Zwischen Wildwuchs und Äquivalenz

 

Wissenschaftliche Übersetzungstheorien

Die Übersetzungswissenschaft geht meist, selbst wo sie aus der Praxis Rückschlüsse als Korrektiv zulässt, insgesamt deduktiv vor: das heißt, sie versucht erst in Abstraktion, Separation und rationalisierender Feinunterscheidung zu begreifen, was eine Ausgangssprache und was die Zielsprache einer Übersetzung ausmachen kann – um dann daraus Leitfäden für die Praxis zu erarbeiten. Dabei waren in der Geschichte der Übersetzungstheorien auf wissenschaftlicher Seite Begriffe wie Invarianz, Adäquatheit und Äquivalenz sehr wichtig, wenn auch nicht immer klar geschieden. Diese Begriffe sind nach wie vor relevant. Dazu kommt seit einiger Zeit die „Skopostheorie“ von Reiß/Vermeer, die praxisorientiert Begriffe wie Funktionalität und Zweck stärkt. Zwar versucht auch sie noch, auf alle Textsorten anwendbar zu sein, aber differenziert doch erheblich nach Kontext und Funktion. Den meisten wissenschaftlichen Übersetzungstheorien ist dabei weiterhin gemein, dass sie zu stark typologischen Sprachen neigen, die versuchen, die einzelnen Felder und Aspekte des Übersetzens trennscharf einzuteilen, um dann daraus eine Idealübersetzung zu konstruieren, der sich die Einzelanwendung anzunähern hat. Dabei werden möglichst alle Probleme und kontextuell-praxeologisch angrenzenden Gebiete mit ausgeleuchtet, in- oder exkludiert und kategorisiert. Die Wissenschaft ist sich dabei der Problematik dieser typologisch-deduktiven Vorgehensweise bewusst. Jörn Albrecht (S.39 Was ist Übersetzung, in: Übersetzung und Linguistik, Tübingen 2005) bemerkt dazu, es sei nun einmal so, dass der Gegenstand der Untersuchung kontinuierlich sei, der wissenschaftliche Begriff aber diskret. Dies mache das Charakteristikum wissenschaftlichen Fragens aus. Insofern sind auch folgende Ausführungen nicht so sehr eine Kritik an der wissenschaftlichen Übersetzungstheorie, als vielmehr ein Gesprächsangebot über ihre Möglichkeiten und Grenzen.

Mein Vorgehen in der Übersetzungstheorie unterscheidet sich von wissenschaftlichen, da ich, aus der Praxis kommend, diese erst im Nachgang philosophisch ausleuchte, um ein besseres Verständnis für mein eigenes Tun zu gewinnen. Dabei geht es eher um Motive, Möglichkeiten und Implikationen. Interessanterweise führt dieses auch abschweifende Nachdenken aber zu größeren Rückkoppelungseffekten auf mein Übersetzen, als es eine wissenschaftliche Theorie tun könnte, und damit bin ich wohl nicht allein. Schaut man sich die überwiegende Anzahl der Theorien der literarischen ÜbersetzerInnen an, vor allem die der Dichter und LyrikerInnen, so wird man feststellen, dass die wenigsten eine Ahnung von den wissenschaftlichen Theorien haben. Ist das Ignoranz?

Auch ich entwickle keine oder kaum Kriterien, die mich beim Schreiben deduktiv leiten würden. Ich versuche vielmehr, aus dem lebendigen Verständnis meines Tuns heraus Schwerpunkte wiederzuerkennen, rote Linien zu verfolgen und kontextuell offen zu bleiben für die verschiedenen Pfade und Dickichte des übersetzerischen Tuns, ohne aber alle Aspekte durchzudeklinieren und zu separieren. Es ist ein latentes („schwangeres“) Problembewusstsein, dialektisch durchwoben, dass den Prozess selbst offen hält, ohne ihn zu determinieren, ihm eine Tendenz gibt, ohne ihn einzuengen. Praxisbezogen gesprochen: Es ist unmöglich, die zwar beispielhaft erarbeiteten, aber immer deduktiv gedachten Parameter einer wissenschaftlichen Übersetzungstheorie umzusetzen, wenn man „an sie denkt“, sondern man müsste, wenn überhaupt, auf eine Weise denken, die die Erkenntnisse umsetzt. Um ein nicht ganz aufgehendes, aber doch illustratives Bild zu nehmen: Auch der Schachmeister rechnet nicht alle Varianten durch, sondern entwickelt ein Strategie- und Problembewusstsein, dass ihn die Komponenten und Kombinationen, die es zu durchdenken gilt, aussuchen lässt. Denken der Theorie und Denken ihrer Umsetzung differieren. Und davon differiert noch einmal das Nachdenken aus der Praxis heraus in der Sprache dieser Praxis oder mit Elementen dieser.

