Gastbeitrag von S. Anderson

 

So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen

 

In meiner Kindheit am Weimarer Frauenplan ging das, was erzählt wurde, zum Beispiel das Märchen von Баба Яга, der gleichermaßen guten und bösen Gestalteinheit von Jungfrau, Mutter und altem Weib, die in einem — in gerade noch erträglichen Maß mobilen — Haus auf drei dreikralligen Hühnerbeinen wohnte, vor allem in Versen durch die Strophen: Es waren vokalstarke, oft dunkle Verse. Dunkel, wie der durch die farbigen Bleiglasfenster hoch oben in den Zimmertüren belichtete Flur der Wohnung. Getrieben von den dampfzischenden Konsonanten andauernder Küchengeräusche.

Jahre nachdem meine Großeltern gestorben und, ehe ich eingreifen konnte, ihre russischsprachigen Bücher auf dem Müll entsorgt worden waren, habe ich in jedem DDR-Antiquariat, das mir über den Weg lief, versucht, die Texte meiner Kindheit wiederzufinden. Die Baba Jaga in Versen stand nirgendwo in den Regalen. Ich begegnete ihr erst bei den Brüdern Strugazki wieder, als Figur im Roman »Der Montag fängt am Samstag an«, der 1990 kurz vor dem Ende der DDR im Verlag Volk & Welt erschienen war. Da ging es mir plötzlich wie Janus Poluhektowitsch Newstrujew. Es riss mich in eine etwas weniger diskrete Kontramotion.

Die russischen Verse waren wieder da, und vor allem die Stimme meiner Großmutter. Zwar nicht das Nowgoroder Russisch ihrer Kindheit, aber das Baltische Deutsch ihrer besten Jahre, das sich seither, da ich mir vor allem fremde Gedichte laut vorlese, ganz im Hintergrund etwas ostpreußisch gebärdet. Außerdem vermochte meine Großmutter fast jeden Text in ihre Lieblingsvase, ich nenne sie die alexandrinische Vase, zu gießen — egal, ob er von den nach dem Frühstück gelegten Patiencen, dem karg bestückten Wochenmarkt vor dem Hotel Elefant in Weimar oder den von den Fassaden der Berliner Stalinallee auf die Straße klatschenden gallegelben Kacheln handelte. Mein Großvater meinte, es sei ein Spleen aus den Tischgesprächen der Damen des Hauses, wenn sie Tee und Варенье aus den tieferen Untertassen schlürften. Ich beschloss, dass die Bedingung des Gedichts die Stimme zu sein hat.

In der Poesie gibt es meiner Ansicht nach die erprobten und bewährten, mit allen Wassern gewaschenen klassischen Vasen, die nur dann funktionieren, wenn das Vergessen funktioniert: Das Vergessen der Form, der das Sagbare von vornherein zu entsprechen hat. Denn das Gedicht ist vor der Entscheidung, es zu schreiben, längst »geschrieben«. Und nun stelle man sich vor, wie ein junger Lyriker (z. B. ICH) Blumen für wen auch immer kauft, aber er kauft sie in Wirklichkeit für das ererbte Sammelsurium oft als skurril empfundener Vasen, wie es fast jeder Haushalt, der es über drei, vier Generationen schafft, kennt. Das kann nichts werden.

Als ich in den frühen 1970er-Jahren in der erst von der sowjetischen Militäradministration enteigneten, dann dem Schriftstellerverband der DDR verkauften Marika-Rökk-Villa in Petzow am Schwielowsee bei Heinz Kahlau in Versen schreiben lernte, hatte ich schon etwa 500 Gedichte geschrieben. Nach den drei zweiwöchigen Lehrgängen in aufeinanderfolgenden Jahren, lagen mehr als 1000 Seiten in den Schubladen des mir von meiner Großmutter zum vierzehnten Geburtstag geschenkten zweihundert Jahre alten Schreibsekretärs. Als Anfang der 80er-Jahre mein erstes Buch im Westberliner Rotbuch Verlag erschien, hielt noch ein einziges der 3000 bis 1980 geschriebenen Gedichte meinen inzwischen ziemlich gegenläufig gefügten Maßstäben stand. Diese sind immernoch: So lange die Vase keine Metapher ist, sondern Realität, der Text also weder Rose noch Feldblumenstrauß — von den Flüssigkeiten mal ganz abgesehn —, kann das Gedicht seiner Virtualität gerecht werden. Jede virtuelle Realität (VR) hingegen ist eine Erfindung wie sie jene Händler ans Volk verleasen, die aus Geld Geld machen.

Der zweite meiner Maßstäbe ist hausgemacht, aber ebenfalls mit der Kunst des Vergessens verknüpft. Nachdem ich das, was ich wie Stricken gelernt endlich vergessen hatte, begann ich, all das Geschriebene nicht mehr daraufhin zu untersuchen, in welcher Zeit (denn die charakterisiert sich im Nachhinein ausschließlich über das Stickmuster), sondern an welchem Ort es verankert ist. Ich nahm (und nehme) an, dass der Moment des Entstehens eines Gedichts kein Zeit- sondern ein Raumpunkt ist, ein Raum namentlicher Begegnung mit was auch immer, und jeder ihm folgende Text prinzipiell nicht weniger als die Metapher seiner Expansion. Und die Metapher für das zerfallende Verhältnis von Raum und Zeit ist das Erinnern.

