Dincer Gücyeter an Michael Braun

Gestern beim Vortragen zitterte meine Stimme, Michael, es ging nicht anders, aus Liebe, Michael, aus Liebe…
Meine gestrige Rede auf der Peter-Huchel-Preisverleihung für den großen Michael Braun:
Wenn der Vater geht, verliert das Haus Fenster und Türen, du läufst nur noch über eine eiskalten Boden. Das hat mir meine Mutter einmal gesagt, lieber Michael. Und jetzt will ich dich nochmal fragen: Wie geht’s dir? Ich weiß, du wirst die Augen verdrehen, ach ja, ich muss gleich wieder nach Hause, hab nicht viel Zeit, das Essen muss aufgewärmt werden. Das wirst du mir sagen, mit einem aus Müdigkeit geschliffenen Schmunzeln in deinem Mundwinkel.
Nein, Michael, bleib hier, bleib dieses Mal hier, bitte, wir haben noch etwas zu klären. Das Gedicht liegt hier auf der Straße. Wie du das Bild der Straße aus dem Fenster von deinem Jugendzimmer beschrieben hast: Die Stille, unterbrochen eines Morgens durch ein Krachen, ein Knirschen aus Glas und Eisen. So liegt das Gedicht auf der kahlen Straße mit gebrochener Stimme. Das Gedicht: unser gemeinsamer Prozess, ein Prozess, ohne Gericht, ohne Urteil.
Das Gedicht: der Versuch, dem Verständnis neue Räume zu bauen. Unermüdlich hast du diese Räume geschaffen und ,ohne auf die Führungszeugnisse zu schauen, unseren sprachlichen Ergüssen eine Unterkunft gegeben. Die Peripherie und die Metropole nie gegeneinander ausgespielt.
Wie du das Gedicht begleitet hast, erinnert mich an die Jahre meiner Kindheit. Meine Mutter war die Gläubige, die fünf Mal am Tag gebetet hat, mein Vater ein überzeugter Gottloser, die Tante versteckte jede Haarsträhne unter einem Kopftuch, ihr Mann war ein Bordellbesitzer. Und trotzdem war ein gemeinsames Leben möglich, zusammen löffelten wir die Suppe aus einem Teller. In späteren Jahren vergilbte dieses Bild des Zusammenlebens in meinem Leben. Die Politik suchte immer wieder nach neuen Feindbildern, um ihrer Glaubwürdigkeit eine Festung zu schenken, die Religionen schneiderten neue Tarnungen, um über die Wunden des Menschseins hinwegzusehen.
Ich sah dich immer mit hochgekrempelten Ärmeln das Gedicht aus dieser wütenden Flut retten. Egal in welche Richtung sich die Welt drehen wollte, du hast deinen Radius nie verraten. Wie die Kinder aus Mezopotamien die Glasmurmeln, so hast du mit einer Unschuld das Gedicht immer in der Tasche getragen. Das Gedicht war unser Altar, unsere Beichtkammer, unser Diwan, vor dem du wie ein Derwisch bei jeder Drehung unter die Haut des Wortes geblickt hast.
Die Pappeln, das letzte Flirren der Blätter in der Mittagshitze, schreibst du, mich nimmst du mit auf einen Spaziergang in einem Pappelwald. Der Chorgesang der Zaunkönige, Finken, Schwalben begleitet uns. Ich frage dich, wo du deine Gedichte versteckt hast, du streckst deine geballte Hand in den Himmel, öffnest sie, ein Einhorn mit Flügeln entpuppt sich wie aus einem Kokon. Aus einem werden Hunderte, Tausende, …
Das Gedicht war unser gemeinsames Märchen, Michael, an dem wir Halt gefunden haben. Während draußen die ohrenbetäubende Einsamkeit die hängenden, gelben Zimmer überfiel, hast du mit deinem Schweigen einen neuen Kosmos betreten.
Bei unseren kurzen Begegnungen auf dieser Lebensreise habe ich auch von dir gelernt, wie man die gestrandeten Seesterne wieder ins Meer zurückbringt. Jeder einzelne zählt, hast du mir mal bei einem Spaziergang gesagt.
Wenn der Vater geht, verliert das Haus Fenster und Türen. Jetzt geht es dem Gedicht wie dem Haus. Wie es unter der Fassade aussieht, werde ich dir später berichten. Wenn du die Suppe aufgewärmt und wieder Zeit hast.
Jetzt sage ich nur danke … danke, lieber Michael.
Bis dann.
Dein Dinçer