Sicher müssen die Übersetzerin und der Übersetzer wissen, für welchen Zweck sie übersetzen, für welchen Kontext, für welchen Adressaten und aus welchem Kontext sie selber kommen. Das alles wird von wissenschaftlichen Übersetzungstheorien berücksichtigt und sollte auch selbstverständlich einfließen bzw Ausgangspunkt sein des Übersetzens. Danach wird es aber schon diffiziler. Was dann folgt, betrifft das Wesen und die Möglichkeiten der Sprache an sich. Hier hat es eine literarische Übersetzung (im Unterschied zu fast allen anderen) zugleich leichter und schwerer, da sie ihren Horizont sehr viel breiter aufzieht und damit einerseits weniger, andererseits mehr Zielvorgaben erfüllen muss. „leichter“, weil sie schnell abheben kann und ohne Skrupel den ganzen Umraum der Wortfelder abfliegen kann; „schwerer“, weil ihr das sehr viel Möglichkeiten eröffnet. Weniger Zielvorgaben, weil nicht klar ist: Wer ist denn der Adressat? Wie liest sich das denn im Original (die Lesarten sind da vermutlich so vielseitig und verschieden wie die Leser) – mehr Zielvorgaben, weil der Reichtum der Virtualitäten einer poetischen Sprache mitübersetzt werden will. Mit einer Skopostheorie z.B. kommt man hier nicht so weit., obwohl die ihr zugrunde liegende ‚Wenn-dann‘ Konstruktion (was wiederum eine Übersetzung ihrer Terminologie in eine praxisnahe Begrifflichkeit darstellt), durchaus praktikabel ist:

„Wenn dir der Rhythmus das Entscheidende zu sein scheint, dann…“ „wenn du diese Assoziation mit übersetzen willst, dann…“ „wenn dir die und die Parameter wichtig sind, dann…“ usw. Ob man es Parameter nennt oder Invarianzen oder ‚Kategorien‘ (wie ich sie in spielerischer und ironischer Anlehnung an Kant in meinen Übersetzungsworkshops aufzuzählen pflege und dabei in approximativer Annäherung stets auf zwölf gekommen bin: Rhythmus, Reim, Metrik, Semantik, Syntax, Kontext, Sem-Felder, Anspielungen, kommunikativer Aspekt, kultureller Aspekt, Atmosphäre, Vokalität bzw. Melodik) – selbst wenn ich diese Aspekte retrospektiv beleuchte, tue ich das anders als die Wissenschaft. Ich muss nicht alles scharf trennen, sondern ich möchte die Möglichkeiten und Begrenzungen einer literarischen Übersetzung begreifen. Begreifen meint hier aber eben nicht unbedingt nur zergliedern und in eine logos-funktional-sachgerechte Terminologie versprachlichen, sondern auch die Potentialität und die Implikationen, die über Funktionalität hinausgehen, erschließen. Weil ich dabei eben weniger deduktiv, als spekulativ denke, sind die ‚wenn – dann‘-Bedingungen keine Soll-Ableitung, sondern ausleuchtbare, virtuelle Möglichkeitsräume.

