Max Mengeringhaus – Nebulisten und Pedanten

Hermeneutik und Kritik der Gegenwartslyrik

Wann genau es so richtig losging, lässt sich im Nachhinein oftmals nicht mehr sicher sagen. Das zumindest trifft auch auf die Debatte zur Lyrikkritik zu, die im Frühjahr 2016 auf Fixpoetry, im Signaturen-Magazin und einigen anderen digitalen Nebenkriegsschauplätzen geführt wurde.1 Ob den Anlass nun die vorjährige Vergabe des Preises der Leipziger Buchmesse an Jan Wagners Regentonnenvariationen darstellte, scheinbar eine schwelende Wunde, die im Laufe der Debatte zur Lyrikkritik stets wieder aufbrach, oder schließlich Tristan Marquardts ambitionierte Reflexionen Zur prekären Lage der Lyrikkritik die Diskussionen lostraten, ist schwer zu sagen. Wer danach suchte, fand jedenfalls genug Gründe, sich in Diskursscharmützel zu verstricken und die Debatte am Laufen zu halten, auch indem man ihre Eskalation – gerne auf persönlicher Ebene – polemisch weiter befeuerte. Im Wettlauf wurden Fürsprachen und Widerworte zeitgleich verfasst, die Beiträge redeten entsprechend oftmals aneinander vorbei und versinnbildlichen gleichwohl die Synchronizität eigenlogischer Debattenstränge, die blindlings wie gesengte Säue durchs World Wide Web jagen. Nach abgeflauter Anfangseuphorie herrschte jedoch recht schnell zweierlei Scheuklappendenken vor: Manche Kombattanten schossen sich im kommentarfunktionellen Dauerfeuer auf eine von ihnen auserkorene Gegenpartei ein, als ginge es um Leben und Tod; der Vorwurf des Nepotismus grassierte als höchste Stufe der Indiskretion. Andere hingegen blickten lediglich mit einer Claus-Hipp-haften »Dafür-stehe-ich-mit-meinem-Namen«-Attitüde selbstgenügsam auf das eigene Tun. Zwar lässt sich als konstruktiver Fluchtpunkt der Debatte sicher die Gründung einer am Haus für Poesie angesiedelten Akademie zur Lyrikkritik ausmachen, in erster Linie scheint diese Akademie allerdings eine aus dem Scheitern der Gesprächskultur im Rahmen der Debatte gezogene Konsequenz zu sein. Auch während des Frankfurter Festivalkongresses Fokus Lyrik wurde angeregt über die Spezifik einer Kritik, die sich explizit der Lyrik verschreibt, diskutiert, wobei stets offenblieb, was denn das vermeintlich Spezifische an der Gegenwartslyrik sei, das eine ihr eigene Form der Kritik notwendig mache. Wo traditionell-feuilletonistische Literaturkritik nahezu verpönt ist und in ihrer Methodik als rückständig und der Gegenwartslyrik nicht gewachsen abgewertet wird – was keine Seltenheit, sondern die Regel in den Diskussionen zur Lyrikkritik darstellt –, scheint Lyrik als Kunstform nicht mehr im System Literatur aufzugehen. Was aber Gegenwartslyrik ist, leisten kann oder der eigenen Meinung nach sein soll, spricht kaum jemand laut aus.

