Gegen Polarisierung, für gute Lyrik – Text aus aktuellem Anlass (Rammstein etc)

Es ist wie immer: niemand weiß allzu viel, aber was sie so, aus den Zusammenhängen gerissen, gehört haben, reicht den meisten, um sich ein Bild zu machen, sich dem Sensationsstrom anzuschließen und sich für einen Tag, einen Moment zu profilieren. Alles fließt zusammen zu einem Brei: Fragen nach Politik, Missbrauch, Kunst, Autorschaft und Geschmack. Jeder und jede sucht sich, was sie zwecks Durchsetzung einer privatarmeelichen Agenda für den Genuss des Rechthabens, das Dampfablassen, die Sache (des Gutfühlens) braucht. Befördert wird dadurch weder Aufklärung noch Verantwortung, sondern allein der Hang zur Polarisierung, zur Ungenauigkeit sowie die fehlende Reflexion größerer Zusammenhänge. Geopfert aber wird Empathie auf der einen Seite, Geduld und Umsicht auf der anderen. Die einen sind empört und sehen nur arme Schäfchen, die von Bestien missbraucht werden, die anderen nur Inszenierung und Agenda, wo doch nur ein Minimum an Menschenkenntnis und Einfühlung nötig wäre, um zu begreifen, dass da was systematisch nicht stimmt, mag sein auf allen Seiten, aber doch wohl vor allem auf der Seite des tatsächlich toxisch männlichen Dominanztanz um den Phallus mitsamt seinen Niederungen und Verwerfungen. 

Was wie immer in den Diskussionen außen vor bleibt, ist die Fähigkeit Ambivalenz auszuhalten und binnendifferenziert zu betrachten. Ja, von erwachsenen Menschen kann man Verantwortlichkeit erwarten, nein, nicht jeder hat von zu Haus und Natur und Erziehung aus mit 18 oder 19 schon alle Grundlagen dafür entwickelt. Verantwortung ist ein lebenslanges Erlernen und niemand, aber auch niemand hat das Recht, Menschen den Willen zur Gutgläubigkeit und ein wenig Naivität solcherart vorzuwerfen, dass sie dafür bitte schön unter Umständen mit Vergewaltigung und Missbrauch zu bezahlen haben. 

Auf der anderen Seite sind die Rückschlüsse, die daraus zu ziehen sind, natürlich nicht: andere Hinsichten ignorierend prophylaktisch alles zu verbieten, was Missbrauch irgendwie von fern unter bestimmten Bedingungen fördern könnte. 

Weiter: Ja, es ist eigenartig fazszinierend und verstörend zugleich, wie sich erwachsene Frauen reihenweise auch freiwillig in die Abgründe stürzen, die ihnen – zweite Faszination – Menschen, die jeden innerlichen Kompass verloren haben, hemmungslos und abstoßend schaufeln. Aber nein, das rechtfertigt nichts: keinen Missbrauch, keine schlechte Kunst, aber ebenso auch keine medial künstliche Empörung, die doch genau auf so etwas immerzu spekuliert. Jene Medien, die ja überhaupt erst in jahrzehntelanger Verblödungsarbeit den Grund für so viel kollektive Gleichgültigkeit und Dummheit geschaffen haben, indem sie auf geradezu infame Weise jeden Bullshit bedienen, Glamour erst zu solchem machen, wo eigentlich nur Scheisse ist, Idole heranzüchten, denen dann die nie zu wirklicher Selbstständigkeit in einem gängelnden und Verantwortlichkeit meist nur simulierendem Staatswesen herangezogenen kleinen Dummbrötchelinen ausgeliefert sind. 

Aber solch ein sowohl als auch erreicht natürlich die getriggerten Erregungshorden nicht (getriggert aus den unterschiedlichsten Motiven: die einen fühlen womöglich angesichts rapportierter Backstageausschweifungen ihre Privatheldensaga zu einer Art Incelparodie degradiert, andere sehen sich in einen Topf mit Opfern und Mäuschen geworfen, die Dritten bereits mitschuldig etc). Hier wird eine gnadenlos unempathische Verleumdungsmaschinerie aufgefahren, dort eine selbsterhöhende Rettungsagenda proklamiert, Zwischentöne sind unerwünscht. 

Dabei ist das genau das Gebrechen unserer Zeit: diese Polarisierung, die wir inzwischen in fast allen Diskursen sehen und die letzten Endes Ursachen verschleiert – stattdessen etwas entfacht, für das man vermutlich den Begriff Volkszorn, wohlgemerkt pejorativ verstanden, schon bald reaktivieren wird müssen.   

Peter Handke, sicherlich entgegen seinen Intentionen ein freilich eigenwilliger Vorläufer dieser neuen, durch soziale Medien angeheizten Reizbarkeit, wusste freilich noch, zumal als Dichter, dass Umwelt-Unmut zwar Einsprüche gegen das Allzumenschliche formuliert, aber zu Belehrung oder Zurechtweisung degradiert seinen tiefsten Impuls in der Wut auf Andere verrät: den der steten Korrektur des inneren Schweinehunds oder eigener Verblödungssehnsucht. Wenn er politisch auch schon irrlichterte, blieb er doch gerade in seinen Reflexionen diesbezüglich luzide. Nur ein Beispiel, da mir gerade zufällig zur Hand: Auf S. 230 seines großartigen Notizenbands „Vor der Baumschattenwand nachts“ schreibt er: „Noch einmal: »Sprachliches Format«, Sprache als Form, hat nichts zu schaffen mit Könnerschaft,-tum, oder gar Meisterschaft; sprachliches Format ist menschliches, ist seelisches Format (Wind und Sonne auf der kleinen Landstraße in der Picardie)“, um nur eine Seite weiter, in einem fiktiven Dialog (mit sich selbst?), zu schreiben: „»Poeten sind ohne Güte.«“. Das mag widersprüchlich scheinen, folgt aber einer mit „dialektisch“ nur unzureichend beschrieben Strategie, nein nicht Strategie: einer Wachsamkeit – und einem Unwillen, Freiheit und Verstand zu opfern gegenüber dem Vorgestanzten aus dem Geist des Medienterrors jener Plattitüdentoreros, die immer nur eine Farbe kennen: rot.  

Im Übrigen würde eine junge Frau, die in diesem wachen (und weder woken noch querdenkerischen) Sinne poetisch und wahrhaftig zu sehen und denken gelernt hätte, sich von Berserkerprimaten wie Rammstein, deren vermeintlich künstlerischen Texte schon immer nur ein „Resteficken“ der Romantik waren, wohl kaum beeindrucken lassen und nur müde lächeln; wüßte sie nicht bereits, dass Millionen Fans sich nicht irren können in einer Welt des Irrsinns.

Hendrik Jackson