Das, was allgemein, so irgendwie zwischen gestern und morgen »heute« genannt wird, scheint mir — immer vom Text aus gesprochen — vor einer Zeit zu liegen, die als solche überhaupt zu bezeichnen wäre. Der stumme Brennpunkt, von dem alles (wie ein Rauschen) ausgehen wird. Aber ich werde mich nicht erinnern an das, was war, sondern versetze mich in die Lage, das wahrzunehmen, was geworden sein wird.

Also verzweifle ich an der von mir am meisten geschätzten Eigenschaft einer Stimme, ihrer Fähigkeit zu verstummen — von mir aus auch, wieder zu verstummen. Ohne Pointe, denn die verstehe ich als ein Verstummen »zur rechten Zeit im rechten Ohr«. Aber das funktioniert nicht, weil, während der Text schweigt, die Metapher als physikalische Quintessenz ausschwingt. Mathematiker, die sich gern mal mit der Theorie der Harmonielehre befassen, oder wie Leonhard Euler intensiv befassten, würden in diesem Zusammenhang auf die ungegriffene, frei mitschwingenden Saite verweisen.

Ich habe keine Ahnung, ob meine Großmutter, die zehn Jahre vor der russischen Revolution in Moskau Mathematik studiert hat, jemals von auch nur einem Gedankenstrich aus den unendlichen Weiten der Metaphysik der Sprache, wie sie sich zum Beispiel im Gebrauch der Metapher bei Augustinus auftun, angeweht wurde. Allerdings spielte sie sehr gut Klavier und wird sich auf mitschwingender Ebene nicht fremdgeschämt haben, als sie in Arthur Schopenhauers Texten »Zur Metaphysik der Musik« auf das Gleichheitszeichen zwischen Quinte und Tier stieß.

 

Intermezzo:

Ich bin ja ein Mensch, der, während er spricht, hört, was er sagt. So kann das Gedicht nicht der selbstgewusste, sondern der sich selbst bewusste Text werden. Und anders geht es ja auch gar nicht. Dermeißt wird dieses Selbstbewusstsein in die Form, die äußere, die gesellschaftlich bewährte Gestalterscheinung des klassischen Gedichts verpackt. Ich werde das nicht als Betrugsversuch verstehen. Es ist ein selbstbezügliches Missverständnis und auf die Leserschaft bezogen die nachvollziehbare Unternehmung, sich in einem Kanon wiederfinden zu lassen. Dieser Kurzschluss allein schon stellt deutlich dar, wie es um das Selbstbewusst-Sein bestellt ist.

Wenn Sprache ins Sprechen eintaucht ändert sie ihren Aggregatzustand (Wirkung von Temperatur und Druck). In Bezug auf Gedichte würde ich dabei allerdings nicht auf fest oder flüssig oder gasförmig abheben, sondern menschlich gebunden auf schwimmend oder gehend oder fliegend. Das entfernt den Blick auf die formalen Aspekte, lenkt ihn aufs operationale Konstrukt der Verwandelbarkeit (der Sache, also des Blicks auf sie).

Eine etwas hypertrophe Metapher: Von 0 bis 9 redet es sich nach außen und bleibt eingleisig, auch vom Leser aus wahrgenommen. Kaum taucht die Zahl 10 auf, offenbart sich eine metaphysische Faltung: die Zehn als solche plus die offenkundige Beziehung zwischen 1 und 0. Erst an dieser Stelle wird der Lesende zu dem, was der Schreibende ihm bis dahin als von Berufs wegen Lesender voraus hat, zum Schreibenden.

Obwohl ich das Wort Wahrnehmung soeben benutzt habe, schließe ich beim Schreiben jegliche Wahrnehmung aus, weil ich meine, dass es sich an einer klar definierbaren Stelle (allemal nach dem zweiten Wort, der Titel wird ja doch in der Mehrzahl nach der sogenannten Pointe gesetzt) als Selbstbetrachtung verwirklicht, mehr oder weniger vom Mittel zum Zweck transformiert und sich zusätzlich als Voraussetzung der Entgleisung eignet, was wiederum eine Voraussetzung der Treue zu sich selbst ist. Eine Treue, die aus meiner Erfahrung eher honoriert wird als ein billiges Andocken an überlieferte Formen der Dichtung.

 

All dies ändert nichts daran, dass ich, seit ich mich vergessen ließ, wie ein Gedicht gestrickt sein sollte, um als solches zu gelten, auch nicht mehr weiß, was ein Gedicht ist. Nur noch, was es war. Das heißt, wenn der tschechische Dichter und Immunologe Miroslav Holub sagt: »Obwohl Künstler-sein Versagen ist und Kunst die Treue zum Versagen, wie Samuel Beckett meint, gehört das Gedicht nicht zu den letzten, sondern zu den ersten Dingen des Menschen.«, dann nehme ich ihn einfach beim Wort. Und ich entsage jenen Metaphern, die sich, so sehr ich Arabesken auch liebe, ihrem erkenntnis- wie glaubenstheoretischen background verdanken.

Im Gedanken, dem Vor-wort des Gedichts, kann man nicht ankern, denn er ist fließend. Der Anker muss in den Grund des Gedankens geworfen werden. Derart veröffentliche ich seit dreißig Jahren kein Gedicht, von dem ich nicht wenigstens weiß, warum und woher es kommt. Das sagt sich aus der Perspektive eines ersten halben Lebens in der DDR  leicht, ist aber Grund genug, mir die DDR (zumindest in Gestalt der DDR) nicht mehr nehmen zu lassen.

 

Sascha Anderson, Januar 2019

[Der Text ist ein Selbstverständigungstext des Autors anlässlich seines am 7. Januar 2019 erschienenen Lyrikbands »So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen«, Weissbooks, Frankfurt a. M. 2019, 75 S., EUR 18,-]