Eine Woche mit Seamus Heaneys „Elektrisches Licht“

Eine Woche mit Seamus Heaneys „Elektrisches Licht“

Samstag, 23.8.
Mein erster Gedanke ist: Das waren noch Zeiten, als Dichter noch beschwören konnten.

Sonntag 24.8.
Mein zweiter Gedanke ist: Ich erinnere mich an Zeiten, in denen man sich noch erinnern konnte. Damals waren die Erinnerungen stark und epiphan. Sie wurzelten.

Montag 25.8.
Ich sehe ein Bild vor mir: Ein altes Bauernhaus, dunkel, kalt, staubig, darin sitzt eine Familie traut am Tisch und zitiert Vergil.

Dienstag 26.8.
Ich sehe ein Bild vor mir: Zwei Dichter ziehen in Männerfreundschaft durch die Berge, der bestirnte Himmel über ihnen, das magische Wort auf ihren Lippen.

Mittwoch, 27.8.
Ich lese einen Dichter, der sich mit mit Kindheit, Verstorbenen, lebensleuchtenden Momenten zeigt. Ich lese ihn, aber irgendwie sehe ich nichts von ihm.

Donnerstag, 28.8.
Im Englischen bezirzt mich der Sprachflow, im Deutschen bedrückt mich der Bedeutungsflow.

Freitag, 29.8.
Mein letzter Gedanke: Ich versage. Ich komme nicht rüber in diese irische Antike, die Seamus Heaney so leuchten lässt.

Zweiter Entwurf:

Sag gelassen Gute Nacht

– zu Seamus Heaney’s „Elektrisches Licht“ –
„Elektrisches Licht“ ist der drittletzte Band von Seamus Heaney, publiziert in den beginnenden 60ern des Autors. Es hat Züge eines Alterswerks in mehreren Hinsichten. Viele Gedichte beschwören Erinnerungen an die Welt seiner Kindheit und Jugend herauf, eine bäuerliche Welt, die zumindest in dieser Form in Mittel- und Westeuropa verschwunden sein dürfte. Dann gibt es Nachrufe auf verstorbene Dichterkollegen und Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, in denen Tod und Vergehen natürlich präsent sind. Auch im Stil gibt es eine Alterswerken oft zugeschriebene Auflockerung, eine stilistisch nicht mehr ganz so stringente Zusammenstellung von Gedichten, Tönen, Schreibweisen, in denen der Autor stärker Lust und Einfall folgt und aus seinem poetischen Fundus schöpft.
Insgesamt durchzieht den Band, aus heutiger Perspektive gelesen, eine nicht so einladende Atmosphäre von Dichtungsklassizität. Hierbei muss zunächst die deutsche Übersetzung in Abzug gebracht werden. Auch wenn sie durchaus gelungen ist in ihrem Sprachfluss und dem Versuch, die Bedeutungsanspielungen zu übertragen, so haben Naturbilder und Antikereferenzen, wie sie Heaney verwendet, im Deutschen einen Zug ins Pathetische und den hohen Ton, den man nicht ganz vermeiden kann. Im Englischen klingen die Zeilen immer etwas bodenständiger.
Auch wenn man das berücksichtigt jedoch, wirkt Heaneys dichterisches Sprechen klassisch. Auch „Kuhpisse“ und „Roßdung“ brechen die Naturbilder nicht und wirken nicht viel wahlweise unpathetischer oder unidyllischer als die Lupinen. Noch viel stärker aber wirken die Massen an Antikebezügen, Sprachspielereien und Bilder in diese Richtung. Sie überziehen die Eindrücke und Gedanken mit einer ständigen Sahnetorte an Bedeutungsgebung, die wie eine Übererfüllung des klassischen Dichtungsauftrags von Verklärung und Besinnung wirkt.
Bei allem ästhetischen Vergnügen, das man in einzelnen Versen und Strophen finden kann, fehlt einem außerdem irgendwann ein neuer Impuls. Der Band ist aus dem Jahr 2001, könnte aber fast genauso in den 1970ern geschrieben worden sein. Dass sich die Welt in den 90ern wieder und weiter gedreht hat, spiegelt sich nirgendwo. Auch das Näherrücken von Alter und Tod, an sich der einzige erkennbare thematische Kern des Bandes, schlägt sich wenig spürbar in Ton und Schreibweise nieder. So viele persönliche Details geschildert werden, so wenig persönliche Emotionen werden deutlich. Weder der emotionale Subtext noch der reflektierende Übertext gehen über „Das waren noch Zeiten“ hinaus.
„Do not go gentle into that good night, Rage, rage against the dying of light“ – so schrieb Dylan Thomas, den Heaney in „Das Bücherbord“ zitiert. Von solchem Aufbegehren findet sich in Heaneys Gedichten wenig.

Thomas Hashemi