Die literarische Übersetzung leuchtet den ganzen Umraum der Wörter denkend aus und ist insofern besonders anspruchsvoll. Auf der anderen Seite kann man in ihr nichts „falsch“ machen, sondern höchstens schlecht. Es gibt nur gute und schlechte literarische Übersetzungen, keine falschen. Dabei sind die guten meist gerade die, die einer „richtigen“ eben nicht unmittelbar gerecht werden. Das aber nicht, weil sie „kreativen“ Freiraum hätten und Spielwiese der Träumer wären, sondern im Gegenteil scheint in der literarischen, und hier vornehmlich der poetischen gerade auf, was die vermeintlich richtige Übersetzung, und sei es selbst in juristischen (gerade da) und wirtschaftlichen Texten immer vermeiden und sogar verschleiern muss: dass Sprache prinzipiell nicht nur zweideutig und bisweilen verschwommen ist, sondern dass die ihr innewohnenden Komplikationen weitreichend und veruneindeutigend sind, dass die jeder wirtschaftlich-politischen, alltäglichen Sprache innewohnenden Tendenz zur Vereindeutigung und Funktionalität immer ideologisch geprägt und in Hinsicht auf Verwertbarkeit entstellt ist, sie die Komplexitäten und Mehrdeutigkeiten dabei sehr wohl benutzt, dies aber in manipulierender oder vernutzender Absicht. Die literarische Übersetzung befreit wieder aus diesen Zusammenhägen und deckt so erst die Unmöglichkeit auf, Sprache rein funktional zu begreifen. Davor ist auch manche moderne Übersetzungstheorie, bei aller Komplexität und dem Versuch, alles zu berücksichtigen, nicht gefeit. Die Idee, um es auf den Punkt zu bringen, z.B. eine Übersetzung einer Betriebsanleitung sei wertfreies, sachliches Sprechen, das aus Invarianzen bestehend sich quasi mit leichten Abstrichen 1:1 übersetzen ließe, sitzt noch dieser Illusion auf.

Funktion ist schon ein problematischer Begriff, der von einer eindeutigen Ausgangssituation ausgeht. Auch eine immer weitere Verfeinerung dieser Ausgangstheoreme incl. interkultureller und kommunikativer Aspekte wird nur mit Mühe gewahr, dass die Crux nicht in der Funktionalität einer tatsächlich möglichen Praktikabilität einer solchen Übersetzung liegt, auch nicht darin, dass eine solche Übersetzung den Funktionstext nicht adäquat begriffe, sondern dass solch Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis den Ursprungstext noch da verkennt, wo sie sich ihm gerecht werdend adäquat annähert, indem sie ihn nämlich unzureichend als unzurichtend aufzufassen geneigt ist – und das verkennt prinzipiell das Ganze, auf das Sprache immer geht und mehr ist als die Summe seiner Teile, beständig ein abweichendes, verschmierendes Surplus erzeugt.

Dies Ganze wird nach außen hin unterschlagen, unter der Hand aber instrumentalisierend eingesetzt in wirtschaftlichen, politischen und „sachlichen“ Sprachen und Wissenschaft sollte vielleicht bemüht sein, nicht deren unfreiwilliger Komplize zu werden, miteingefaltet in ein zugerichtetes Sprechen.

 

Literarische Übersetzungen

Diese lange Vorrede dient nicht nur als eine Art Gesprächsangebot an zwei Theoriesphären, die sich groteskerweise kaum je austauschen (nämlich die Übersetzungstheorien von hier Wissenschaft und dort übersetzenden Dichtern), sondern eben auch dazu, darauf hinzuweisen, dass, insofern ich meine Theorien davon bisher nicht ausschließen konnte, auch mein Äquivalenzbegriff, wie ich ihn in weitestgehend selbstverschuldeter, aber unschuldig dreinblickender Unwissenheit lange gebraucht habe, abzugrenzen ist von dem der Wissenschaft. Nicht ging es mir um eine zählbare Wertigkeit, sondern um einen Prozess, der in dem mathematischen Zeichen doch so schön illustriert wird: zwei Wellenbewegungen (hin und her, oben und unten), die auf die ganzen Auf und Ab-Bewegungen des übersetzerischen Tuns verweisen und deutlich machen, dass eine Identität nie gegeben sein kann und es sie nie geben wird. Auch Albrecht weist übrigens daraufhin, wie oft in der Theorie „Invarianz“ und „Äquivalenz“ verwechselt wird und macht die Äquivalenz als Abweichung stark. Hier sieht man beispielhaft, dass die Theorien von Wissenschaft und Übersetzerinnen durchaus zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen können: Äquivalent ist gerade nicht Gleichheit und der Stoßseufzer aller Literaturliebhaber: das sei ja unübersetzbar, geht von vorneherein an der Sache nicht einmal haarscharf vorbei. Dabei handelt es sich bei literarischen Übersetzungen, davon kann man ausgehen, zunächst einmal um Literatur. Guter oder schlechter, unabhängig vom Original. Was die Übersetzung macht, hat es in jedem Fall noch nicht gegeben: Diesen Shakespeare, diesen Puschkin, diesen Goethe zumindest kannte man so noch nicht!

