Offene Akademie: Matthias Friedrich

Die Welt wieder hörbar und den Schmerz wieder spürbar machen 
Zu Abraham Grageras Gedicht Fremder mein

 

Abraham Gragera, 1973 geboren, hat in seiner Heimat Spanien bereits drei Gedichtbände veröffentlicht, ist in Deutschland jedoch noch völlig unbekannt. Piero Salabè ist zu danken, dass er in der Edition Lyrikkabinett unter dem Titel Die weniger einsame Zeit (link) eine Auswahlübersetzung dieses außergewöhnlichen Dichters vorgelegt hat, die Texte aus allen drei Bänden sowie bislang Unveröffentlichtes versammelt. Aus dem vorliegenden Material sticht besonders die Elegie Fremder mein hervor. Sie ist Pedro Mbá Mitsunu gewidmet, der im zwischen Gabun und Äquatorialguinea gelegenen Grenzfluss Muni ums Leben gekommen ist: „… und nun erfahre ich, dass du gestorben bist, / in der Nähe des Flusses Muni, im Ozean, / als du versuchtest deine Schwester auf Biokos Boot /zum Festland zu bringen“. Diese Ausgangssituation erinnert nicht von ungefähr an Lycidas, John Miltons Pastoralelegie für seinen Studienfreund Edward King, der 1637 bei einem Schiffsunglück ertrank und nicht nur Dichter war, sondern auch das Priesteramt anstrebte. Zwar sind beide Texte formal vollkommen unterschiedlich – Milton hat eine Canzone mit sieben- bis elfsilbigen Versen und variierendem Reimschema verfasst, Gragera schreibt in freien Versen –, doch ein Vergleich zwischen beiden Texten ist durchaus reizvoll, denn obwohl sie sich aus unterschiedlichen Traditionen speisen und das erste Gedicht, ganz anders als das zweite, mit zahlreichen religiösen Anspielungen aufwartet, bringen sie ähnliche ästhetische und politische Probleme zur Sprache.

 

So weltabgewandt pastorale Lyrik auch erscheinen mag – häufig ist sie in idealisierten, malerischen Landschaften angesiedelt und fährt ein ganzes Arsenal an Dichtern im Hirtenkleid auf, die Schafherden allenfalls aus ihren Papyrusrollen kennen –, mit der Zeit hat sie sich zu einer festen literarischen Form entwickelt, in der auch ernstere Thematiken verhandelt werden können. Das trifft auch auf Milton und Gragera zu. Milton arbeitet gezielt mit Versatzstücken aus antiken Texten, während Gragera afrikanische Landschaftsbeschreibungen aufruft, die aus poetologischer Sicht durchaus der pastoralen Lyrik zuzurechnen sind.

 

Wie James Holly Hanford in einem Artikel über den Einfluss der Schäferelegie auf Lycidas schreibt,[1] waren Dichter wie Theokrit lange Zeit das Vorbild für diese Form, neben Vergil, dessen zehnte Ekloge auch in Miltons Gedicht anklingt: „Wer versagt wohl Lieder dem Gallus?“, heißt es zu dort zu Beginn (hier in der Übersetzung von J. H. Voß). Und Milton: „Who would not sing for Lycidas?“ Schon gleich zu Anfang seines Gedichts nimmt Milton Anleihen an Vergil, die Verse „Yet once more, O ye laurels, and once more / Ye myrtles brown“ bezieht sich eindeutig auf eine Stelle aus der zweiten Ekloge: „Lorbeerlaub auch pflück‘ ich, und deins, o benachbarte Myrte“. Schon diese beiden Beispiele deuten an, dass das Schäfergedicht eine höchst artifizielle Kunstform ist: Sie speist sich weniger aus konkreten Lebenswelten als aus Textvorlagen, die immer wieder ausgeschlachtet werden, oft so gründlich, dass man nicht mehr weiß, wer hier wen nachahmt oder zitiert. Zwar erinnert die Szenerie des Lycidas entfernt an eine britische Landschaft, aber wie bereits angedeutet, ist die Schilderung der Flora und Fauna versetzt mit Anklängen an antike Lyrik, die das Gedicht über den bloßen Traueranlass hinausheben und es in einem kulturell vielfach codierten Verweishorizont einordnen. Lycidas ist, wie Neil Forsyth in einem Aufsatz darlegt,[2] die einzige Schäferelegie, die den Klerus nicht nur verspottet, sondern vollends als korrupte Organisation demaskiert. Lycidas, dessen Name in der pastoralen Tradition ebenso auf einen Hirten wie auf einen Dichter hinweist, nimmt seine Umgebung aus dem Blickwinkel eines Vergil oder Theokrit wahr, aber auch als werdender Priester, dem die Korruption in seiner Kirche ungeschönt vor Augen tritt. Anders formuliert: Er bemüht sich nicht einmal, das, was da greifbar vor ihm liegt, so unvoreingenommen wie möglich zu beschreiben. Damit ist Milton keineswegs ein Phänomenologe, allenfalls jemand, der seine Lebenswelten, sei es nun die poetologische oder die politische, in klassischen und christlichen Bezugsrahmen betrachtet. Miltons Gedicht nimmt also ganz explizit Wertungen vor.