Obgleich man hinterher immer schlauer ist, so war doch zu Beginn der Debatte durchaus die Chance gegeben, solche grundlegenden Aspekten zu diskutieren (die Beiträge von Charlotte Warsen und Bertram Reinecke mögen dies exemplarisch belegen). Konstantin Ames’ Verriss des Babelsprech-Projekts Lyrik von Jetzt 3 – noch so ein Kandidat auf den Titel: Stein des Anstoßes – mochte vom Tonfall her zu rabulistisch daherkommen, als dass die stiller vorgetragenen, stärkeren Argumente des Textes vernommen werden konnten – doch es gab sie. Vor allem, und hier attackiert Ames einen Eckpfeiler, um sogleich das gesamte Gebäude zum Einsturz zu bringen, stelle sich die Frage, was überhaupt Lyrik sei. Im nächsten Schritt doch erst ließe sich beantworten, ob sie tatsächlich von Jetzt sei. In den Endnoten 1 und 2 seiner Rezension wird weiter in dieselbe Kerbe geschlagen. Ames expliziert hier seine Sicht auf den Lyrikbegriff als entleerten Platzhalterterminus. Er brandmarkt das Label Lyrik als betriebstechnischen Kategorisierungskniff und bringt diesem gegenüber den wahren Wert der Poesie in Stellung. Allerdings in vorentschiedener Schlacht, so scheint es: »Mit Poesie ist kein Geld zu verdienen. Wer mit Poesie Karriere machen will, muss sich auf das Niveau der Lyrik herablassen, sich mit Konzept, moderater Rhetorik, mit adretten Pointen begnügen, nur dann gibt es Applaus, Auszeichnungen, Autorenreisen für eine gewisse Zeit, dann ändert sich die Mode.« Schön Ding hat viele Namen. Doch kommt dieser Abgrenzungsversuch insofern keiner rein neidgetriebenen Differenzierungsbemühung oder Begriffsklauberei gleich, als dass Ames in seiner Besprechung das Projekt Babelsprech an dessen eigens geschürter Erwartungshaltung bemisst. Was rechtfertigt die vielleicht erstmalige Rede von einer jungen deutschsprachigen Lyrik, wie der Lyrik von Jetzt 3-Klappentext proklamierte, wenn die Zusammenschau schließlich doch nur in »klassischer Buchform« erscheint? Ames fragt, ob nicht alles beim Alten bleibe, wenn neuere, »bisher wenig erprobte mediale Zugänge zu Poesie, z. B. kollektive Arbeit an Clips, Poesiefilmen, Literaturguerilla […], Lautpoesie«, im zielgerichteten Fokus auf die Endstation Buchpublikation keine Rolle spielen. Der Mai macht nicht alles neu, wenn das Aprilwetter ihm treu bleibt. Das kann man sehen, wie man will, die ganzen Clips und Filmchen für Schnickschnack, das Buch als Nonplusultra in Ehren halten. Die Frage nach dem Geltungsbereich des Lyrikbegriffs wird dadurch nicht beantwortet. Zumal mit dem Begriffsverständnis von Lyrik ein – wenn nicht gar der zentrale – Bewertungsmaßstab der Kritik zur Diskussion steht.

Was überhaupt ist Kritik, wenn nicht eine Erkenntnisweise? In Ansatz und Ausrichtung verschiedene Erkenntnisweisen existieren viele. Jeder Kritik voraus – weil letztlich untrennbar mit ihr verbunden – geht allerdings eine gründliche hermeneutische Lektüre. Das muss nichts mit akademischer Paragraphenreiterei gemein haben, nur weil das Wort Hermeneutik damit konnotiert sein mag. Vielmehr geht es um Maximen, die vermeiden helfen, sich lesend und auslegend im Kreis zu drehen. Jan Kuhlbrodt hatte im Verlauf der Debatte zur Lyrikkritik einige Kanones, wie das einst genannt ward, formuliert; um als Faustregeln herzuhalten, gebaren sich diese Regelsätze allerdings zu ätherisch. Manches lässt sich runterbrechen, beispielsweise in: »If you don’t know a word, look it up or die.« So zitierte die Lyrikzeitung einmal aus einer The Atlantic entnommenem Poesieleseanweisung, deren Existenz man durchaus berechtigt für deppert halten kann, was den Satz allerdings nicht weniger wahr sein lässt. Zugleich meint ein Wort nicht immer dasselbe, weder im Vergleich zweier Dichter noch innerhalb des Werks eines einzigen. Es müssen Nachweise erbracht werden, denn selbst der Verweis darauf, was im Text steht – die Lehre der gut lutherischen »sola scriptura« meldet sich knöchrig aus den Katakomben– ist bereits gedeutete Rede. In derselben Art, behutsam und sorgfältig, kann der Kritiker sodann größere Kreise ziehen, den Text im Verhältnis zu anderen Texten setzen, das Gedicht vor dem Hintergrund der Gedichtproduktion seiner Zeit lesen, den Kontext aus dem Text entwickeln, das Haus vom Nikolaus nachzeichnen. Zugleich gewinnt die hermeneutische Operation hier an einer Komplexität, die jedes geforderte Revival textimmanenter Lektüremodelle weit hinter sich lässt. Dass die Hermeneutik als Verfahren solch einen schlechten Ruf genießt, liegt, und das ist des Zeitgeists Signum, sicher daran, dass sie allerorten einig als altbacken betrachtet wird; kein Versprechen auf diskurspoptheoretische Sexyness kriecht bei ihrer Nennung den Kritikernacken empor. Man kann sie methodisch auch hinter sich lassen, schwerlich aber ohne sie starten. Das ganze Gebrabbel von der Wut des Verstehens, Hermeneutik als Machtausübung, die Unterjochung des Textes unter den einen Sinn, das kommt einzig daher, dass man zu viel Gadamer liest und mit Schleiermacher verwechselt.