Genau an diesem Punkt setzen fast alle neueren literarischen Übersetzungstheorien an. Wenn diese auf Wissenschaft kaum Bezug nehmen, befreit sie das zuweilen in Hinsicht auf Praktikabilität, lässt sie auf der anderen Seite in manchen Details aber zuweilen offene Türen einrennen.

Es gibt inzwischen eine geradezu überbordende Fülle kleiner, die Übersetzungsarbeit flankierender Theorien, bei denen meist die „Aneignung“ der fremden Texte im Vordergrund steht und die oft vor Metaphern wuchern. Ob es dabei um „Stille-Post“-Projekte, um „Versschmuggel“, „Entkanonisierungen“, Überschreibungen oder Weiterschreibungen geht, ob es heißt, dass die Übersetzung das Original beeinflusst oder die Übersetzung UND das Original den ganzen Text ausmachen oder das Original folgerichtig gleich ganz abgeschafft wird, ob die Übersetzung mit einem „Drahtseiltanz“, einer Schifffahrt oder einem Schachrätsel verglichen wird, immer geht es um die Möglichkeiten der Sprache und einer speziellen Dichtung, um das ihr innewohnende Potential und Nebenströmungen, Implikationen und Lesarten. Ihr Vorteil ist, dass sie sich in ihrem Blick selten auf das Original hin fixieren lassen. Ihr Nachteil, dass sie, im Vollbewusstsein ihres eigenen Werts, zuweilen die Liebe zum Ereignischarakter des Originals als kulturell-intime Performanz vermissen lassen.

Wen ich aber noch nicht erwähnt habe, sind die ganzen traditionellen „reinen“ Übersetzerinnen. Sehr oft sind es Frauen – weshalb ich im Folgenden das „generische Femininum“ anwende. Es gibt aber eben auch die akribischen Übersetzerinnen, die meist Auftrag für  Auftrag unermüdlich und redlich abarbeiten. Man findet unter ihnen ebenso die korrekte, aber etwas unbeholfene wörtliche Übersetzung wie die freiere Nachdichtungen oder die in stiller Meisterschaft gereifte adäquate Entsprechung. Was sie leisten, findet man selten irgendwo aufgelistet und in Besprechungen erhalten sie oft nur ein väterliches Beiwort. Theresia Prammer hat darüber einmal einen ebenso wichtigen wie zornigen Essay geschrieben, indem sie die Vokabeln der Übersetzungskritik, vor allem das gepriesene „kongenial“ genauer unter die Lupe nimmt und der bis heute aktuell ist.

Zwischen diesen zwei Polen von literarischer Aneignung und um das Original besorgter, treu sich dünkender Übersetzung bewegt sich unser, also der LiteratInnen Tun bis heute. Wie Thesis und Antithesis stehen diese verschiedenen Herangehensweisen an Übersetzung zuweilen sich gegenüber. Versuche, daraus in raffinierten Volten eine Synthese zu formen, wie Benjamin mit dem Rekurs auf das erweiterte Ideal einer „wörtlichen“ Übertragung (an das z.B. Urban anschließt), oder wie manch Dichter einfach die Kenntnisse der Ausgangssprache für unwichtig zu erklären, schlagen oft fehl und führen letztlich zu verengten oder doch sehr widersprüchlichen und zum Teil willkürlich applizierbaren bzw exemplifizierbaren Konzepten, wie im Falle Benjamins. (Dessen berühmter Text ist eher ein Text a posteriori, der inspirierend ausfliegt, wird aber kaum dazu dienen, wissenschaftlich zu kategorisieren, wenn unter seine „Wörtlichkeit“ selbst Nachdichtungen wie Georges oder Hölderlins fallen sollen.)