 

Gragera hingegen versucht, immer mitzudenken, dass eine Beschreibung, so unverfälscht sie sich auch geben mag, stets auch ein Urteil enthält – und zwar ganz besonders dann, wenn sie sich, wie sein Klagegedicht über den verstorbenen afrikanischen Freund, aus einem (post-)kolonialen Kontext ableitet. Liest man nun den bei Hanser vorliegenden Band, so stellt man zunächst fest, dass die Sprechinstanz – wie der Schäfer, Poet und Priester Lycidas – eine doppelte Rolle einnimmt, sie gibt sich als Dichter und als Beobachter der unmittelbaren Umgebung zu erkennen. Das Nachdenken über das Wesen und Tun des Gedichts und der Blick auf die Welt scheinen bei Gragera nämlich eins zu sein. Die Person, die hier spricht – nicht zu verwechseln mit dem Dichter selbst – schlüpft in die Rolle eines Phänomenologen, der das Gedicht als Teil seiner Lebenswelt auffasst. Sie tritt mit sich selbst, aber auch mit anderen (und anderem) in Verbindung und stellt die Frage, wie sie sich schreibend darüber äußern kann. Da sie aus einer säkularen Epoche hervorgegangen ist, findet sie das Urteil des liebenden wie des strafenden Gottes nicht wichtig. Gleichwohl reicht es ihr nicht, gewohnte Weisen und Grenzen des Sprechens bloß niederzureißen, es muss auch etwas Neues her, eine „intime Metaphysik“. So schreibt es der Kritiker Darío Jaramillo Agudelo[3] in einer Besprechung zu Grageras erstem Band, Abschied von der Zeit der großen Gesten. Daher hält sich die sprechende Person an das, was griffbereit vor ihr liegt, und versucht, es in Worte zu fassen. Anders formuliert, sie tritt in verschiedene Lebenswelten ein, und versucht, sie ihrem Wesen nach zu beschreiben. Das aber ist, wie Fremder mein schon im Titel andeutet, höchstens eine Idealvorstellung, die den Kontakt mit der Wirklichkeit nicht überstehen kann.

 

Schon ganz zu Anfang des Gedichts gibt die Sprechinstanz zu, dass sie womöglich selbst in das verwickelt ist, was sie da erzählt: „Mit einfachen Worten, ohne Doppelsinn, / die trotzdem zweifeln / an der eigenen Unschuld“. Diese drei eröffnenden Verse lassen sich als poetologisches Grundsatzprogramm auffassen. Die Person will, so das denn überhaupt möglich ist, alles Mittelbare, alles aus der Tradition Übernommene zur Seite räumen, um das Wesen ihres verstorbenen Freundes zu erfassen. Aber sie, die sich einem Toten annähern will, ist keinesfalls unschuldig, sondern bringt Vorurteile mit, die ihr in den Unwägbarkeiten des Lebens zwar Halt geben mögen, sie aber auch in vielerlei Hinsicht hemmen. Ihr Schreiben vollzieht sich in einer doppelten, ja widersprüchlichen Bewegung: Zwar will sie ihrem Freund nahe sein, aber das schafft sie nur, wenn sie sich auf Distanz zu ihm begibt. Sie kann also nicht einfach so behaupten, dass sie die Lebenswirklichkeit ihres Freundes verstehen kann, sondern muss immer im Hinterkopf behalten, dass sie eine subjektive Ansicht äußert. Daher schwebt sie über ihrem Freund, und zwar wie eine „Melodie“. Die ist unschwer als das Gedicht zu erkennen, das in Schallwellen durch das Terrain dringt. Sie fängt ein, was unter ihr liegt: die Kaffeefelder, die Bars, die Palmen. Das ist die afrikanische Landschaft, durch die sich auch der Freund bewegt hat.