Also: Zurück zu Schleiermacher! Will meinen: Mal gucken, was damit noch so geht. Hermeneutik und Kritik ist der Band betitelt, der Schleiermachers Denken und Schriften aus drei Dekaden zu eben jenem Themenkomplex versammelt. Im Kern steht die kompendienartige Darstellung aus dem Jahr 1819, anhand derer sich detailliert nachvollziehen lässt, wie untrennbar die beiden Momente des Verstehens miteinander verwoben sind. Schleiermachers Ausführungen zur grammatischen Interpretation helfen, die Sprache, die man vor sich hat, zu identifizieren. Die psychologische, in der Rezeption maßlos überbetonte, da einseitig betrachtete Interpretation wiederum fokussiert das Denken des Autors. Trennbar sind diese Momente, die im Übrigen in sich selbst weiter differenziert und verästelt sind, selbstredend nicht: »Es ist unmöglich, beide Seiten nicht immer zu verbinden, man müßte sonst den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken aufgeben und sich des fortgesetzten Lesens ganz enthalten.«2

Für jene, die wider diesen besseren Rat ins literarische Felde ziehen, hat Schleiermacher zwei neckische Spitznamen erdacht: »Nebulisten« nennt er Interpreten, die qua Einfühlung in den Autor bereitwillig über das Sprachliche hinwegpfuschen. Schleiermacher nennt zwar nur jene Fälle als abschreckend, in denen der Interpret in den Autor verliebt ist, aber umgekehrt funktioniert es wohl auch, wie man beispielsweise sieht, wenn Werke ohne einen weiteren Blick in ihr Inneres abgeurteilt werden, weil der Verfasser in Hildesheim oder Leipzig studierte. Ein Kurzschluss als Pendant der alten enzensbergerschen Sentenz: »Gedichte werden nicht in Solingen gemacht.« »Pedanten« hingegen – der Fall liegt etwas schwieriger – pulen im Sprachlichen herum wie prototypische Positivisten. Individualität und Originalität eines Werks können nicht bemessen werden, wo ausschließlich und andauernd ver- und abgeglichen wird, gleich einem Algorithmus, der durch Literaturgeschichte und gegenwärtige -produktion rast und schließlich nur Gemeinplätze formuliert. Wo ein Vers nicht in seiner Eigenheit ernst genommen wird, lässt sich immer urteilen, er flackere, flimmere, schwirre so schön. Das passiert anderen Kritikern ja auch, jeden Tag aufs Neue.

Was Schleiermachers zusammengedachte HHHermeneutik und Kritik so interessant macht, ist nicht die Hartnäckigkeit solcher Schreckgespenster, die ihm recht gibt, sondern die Rückbindung der Interpretation an das Dichtungsverständnis der Zeit. Kritik ist nämlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Gattungstheorie. Reflexionen darüber, was Lyrik ist, laufen immer mit, widmet man sich deren Kritik. Die Gattung ist einerseits Prokrustesbett, das den Strom der Rede bzw. den Textfluss begrenzt, bietet andererseits aber auch immer genug Spielraum für die Eigentümlichkeit des Autors – und sei es, dass er die Gattungsgrenzen erweitert, überschreitet oder im Limbo lässig drunter durchtanzt.