Ich plädiere hier für den lebendigen Widerspruch. Gegen die allzu „historische Aufführungspraxis“ hieße es, die Potentiale der Dichtung ins Feld zu führen, die Verschiebungen, Überschreibungen, Erodierungen. Also den Wildwuchs, dem Sprache sich immer zu überlassen hat und der unvermeidlich ist und dort besser aufgehoben, wo er nicht zu sehr gestutzt wird. Vor allem deutlich wird das am “Register” Zeitgenossenschaft, wenn dies auch nicht immer leicht zu lokalisieren ist. Kein Dichter schrieb für die Nachwelt, sondern entwickelte sein Schreiben in der lebendigen, oft schmerzhaften Auseinandersetzung mit seiner Gegenwart. Die Idee, dass Dichtung nicht nur übertragen, sondern verlebendigen und durchdringen muss, knüpft daran an und wird jede historische Aufführung schon als Mangel empfinden. Wo aber etwas lebt, da wächst es auch, zunächst, wild.

Gegen die Konzepte der Aneignungen wiederum hieße es für die Übersetzerin aber festzuhalten an der Liebe zum Original, an den Äquivalenzen und das willkürliche Ausbeuten von Fremdtexten zu vermeiden. Die historische Verortung, die Suche nach der Entsprechung zeugt auch vom Respekt gegenüber Erinnerung und Schicksal. Statt Texte sich anzueignen in falsch verstandener postmoderner Auslegung, die doch wieder auf ein intaktes und marktgerechtes Autorlabel zielt und deren Ergebnisse sich zuweilen doch eigentümlich ähneln, ginge es darum, in furchtloser Enteignung sich zu verlieren im Anderen, sich fremd zu werden, „Amateurtum“ und „Pastichen“ nicht zu scheuen, um das, woran sich Begeisterung einst entzündete, nicht aus den Augen zu verlieren: die Dichtung, die die Welt schien.

Genau deshalb ist, in bewusstem Widerspruch zum Freischein “dichterischer” Freiheit, immer wieder auch der Äquivalenzbegriff zu stärken. Dialektisch mäandernd zwischen den Polen ist, je nach Neigung, Aneignung und Enteignungskompetenz, neu zu entscheiden, welches Wort in den Anfang gesetzt wird und wie sich die Translationen fortbewegen, in welchen reziproken Prozessen und unter welchen selbsterfüllenden Prophezeiungen sie stehen.

 

Gedanken zum Übersetzen am Beispiel eines Verses von Marina Zwetajewa und eines Gedichtes von Alexej Parschtschikow

Nicht zu vergessen ist, dass Text immer auch schon Übersetzung sein kann, Übersetzung aus vorgelagerten Erfahrungen und Reflexionen. Das mag bei manchen avantgardistischen Dichtungen in den Hintergrund treten, bei den meisten Werken aber sind zumindest Transfer- oder Transponierungsprozesse vorgelagert. Sinnliches Erlebnis, Reflexion und sprachlicher Ausdruck (Begriff) bedingen sich dabei wechselseitig und werden Erfahrung in reziproken Prozessen. Dabei legt sich ein GeSchichtenkontext von Erinnerungen über  konkret erfahrene Situationen: Ein anderer Ausdruck würde eine andere Vergangenheit schaffen. Wenn es (nach Hegel) wahr ist, dass die sinnliche Gewissheit, die so sehr den konkreten Gegenstand zu besitzen vermeint, als ihre (begriffliche) Wahrheit nur das Allgemeine hat, dann fragt sich andererseits, was im entwickelten (allgemeinen) Begriff von jener noch bleibt. Pauschalitäten taugen nicht! sagt man gern pauschal (wie ich hier pauschal festzustellen mich anmaße) – und vergisst, dass Sprache immer auch eine pauschalisierende Tendenz innewohnt.

