notwendig werden, Stichwort Mehrdeutigkeit; und schließlich die (echten) Freuden der Arbeit an der Kenntlichmachung dieser latent glanzlosen Fassung als eine mit Trademark, Eigenart, Handschrift, versehen mit eigenem Gütezeichen, Branding, dem eigenen Logo oder dem Logo des Eigenen. Ich betone das so, weil mich die Frage förmlich lebenslang umtreibt, was einen guten Text ausmacht – nicht zuletzt auch den aus fremden Sprachquellen stammenden eigenen.

 

Marcus Roloff