 

Soweit die Theorie. Zwar wird hier im Gedicht eine olympische Perspektive gewählt, mit der eine Distanz zum Thema – zum Subjekt – des Liedes eingenommen werden kann, aber genau hierin liegt auch schon das Problem. Denn was ebenjenes Subjekt – das dem Gedicht zugrunde liegt, ihm unterworfen ist – sagt, bekommt man nur über eine zweite Person vermittelt, die Sprechinstanz. Dadurch wird das Vorhaben als solches angreifbar: „… ich kann gute Absichten / unterscheiden von Taten / und weiß aus Erfahrung auch, / dass gewisse Gefühle / von Natur aus / kolonialistisch sind“. Den Verstorbenen wachzuhalten, und sei es auch nur im Gedicht, das gewohnte Sprechweisen als solche offenlegt und vielleicht auch hinterfragt, das ist ihre gute, ihre verständliche Absicht. Aber wie äußert sie sich über den afrikanischen Freund? Ist dieser Wunsch, über jemanden sprechen zu wollen, nicht schon per se eines dieser Gefühle, die „von Natur aus / kolonialistisch“ sind? Die Sprechinstanz möchte sich in einfachen Worten äußern, die einen Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit zulassen. Einfache Worte, das sind Beschreibungen, die aber auch (Vor-)Urteile offenlegen. Bei einem Blick in die Schilderungen der afrikanischen Landschaft und Lebenswelt fallen nämlich immer wieder einzelne negative Zuschreibungen auf. Die Bretter der Bars sind „schlecht befestigt“, die Stadt ist übersät mit „jungen Ruinen“, der „ewige Präsident“ ist auf Werbetafeln und in Geschäften allgegenwärtig. Anders formuliert, das Leben in diesem Landstrich verheißt nicht viel Gutes. Auch der Freund bekam zu Lebzeiten die Perspektivlosigkeit zu spüren: Sein Diplom war „nutzlos, / in jeglicher Hinsicht“.

 

Mit diesen Bedenken im Hinterkopf stellt sich auch der Titel des Gedichts anders dar. Fremder mein: Zunächst scheint es, als sei diese Überschrift losgelöst vom Gedicht, das zum toten Freund nur Nähe aufbauen kann, wenn es von ihm abrückt; grammatisch markiert die Sprechinstanz ihr Gegenüber als Eigentum. Merkwürdig ist jedoch nicht nur das Was, sondern das Wie dieser Aussage – und zwar vor allem in Salabès Übersetzung. Es ist im Spanischen durchaus möglich, das Possessivpronomen nachzustellen („Extraño mío“) und es so zu betonen, im Deutschen geht das nicht so ohne Weiteres. Allerdings gelingt es dem Übersetzer, diese Emphase auch in seine Fassung hinüberzuretten. Salabès Formulierung „Fremder mein“ baut eine (zeitliche) Distanz auf, ohne die im Kontext zwangsläufig problematische Aussage – der Anspruch, das Wesen des Freundes zu erfassen und das daraus folgende ungleiche Verhältnis zwischen dem Ich und dem Du – ganz außer Acht zu lassen. Anders gesagt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussieht, schon im Titel manifestiert sich die paradoxe Doppelbewegung zwischen Nähe und Ferne, die sich durch das ganze Gedicht zieht. Und nicht nur das: „Wir aber, die wir Geschichte besaßen, / … / lebten besser als wir uns taub / stellten, als die Welt / so groß war und so verstreut, / dass man den Schmerz nicht spürte.“ Für eine künstliche Zweiteilung zwischen dem einem angeblichen „Eigenen“ und dem „Anderen“ darf kein Platz sein. Also muss die Sprechinstanz akzeptieren, dass sie selbst Teil von dem ist, was sie kritisiert. Sie steht auf der vermeintlichen Gewinnerseite der Geschichte – und erkennt erst nach dem Tod ihres Freundes, dass sie nicht nur einem Trugbild aufgesessen, sondern selbst in die ungleichen Machtverhältnisse verstrickt ist, die sie kritisiert.

 

Beide Texte, Miltons Lycidas wie auch Grageras Fremder mein, zeigen, dass das Gedicht eine trügerisch einfache Gattung sein kann: Man könnte es sich einfach machen und eine Form wie die Schäferlyrik, die idealisierte Landschaften nur noch aus Zitaten antiker Lyrik zusammenzustückeln scheint, als weltfremd abtun; aber Milton stattet sein Gedicht nicht nur mit einer persönlichen Ebene aus (er betrauert seinen Freund Edward King), sondern auch mit einer politischen (er kritisiert die Kirche). Auch Gragera möchte eines Toten gedenken, und sei es nur im Gedicht – ist sich jedoch bewusst, dass er sich ihm höchstens annähern kann, und dann auch nur, wenn er seine eigene Rolle nicht ausklammert. So kommt das Gedicht zu seiner Sprache: Es hilft, die Welt wieder hörbar und den Schmerz wieder spürbar zu machen. Damit man sich der Geschichte eben nicht (mehr) verwehrt.

 

[1] https://www.jstor.org/stable/456731

[2] https://www.jstor.org/stable/10.1086/600095

[3] https://bit.ly/42kjvqE