Übersetzt in eine Sprache der Erfahrung heißt das: Ein einst präsent gewesenes Gefühl, eine sinnliche Empfindung, ein Erlebnis drängen darauf, ihr klares, vermeintliches „haben“ wiederzuerlangen, Uneindeutiges zu verklaren, Störendes zu filtern, aber auch wiederzuerkennen und zu vereindeutigen, indem sie das Wort, die Erzählung eben mit jenem Präsenzgefühl zusammenfallen lassen möchte, das einer subsumierenden Erzählung doch gerade widerstehen könnte: Aber so und so soll es unbedingt gewesen sein! Doch in Sprache ist immer schon Allgemeinheit anwesend und die leugnet geradezu das je subjektiv Erlebte.

Wir stehen vor dem Problem, dass einerseits nur eine scheiternde Erinnerung, ein Tasten, Suchen in den verschütteten Sinnen, uns ein Erneuern, eine adäquate (Nicht-)Antwort auf die Frage nach der Vergangenheit zu geben scheint, andererseits unbestritten nur bestimmte Sätze, Szenen, Bilder in der Lage sind, überhaupt in jenen Raum der Vergangenheit zu führen, mimetisch Momente verschiedener Zeiten, Bilder, Gedanken fast deckungsgleich übereinanderzulegen und damit wieder – durch Struktur! – erlebbar nahe zu bringen.

Vielleicht liegt hier der Grund, warum sich häufig die Schriftsteller in zwei Gruppen scheiden: Jene, die ganz auf die Vermitteltheit der Wirklichkeit durch Sprache setzen und dem Wunsch nach Repräsentanz nicht trauen, die sich vor allem an formalen Fragen reiben und jenen, die „etwas“ erzählen wollen. Der Differenz zwischen Erleben und Ausdruck kann man grundsätzlich sich nur nähern, wenn die Einsicht in ihre prinzipielle Ununterscheidbarkeit (in der Verschiedenheit) vorausgegangen ist. Ich weise auf diese Verquickungen zwischen Erfahrung und dichterischem Wort hin, weil der Übersetzer und die Übersetzerin literarischer Texte genau daran arbeiten: einen Resonanzraum aufzuspannen, in dem zum einen auf Erfahrungsmodi referiert werden kann, zum anderen äquivalente oder zumindest von der Wirkung des Ausgangstextes vehement inspirierte Wirkungen gezeitigt werden können.

Der Dichter führt die Rede weit (fort) – weit (fort) führt den Dichter die Rede, schrieb Marina Zwetajewa einmal. Aber er führt die Rede immer auch wieder eng. Das hat Zwetajewa zwar nicht geschrieben, obwohl es sicherlich für diese beherrschte und disziplinierte Dichterin gilt. Aber es gilt vielleicht sogar genauso für die Übersetzer. Die Sprache, die zum Beispiel bei Zwetajewa in besonderem Maße als „Energie der aufgejagten Gedichtmasse“ (Brodski) ihre eigene Logik, Semantik etc. entwickelt, macht Erlebnis und Erfahrung erst zu dem, als das es erscheint. Diese Dynamik gilt es insbesondere bei Übersetzungen mit im Auge zu behalten und in der Schwebe dieser Dynamik als Übersetzerin zu agieren.

Ich will dies illustrieren an zwei Beispielen, zum einen an einem Beispiel Zwetajewas, dann an einem Parschtschikowgedicht.

Ибо — без лишних слов,
Пышных — любовь есть шов.

Wörtlich übersetzt heißt das: Denn ohne überflüssige Worte,üppige (bauschige), Liebe ist eine Naht.

