Über zweifelhafte Strategien bei der Verteidigung der Lyrik

„Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es BRUETERICH PRESS“ war der Slogan des gleichnamigen Verlags vor einigen Jahren und eine ironisch-schöne Ausnahme im Werben um LeserInnen.

Meist setzen LyrikerInnen und KritikerInnen, anscheinend in die Ecke gedrängt durch ausbleibende hohe Verkaufszahlen oder mürrische Lyrikmuffel oder Unverständlichkeitsverdikte, dazu an, Lyrik als Gattung mit diversen Strategien zu rechtfertigen. Monika Rinck sagte zwar vor Jahren schon: wer glaube, dass eine Gattung, die über 2000 Jahre überdauert habe, nun einfach aus Desinteresse verschwände, überschätze wohl seine Epoche; und Gerhard Falkner bekundete: wer sich nicht für Lyrik interessiere, interessiere sich nicht für sich selbst. Doch solch starke Statements, deren postulierte Allgemeingültigkeit an Grundkonstanten oder Bedingungen der menschlichen Existenz rühren, sind eher selten. Die meisten Verteidigungen der Lyrik sind zwar gut gemeint, fahren aber einen seltsamen Schlingerkurs zwischen Anbiederung an die Ignoranz („es ist doch ganz einfach“, „wir alle spielen doch in der Kindheit“ etc) und Zurechtweisung der Beschränkten („Lyrik eröffnet Räume“, „man muss sich einlassen“, „ungewohnt für den Leser“ etc).

Dabei ist weder das eine noch das andere nötig: Lyrik muss in keinen Wettbewerb gestellt werden, muss ihre Qualitäten nicht beweisen und ihr muss kein Mehrwert oder Fun-Factor zwanghaft nachgewiesen werden. Sicherlich, wir haben es mit Leistungsgesellschaften zu tun, die auch in ihren radikalsten und in letzter Zeit zunehmend flächendeckenen Egalisierungen nicht vom Prinzip des Wettbewerbs lassen können. Es sollen zwar alle unterkommen, aber irgendeine Reihenfolge, eine Hierarchie muss doch her, irgendeine Kanonisierung oder Empfehlung, die Geltung beanspruchen kann. Aber wenn Lyrik in irgendetwas besteht, dann doch gerade darin, nicht kompetetiv zu sein, sondern Erfahrungen jenseits von Sieg und Niederlage, von Verdienst und Konvention zu ermöglichen.

Wozu sollte sich Lyrik überhaupt rechtfertigen? Hat sie je den Anspruch gehabt, Allgemeinnützliches abzuliefern, an dem sie messbar wäre? Nein, es ist die Gesellschaft selbst, die gerne einen Goethe, einen Celan kanonisieren und damit verpackbar machen will und für das nationale Kulturerbe verwertbar. Aber verlangen die LyrikerInnen nicht bessere Preise und Förderungen? Mag sein, doch unabhängig davon, ob es dafür gute Gründe gibt, ob es unverschämt oder konsequent ist: Lyrik selbst muss sich nicht rechtfertigen, vor allem aber kann sie es nicht. Die Lobpreisung und das Nahebringen durch ihre vermeintliche Besonderheit, die irgendwie verpflichtend sei, ist ein trügerischer Rettungsakt. 

Denn in Wirklichkeit muss niemand irgendetwas und auch nicht Lyrik ergründen. Shakespeare lesen, nur weil man ihn gelesen haben sollte? Was soll das bedeuten? Imperative ersetzen keine Gründe. Diese aber anzugeben, fällt bei Literatur nicht nur grundsätzlich schwer (und bei Poesie noch schwerer), sondern es wird leicht vergessen, dass jeder mögliche Grund einige Bedingungen zur Prämisse machen muss. Die Bedingung dafür, dass ich an gutem Essen interessiert bin, ist, dass ich Hunger habe und essen will. Darüber muss man sich beim Essen meist nicht verständigen. Bei Literatur aber liegt das Interesse in einem vielgestaltigen Halbunkel. Mike Tyson z.B. interessiert sich leidenschaftlich für das fränkische Reich, ein Literaturprofessor womöglich eher für Boxen. Letzterer geht unter Umständen seiner Profession eher nach, weil er in ein bestimmtes Milieu hineingewachsen ist, ihm das mitgegeben wurde, aber nicht so sehr aus Leidenschaft, die er dann in seiner Freizeit auslebt. Trotzdem würde er vielleicht fordern, schon aus Eigeninteresse, dass die Menschen gebildet sein müssten und auch Lyrik kennen. Mike Tyson hingegen würde wohl niemals verlangen, dass man sich für fränkische Könige interessieren soll. Für echte Leidenschaft gibt es viele Gründe, aber die wenigsten sind für alle gleichermaßen verpflichtend. 

