Irina Bondas über „Gedichtverdacht“ von Elke Erb

Elke Erb, einer vom Fachpublikum hochgeschätzte und vielbewunderte Lyrikerin und Lyrikübersetzerin, bleibt die Anerkennung von einem breiten Publikum verwehrt – wobei es auch sehr gut sein kann, dass sich die Dichterin selbst dem Publikum verwehrt.

Der Auftakt zu ihrem neuestem Band Gedichtverdacht ist programmatisch: die Schilderung eines Traums, 1970 in der DDR geträumt, 2017 aus dem Tagebuch „geholt“. Es bleibt bei diesem einzigen Traum, der erstaunlich viel über die möglicherweise bis heute wenig verarbeiteten und möglicherweise sogar kaum benennbaren Zustände und Verletzlichkeiten einer ganzen Epoche aussagt, aber in der Gemengelage der hier versammelten oft auf den Tag genau datierten Tagebucheinträge, Notizen, Prosa- und Lyrikstücke verschwimmen die Grenzen der Ontologie.

Jedes zu Papier gebrachte Wort steht gleichwertig neben dem anderen und entzieht sich damit auf bewundernswert und zugleich ermüdend konsequente Weise der Logik. Während bei den 5-Minuten-Notaten die Verschriftlichung von Gedanken und Eindrücken noch bewusst geschieht, wird hier oftmals mit vorhandenem Material gearbeitet, es wird also gewissermaßen zweckentfremdet. Bei Erb stehen die Objets trouvés der eigenen Bewusstseinsproduktion unter Gedichtverdacht. Auch Leo Trotzki nimmt einen prominenten Platz ein, als Leser und mit einem – mit dem Vermerk „verifiziert“ versehenen – Auszug aus seiner Autobiographie als schreibender junger Leser.

Es findet sich immer wieder auch kauziger Humor: in laxen Titeln, wie „Reim dich, oder ich freß dich“, in ebensolchen Reimen, den trivial erscheinenden Feststellungen, wie Leidend wohl lebt ein wirkliches Lebewesen. / Das begreife ich jetzt. Die Prozesse der poetischen Textproduktion und -rezeption werden hier also nicht ohne Augenzwinkern hinterfragt:

Poesie

Ich sagte plötzlich beim Frühstück mit den beiden hier auf dem Land:

Man ist ja irgendwie immer elf, und Geli: stimmt, sie sei immer 12.

Ei!

Zentral für das Verfahren sind biographische Bezüge, konkret in Namen und Situationen oder implizit mit russischen Einsprengseln oder Themen, die die Autorin beschäftigten: die Worte führen Erbs Leben. Einen Schlüssel bietet die Notiz, die „Unter dem Falschen nicht leiden“ vorangeht:

Nämlich: das Pädagogik-Studium in Halle an der Saale, erst Deutsch plus Geschichte, dann Russisch (d.h. eine Sprache – nicht entstellte Ideologie wie im Fach Geschichte), dann Einstieg in den Mitteldeutschen Verlag dort in Halle: 1963-66, erst Volontärin, dann Lektorin; nach dem ersten Jahr – Nervenklinik, und später noch einmal, bis ich dann kündigte. Ich litt.

Auf Anraten einer Ärztin fährt die Patientin nach Polen, und damit löst sich ein Knoten. In Zakopane ist sie mit drei Frauen unterwegs: „Ich bewunderte die drei, wie sie sich zurechtfanden gleich / in diesem ihnen unbekannten Ensemble“. Denn das Leben der Autorin, die als Kind nach dem Krieg auf Wunsch des Vaters mit Mutter und Schwester aus dem Rheinland in den sowjetischen Sektor zog, alles andere als selbstbestimmt. Auch hier wird klar, dass Studium und Beruf für die spätere Dichterin und Übersetzerin nicht frei wählbar waren. individuelle Verwirklichung war nicht Teil der real gewordenen Sozialutopie, was immer wieder wie eine hingeworfene Lichtreflexion in den Texten aufleuchtet, nicht zuletzt bei ihrer „Reaktion auf Ernst Bloch und sein Buch ‚Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien‘, Reclam Leipzig 1985“. Umso stärker muss diese Erkenntnis gewirkt haben, dass es möglich war, sich zurechtzufinden, ohne den vorgegebenen Weg. Es ist also auch ein Band über das Werden, von Gedanken, Gedichten, Biografien, vom Umgang mit Widerstand und den Mut, das Gegebene zum freien Willen zu erklären, Quelle sein im Schaffensprozess, wie die Autorin es in ihren Anmerkungen zum Gedicht „Gedichtverdacht“ schreibt, sich die Welt zu eigen zu machen und Ursprung zu werden.

Aber wenn die Welt ungefiltert über uns hereinbricht, und sei es auch nur in kurzen Fragmenten dieses Echtzeit-Archivs, ohne Hierarchie und Priorisierung, ist die Gefahr auch groß, dass die tiefen leisen Worte übertönt werden von einem seitenlangen Trotzki-Zitat. So auch der berührende Einzeiler „Klage“: Zuviel Wand, zuviel Haut, das alles kann nicht schlafen.

Radikal und lesenswert – sicher. Aber unbegrenzt weiterspinnen lässt sich dieser Faden nicht, denn das Verfahren gewinnt bald Oberhand über die poetische Strahlkraft. Und das Verfahren braucht die Dichterin Erb irgendwann nicht mehr.

Irina Bondas