Der Rhythmus ist: / VV / V /, / VV/ (I) /. Nach einem Daktylus also eine Betonung, eine Senkung, eine Betonung. Bezeichnenderweise ist das Wort „pyschnich“ (üppige) an den Anfang der zweiten Zeile gesetzt, wo es den Sprachfluß hemmt. Das hat zwei Effekte. Vor allem einen performativen: Das üppige, bauschige Wort bauscht den vorherigen Sinn noch einmal überflüssigerweise auf, staut den (Sinn-)Raum vor der entscheidenden Aussage, die überdies durch so ein Leerwort mehr Gewicht erhält und zugleich durch den in Takt und Syntax zögernden Rythmus nicht so sehr als griffige Sentenz (Liebe ist eine Naht) wahrgenommen wird, sondern wie nachgeschoben und damit beiläufig. Ähnliches passiert durch die dreifache Betonungsstauung am Ende, die auch im Lesen aufhält und das allzuflüssige Aufgehen verhindert. (Das Wort est‘ muß man nicht stark betonen, es ist aber dadurch, dass ein Verb des Seins zwischen Adjektiv und Substantiv im Russischen gewöhnlich nur in bestimmten Fällen gebraucht wird, hervorgehoben).

Wie nun das alles einholen? Zunächst einmal stand das Ende mehr oder weniger fest: Zu dem Satz: „Liebe ist eine Naht“ gab es kaum Alternativen. Erst einmal wegen seiner semantischen Wucht und dann, weil diese Naht im Fortgang des Poems noch eine sehr große Rolle spielt. Zwei Probleme stellten sich damit: Die Länge des Satzes lässt ihn zu resümeehaft erscheinen, er füllt die ganze zweite Zeile aus und verunmöglicht das stauende „pyschnich“. Und er erzwingt ein Reimwort auf -at. In dem Wort Zierrat ergab sich eine Möglichkeit für ein Reimwort, das sowohl das Überflüssige von lischnich, wie auch das etwas Affektierte von pyschnich enthielt. Zudem: Wort-Zierrat ist eine übertriebene Wendung, selbst leicht verziert-barock und damit ähnlich „performativ“ seinen Inhalt wiederholend wie „pyschnich“. Damit löste sich ein anderes Problem: Die Stauung wurde in die erste Zeile vorgeholt: Zwar bleibt der Reim, aber ohne Endbetonung in der ersten Zeile, was diese so weit staut, daß auch die zweite Zeile nicht mehr allzu glatt aufgeht (zumal der Ort der zweiten Betonung nicht ganz klar ist: „eine“ läßt sich durchaus betont vorstellen, das Verbindende der Naht unterstreichend) – und dennoch auf adäquat prägnante Art die Strophe beendet:

Denn ohne Wort-Zierrat:
/ VV / (/)(/)
Liebe ist eine Naht.
/ VV / V /

Das zweite Beispiel ist ein Gedicht von Alexej Parschtschikow:

Лимaн

По колeно в грязи мы вeкaми брeдём бeз оглядки,
и сосёт этa хлябь, и живут eё мёртвыe хвaтки.

Здeсь чeрты нe провeсть, и потeшны мeшочныe гонки,
словно трубы Господни, рaзмножeны жижeй воронки.

Кaк и прeждe, мой aнгeл, интимeн твой сумрaчный шeлeст,
кaк и прeждe, я буду носить тeбe шкуры и вeрeск,

только всё это блaжь, и нaкручeно долгим лимaном,
по утрaм — золотым, по ночaм — кaк свирeль, дeрeвянным.

Пышут бaрхaтным током стрeкозы и хрупкиe прутья,
нa зeмлe и нa нeбe — нe путь, a одно пeрeпутьe,

в этой дохлой водe, что колышeтся, словно носилки,
нe нaйти ни крeстa, ни мостa, ни звeзды, ни рaзвилки.

Только кaмeнь, похожий нa тучку, и обa похожи
нa любую из точeк всeлeнной, извeстной до дрожи,

только вывих тяжёлой, кaк спущeнный мяч, пaнорaмы,
только ямa в зeмлe или просто — отсутствиe ямы.

 

Liman

Wir stapfen seit Ewigkeit knietief durch Matsche,
im Rücken verfaulende Schlingen (morastiges Schmatzen).