Peter Szondi hat diesen Gedanken in den 1960er Jahren aufgenommen. Erweitert um die Adorno-Formel von der »Logik des Produziertseins« eines Werks, arbeitete Szondi zunächst im Zuge seiner Hölderlin-Studien sein Traktat über philologische Erkenntnis aus, in dem er die Spannungspunkte der Individualität und Eingebundenheit als untrennbar verbunden herausstellte. Seine Vorlesungen zur Poetik und Geschichtsphilosophie erforderten schließlich die Ausarbeitung einer spezifisch literarischen Hermeneutik, die Philologie und Ästhetik beiderseits im Blick haben sollte. Mit Schleiermacher gewann Szondi zufolge das Moment der Kritik eine neue Komponente: »Wenn er [Schleiermacher] sowohl die Sprachwissenschaft als auch die Poetik seiner Zeit mit kühnen Vorgriffen auf Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts gesprengt hat, so gelang ihm das, wie mir scheint, dank dieser Konzeption von Hermeneutik als Umkehrung von Grammatik und Poetik. In der Umkehrung wird hinter das erstarrte Regelsystem dieser beiden Disziplinen wie auch hinter ihre Hypostasierung des Gegebenen zurückgegangen und sowohl nach den Prämissen und Bedingtheiten als auch nach der Interdependenz der Fakten, ihrer Dialektik, gefragt. Dem aber verdankt sich die Überwindung des Positivismus. Hermeneutik ist, so verstanden, Instrument der Kritik.«3

Drei Jahre nach der Debatte zur Lyrikkritik befinden wir uns schon ein gutes Stück weit im 21. Jahrhundert, stehen knietief in seinen Aporien und sehen uns vor die Aufgabe gestellt, die literarische Hermeneutik Szondis über den Bereich dessen zu erweitern, was Literatur einst war. Das heutige Dichtungsverständnis hängt nicht weiter allein am seidenen Faden des Buchstabens. Es braucht eine für die Lyrik relevante Hermeneutik, die Performances lesen kann und medienkombinatorisch nicht sogleich überfordert ist. Es wäre ein erster Schritt, davon wegzukommen, nur den Klappentext zu reproduzieren und um abzuhakende literaturkritische To-Do-Lists zu ergänzen, wie z. B. die Frage, wie viele Gedichte auf wie vielen Seiten zu welchem Preis zu haben sind, und dies schließlich für Kritik zu halten, wo solch ein Verfahren doch deren Imitation darstellt. Vielleicht hilft’s, dass manchem dann nicht mehr so schnell der Hut hochgeht. Wie der leicht reizbaren Kritikernatur die Einsicht nicht schlecht täte, dass das Verstehen eine unabschließbare Arbeit ist, während sich das Missverstehen von selbst einstellt.

Peter Szondis Schüler Klaus Reichert kolportierte im Rahmen einer Ausstellungseröffnung zum Werk seines akademischen Lehrers einmal ein vermeintliches Eingeständnis aus der Entstehungszeit der Celan-Studien, das die späten Werke Paul Celans als selbst für Szondi unverständlich herausstellen soll: »›Sie wissen, dass für mich Die Niemandsrose Celans letzter Gedichtband ist.‹« Nein, wissen wir nicht. Wir wissen noch nicht einmal nicht, was das ist, ein Gedicht. Was es sein soll oder kann. Von der Lyrik ganz zu schweigen. Oder? Anyone?

1 Sämtliche relevanten Debattenbeiträge sind auf fixpoetry.com (URL: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/notizen/2016-05-11/linkliste-diskurs-lyrikkritik) und im signaturen-magazin.de (URL: http://signaturen-magazin.de/lyrik-und-kritik-.html) in chronologischer Folge gelistet und nachlesbar (Stand 28.2.2019). Zitate aus anderen Quellen werden als solche gekennzeichnet.

2 F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 164.

3 Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Herausgegeben von Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 190f.