Der Grund der Literatur und der Lyrik, so weit auch ihre Analysen reichen, so objektiv in ihr auch gesellschaftliche Probleme verarbeitet, der menschliche Geist dargestellt, die Sprache als Grundlage all unseres Denkens veranschaulicht wird, bleibt Leidenschaft und tatsächlich Interesse an den Feineinstellungen der seelischen Natur, insofern sie sich sprachlich erkunden lässt. Man kann niemanden dazu zwingen, sich für sich selbst zu interessieren und man muss ihm auch nicht eröffnen, wieviel er durch die Bedeutungsweisen der Sprache für sich hinzugewinne. An was denn? An Erkenntnis? Die führt meist zu Depression. Ja, man sollte die Tür offen halten, aber der Verdienst der Literatur ist doch zweifelhaft: sie ist eine Verfeinerung der Einzelheiten (ein Titel von Johannes Jansen), die nicht immer ins Glück führt – und wer keine Leidenschaft für Nuancen an sich hat, ist verloren für die Poesie. Hier lauert der nächste Einwand.

Es braucht nämlich auch keine Pauschalisierung, pauschal gesagt: die Poesie gibt es nicht. Obwohl ich seit fast 20 Jahren lyrikkritik herausgebe (und allein deshalb gezwungen war, vieles zu lesen, was ich sonst nicht gelesen hätte), obwohl ich die lyrische Form oft grundsäzlich mag (aber auch nicht immer), ist mir weiterhin ein Großteil der Lyrik einigermaßen fremd – oder zumindest fremd genug, damit ich ihr zuweilen einen Boxkampf vorziehen würde. Durch meine Lehrtätigkeit ist mir auch klar geworden, dass ich noch so brillant Verse auslegen und mit philosophischen Spekulationen und Zitaten verknüpfen könnte, die vermutlich wirklich viel über den menschlichen Geist und die menschliche Geschichte aussagen, ich würde immer einige nicht erreichen. Oder noch spezifischer: immer nur jeweils einige mit jeweils ganz bestimmten Gedanken und Versuchen. Das ist die unausrottbare subjektive Vorbedingung, die in allen Klassifikationen wie „wichtiger Autor“, „erfolgreicher Vertreter“, „bester Roman“ etc., wie sie unablässig bemüht werden, absichtsvoll geleugnet wird. Ja, selbst (oder gerade) die Extremgattung Lyrik hat objektive, streitbare Momente, die sich nicht auf Geschmack reduzieren lassen, nur hat sich niemand danach zu richten, weil aus dieser Objektivität an Erkenntnis nichts folgt – sofern man es nicht schafft, Literatur für sein eigenes Leben fruchtbar zu machen.

Im vermeintlichen Nachteil, dass Lyrik eben keine funktionalen Ergebnisse zustande bringt, keine vorzeigbaren, verkaufbaren Resultate zeitigt, so oft auch Preisträger gekürt und herumreichbar gemacht werden, liegt ja gerade ihre Kraft. Und in den Diskussionen um Preise und Kanonzugehörigkeiten ist meist nichts so abwesend wie diese Kraft selbst, weshalb diese Diskurse und Streits schon mal abschreckend wirken können. Gerechterweise muss man aber sagen, dass die meisten LyrikerInnen froh wären, wenn sie nicht über solche Fragen diskutieren müssten. 

Das alles heißt natürlich nicht, dass man der Lyrik keine Wege ebnen sollte, keine Zugänge schaffen. Nur bleibt die Lektüre von Lyrik meist eine schwere einzuordnende, intensive Erfahrung mit zweifelhaftem Erkenntniseffekt. Sie hat sehr unterschiedlich erfahrbare Qualitäten und nicht nur gute: manches mag unzugänglich sein, anders fühlt sich nutzlos an, drittes wieder abweisend. Nicht jede Lyrik ist für den jeweiligen Leser oder die Leserin geeignet – oder diese nicht für sie. 

Selbst die Philosophie kann grundlegende, nachzuvollziehende Paradigmenwechsel vorlegen, Positionen oder Fragestellungen, hinter die dann konsensual nicht zurückgegangen wird, so oft sie auch in Frage gestellt und angegriffen werden. Lyrik lebt hingegen ohne Dogmen, Lehrsätze und kopernikanische Wenden in einer abgelegenen, oft (aber nicht immer) einsamen Gegend, in dünner Luft, wo solitäre, seltsame Früchte wachsen – in die sie aber jeden und jede, der ihr folgt, mitnehmen kann und mitnimmt ohne Vorbedingungen. 

Obwohl sich ohne Neugier, intellektuellen Hunger und Liebe vermutlich niemand auf jenen Weg der Sprache begeben sollte, der manchmal eine lange Wanderung, manchmal nur ein Katzensprung ist. Die Individualisierung, die Gedichte aber hervorzubringen imstande sind, und das ist angesichts ihres nur sozial erschließbaren und stets abstrakten Mediums Sprache erstaunlich, zeitigt Einzigartiges; eröffnet einen nur in Sprache so möglichen Raum, der Freiheit und Reflexion verhandelt, aber im Rekurs auf Bilder, Atmosphären und Emotionen.

Hendrik Jackson