Hier lässt sich nichts einzeichnen, lächerlich-drolliges Sackhüpfen. Wie Jahwes Trompeten vermehrn sich die Trichter der Bracksümpfe.

Dein dämmriges Rascheln (mein Engel) – intim wie in früheren Tagen.
Wie früher auch werd ich dir Pelze und Heidekraut tragen.

Gespinste ringsum, die der lange Liman sich erdachte:
vergoldet die Morgen und holzig (Schalmeien) die Nächte.

Von Strom durchsirrt, samtig: Libellen und knackende Gerten
auf Himmel und Erde: kein Weg – nur ein Dickicht aus Fährten

in schlickrigem Wasser, das schwappt (eine schaukelnde Trage).
Kein Kreuz keine Brücke kein Stern und ein Weg ohne Gablung.

Stattdessen ein Stein, einer Wolke vergleichbar und beide –
beliebigen Punkten im All, so vertraut, dass dich schaudert.

Nur schwere (ein Ball ohne Luft) Panoramaverrenkung.
Nur Erdsenke – oder ganz einfach: Absenz einer Senke.

Hier habe ich einfach ein Verfahren aus meinem Schreiben übernommen, nämlich eine zweite Stimme mithilfe einer Klammer sprechen zu lassen. Das ersetzt die im Deutschen doch eher schwerfällig klingenden Wievergleiche (die im Russischen üblicher scheinen – wir alle kennen die vielen Diskussionen in der deutschen Lyrikszene um den „Wie“-Vergleich). Ich konnte so das schwierige anpästische Versmaß (Anapästischer Quatenar oder, je nachdem, spricht auch einiges für einen Amphybrachys) weitestgehend übernehmen, sogar den Reim, ohne dеn Ausdruck im Deutschen zu sehr zu verrenken. Wichtig ist dabei eben nicht, jede semantische Feinheit aufzuspüren und sie akribisch in alle Richtungen zu entfalten, oder doch: wichtig ist das schon, man muss diese Dinge im Kopf haben, aber dann kann die Übersetzerin auch, anapästisch trainiert und reimfirm, den Schwung nutzen, um das Deutsche, mit allen Vorgaben im Gepäck, einer inspirierten Eigendynamik zu überlassen, die weder so sehr darauf bedacht ist, einen ähnlichen Effekt zu erzielen wie das Original (wer könnte darüber wachen?), noch auch einfach die Struktur abzubilden (obwohl der Äquivalenzgedanke durchaus Ausgangspunkt sein kann).

Um auf den Anfang zurück zu kommen: Jörn Albrecht würde mein Beispiel vermutlich eine „augmentative Bearbeitung“ nennen. Und wenn sicherlich hier auch eine „größere“ Entfernung zum Original (als zum Beispiel beim Zwetajewabeispiel) nicht zu leugnen ist, so ist doch gerade bei diesem Beispiel nicht sicher, ob diese transponierende Übersetzung, auch ohne offenbare Äquivalenz (oder nur einer sehr erweiterten), nicht eher dem Original – – – ja was, »gerecht« werden könnte? Wer würde wieder darüber richten? Geht es hier um Rechtsprechung?

Vielleicht doch eher nicht um die Festsetzung properer Gesund- oder Rechtschaffenheit, die Adäquatheit attestiert, sondern um ein eher jede steife Akribie Dahinraffendes, in fieberhafter Ansteckung: was sich in anderen Sprachräumen gebildet hat, wird ins Deutsche übertragen und formt in strömender Sprache Strukturen heraus, die etwas weitertragen, es vervielfachen, nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern auf Vielfältigkeiten hin, die im Schwange sind, die das Ausgangsgedicht multiplizieren. Dieser „erweiterte Äquivalenzbegriff“ zielte darauf, dass Lesarten des Originaltextes sich nicht vereindeutigend manifestierten, sondern auch Latentes wirksam werden ließen in einem zugleich streng komponierten und auf einander bezogenen Ganzen.

Hendrik Jackson

 

Vortrag vom 22. Mai 2019, gehalten am DFG-Forschungskolleg „Russischsprachige Lyrik in Transition“ an der Universität Trier